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Freitag, 28. November 2014

Ausgabe für Luxemburg Diese Beilage erscheint exklusiv im Die monatlichen Beilagen erscheinen in verschiedenen Sprachen in führenden internationalen Tageszeitungen: The Daily Telegraph, Le Figaro, The New York Times, La Repubblica and El Pais.

F Ü R D E N I N H A LT I S T AU S S C H L I E S S L I C H D I E R E DA K T I O N VO N R U S S I A B E YO N D T H E H E A D L I N E S ( R U S S L A N D) V E R A N T WO R T L I C H .

G-20-GIPFEL IN BRISBANE Russlands Präsident scheint in Australien isoliert. Dabei hadern auch die anderen BRICS-Staaten mit dem Westen, insbesondere in Sachen IWF-Reform.

Im Haus der Zaren: Eremitage feiert das Vierteljahrtausend

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KAMPFANSAGE AN STEUEROASEN Eine neue Gewinnsteuer soll russische Unternehmer dazu veranlassen, Kapital von Off-Shore-Konten wieder in der Heimat zu investieren. Experten fürchten zusätzliche Belastungen und Risiken für die Unternehmen. SEITE 3

DAS ZWEITE LEBEN DER NASTJA BELKOWSKAJA IN MOSKAU

AUS DEM PERSÖNLICHEN ARCHIV

Bei einem Autounfall verlor die Russin Nastja Belkowskaja beide Beine und ihr Gedächtnis. Jetzt macht sie Karriere als Sportlerin. SEITE 8

RUSSLAND UND DIE EU: EIN PLÄDOYER FÜR PRAGMATISMUS Politologe Fjodor Lukjanow ruft beide Seiten zu mehr realistischen Erwartungen in ihren Beziehungen auf. SEITE 6

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ALEKSANDR PETROSIAN

Die Eremitage in Sankt Petersburg feiert am 7. Dezember ihren 250. Geburtstag. RBTH blickt zurück auf umstrittene und gefeierte Ausstellungen und verrät, welche Pläne es für die Zukunft gibt. GEORGIJ MANAJEW, DMITRIJ ROMENDIK, ILJA KROL RBTH

Einst legte Katharina die Große den Grundstein für die Sammlung. Von einem Berliner Kaufmann erwarb sie im Jahr 1764 225 Gemälde holländischer, flämischer und italienischer Meister. Diese Sammlung ließ sie in einem eigens neben dem Winterpalast errichteten Gebäude unterbringen, das „Einsiedelei“ genannt wurde – auf Französisch

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„Eremitage“. Heute gehören dem Museum noch 96 Werke aus dieser Sammlung. Die Sankt Petersburger Eremitage ist eines der größten und bedeutendsten Kunstmuseen der Welt mit Filialen in London, Las Vegas, Amsterdam und Venedig. LESEN SIE WEITER AUF SEITE 4

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Freitag, 28. November 2014

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Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau

POLITIK

BRICS Führende Entwicklungsländer arbeiten weiter am gemeinsamen Währungsfonds

PRESSESCHAU Die Staats- und Regierungschefs der BRICS-Staaten posieren für ein gemeinsames Foto auf dem G20-Gipfel 2014 im australischen Brisbane. Von links nach rechts: Jacob Zuma, Präsident Südafrikas, Xi Jinping, Präsident Chinas, Dilma Rousseff, Präsidentin Brasiliens, Narendra Modi, indischer Premier und Wladimir Putin, Präsident der Russischen Föderation

© ALEKSEJ DRUJHININ / RIA NOVOSTI

BRICS-Staaten setzen auf eigene Themen Wladimir Putin wirkte isoliert beim G-20-Treffen – nicht jedoch von seinen Kollegen aus den BRICS-Staaten. Diese planen eine Alternative zum Internationalen Währungsfonds. ANDREJ ILJASCHENKO, JURI PANIEW FÜR RBTH

Auf dem G-20-Gipfel im australischen Brisbane herrschte Eiszeit zwischen dem Westen und Russlands Präsidenten Wladimir Putin. Australien schickte lediglich rangniedere Beamte, um Putin zu empfangen. Obwohl das G-20-Treffen in erster Linie ein Forum zu Wirtschaftsfragen ist, stand das diesjährige Treffen in Brisbane von Beginn an im Zeichen des Konflikts in der Ukraine. Gastgeber Tony Abbott machte sich im Vorfeld dafür stark, Russland gar nicht erst einzuladen. Mit diesem Vorschlag jedoch konnte er sich nicht durchsetzen. Einige Staaten, etwa China, lehnten diese Idee kategorisch ab, andere, beispielsweise Deutschland, sahen in der russischen Teilnahme eine weitere Chance für neue Verhandlungen zum Thema Ukraine-Krise.

Keine Lösung für die Ukraine US-Präsident Barack Obama hingegen nannte Russland in einem Atemzug mit Ebola und dem Islamischen Staat und diskutierte mit europäischen Staats- und Regierungschefs fast ausschließlich die Ukraine-Krise. Sollte der Kreml seine Position im UkraineKonflikt nicht verändern, werde sich „die Isolation, in der Russland sich heute befindet, fortsetzen“, so der Präsident. Wladimir Putin bestätigte, dass bei bilateralen Treffen die UkraineKrise im Mittelpunkt gestanden habe. „Die Gespräche waren sehr offen, gehaltvoll und nach meiner Einschätzung fruchtbar“, erklärte er. Von zentralem Stellenwert war ein vierstündiges Gespräch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel. Der deutsche Wirtschaftsminister und Vizekanzler Sigmar Gabriel betonte anschließend, dass die Bundesrepublik weiter auf Diplomatie setze und Russland nicht isolieren wolle. „Es ist richtig, dass Angela Merkel und Außenminister FrankWalter Steinmeier den Dialog suchen, nicht die Konfrontation wie andere. Ich halte das ständige Säbelrasseln der Nato in der Nähe der russischen Grenze für eine absolut falsche Antwort

Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier suchen den Dialog, nicht die Konfrontation wie andere. Das ständige Säbelrasseln der NATO an der russischen Grenze ist die falsche Antwort.»

auf das gegenwärtige Geschehen“, so Gabriel. Freundlicher wurde Wladimir Putin dagegen von den Staats- und Regierungschefs der BRICS-Staaten, Brasilien, Indien, China und Südafrika, begrüßt. Die brächten dem russischen Präsidenten durchaus Verständnis entgegen und bezeichneten die vom Westen verhängten Sanktionen als rechtswidrig, sagte der außenpolitische Berater des russischen Präsidenten, Juri Uschakow. Im Schatten der Ukraine-Krise schien das eigentliche Thema des Gipfels in Brisbane fast vergessen. Vor allem sollten eine Reform des Internationalen Währungsfonds (IWF) und eine Entwicklung gemeinsamer Finanzinstitute diskutiert werden. In einer gemeinsamen Presseerklärung drückten die BRICS-Staaten ihr Bedauern aus, dass der IWF keine Reformen eingeleitet habe. Sie kündigten an, weitere Schritte zu diskutieren, wenn die USA den Beschluss über eine Quotenumverteilung nicht bis Ende 2014 ratifizieren würden.

G20 sind gespalten Unausgesprochene Konflikte zwischen den BRICS-Staaten und dem IWF gibt es schon lange. Auf dem G-20-Gipfel in Sankt Petersburg im September 2013 äußerten die Staatschefs der BRICS-Länder die Hoffnung, dass der IWF die 15. Quotenumverteilung bis Januar 2014 vornähme. Diese Revision sieht eine Erhöhung des BRICSAnteils am Kapital des IWF vor. China belegt derzeit Platz drei hinter den USA und Japan, Indien den achten und Brasilien den zehnten Platz. Bei einer Quotenumverteilung würde der Anteil der USA sinken, daher hat der Kongress bis heute den Beschluss um die Quotenrevision nicht ratifi ziert. Die Staats- und Regierungschefs der BRICS-Länder kritisieren, die Verzögerung der IWF-Reform widerspreche den 2009 verabschiedeten gemeinsamen Verpflichtungen der G20. „Das BRICS-Treffen in Brisbane machte erneut deutlich, dass es unter dem Dach der G20 auf der einen Seite eine ‚Siebener-Gruppe‘ gibt, die den Westen repräsentiert, auf der anderen eine ‚Fünfer-Gruppe‘, die BRICS-Staaten. Die gesamte Arbeit der G20 verläuft im Rahmen einer Diskussion zwischen diesen beiden Gruppen, insbesondere, was die Reform der internationalen

Finanzarchitektur betrifft“, erklärt Wladimir Dawydow, BRICS-Experte und Direktor des LateinamerikaInstituts der Russischen Akademie der Wissenschaften. „Die USA stemmen sich gegen den Beschluss über neue IWF-Quoten und handeln im Geist einer monopolaren Welt, denn das bringt ihnen keine Dividenden“, kritisiert Dawydow. Die Staats- und Regierungschefs der BRICS-Länder erklärten in Brisbane, die beim fünften BRICS-Gipfel im Juli unterzeichneten Vereinbarungen zur Gründung einer Entwicklungsbank und eines Währungsreservefonds habe die „Zusammenarbeit der BRICSLänder auf ein grundsätzlich neues Niveau gehoben“. In Brisbane gaben sie die Gründung eines kommissarischen Vorstands der „Neuen Entwicklungsbank“ bekannt. Deren Vorsitzender wird sein Amt bis zum nächsten Gipfel bekleiden, der unter russischer Schirmherrschaft vom 8. bis zum 9. Juli 2015 in Ufa abgehalten wird. Putin erklärte, Russland werde zum Gipfel „Strategieprojekte für eine Wirtschaftspartnerschaft und eine Roadmap für die Investitionszusammenarbeit“ vorbereiten. „Das Kapital für die Entwicklungsbank und den Währungsreservefonds kann sich sehen lassen, es sind 200 Milliarden US-Dollar“, sagt Dawydow. Das schaffe neue Möglichkeiten einer gemeinsamen Bereitstellung von Krediten, die Handels- und Investitionsbeziehungen der „Fünfer-Gruppe“ könnten erweitert werden. „Deshalb werden Russland und die übrigen BRICS-Staaten die Umsetzung dieser Projekte zügig vorantreiben“, ist Dawydow überzeugt.

Ein Währungsfonds für BRICS-Staaten Brasilien, China, Indien, Russland und Südafrika haben bei ihrem Gipfel im brasilianischen Fortaleza im Sommer diesen Jahres den Aufbau einer Organisation beschlossen, die als Alternative zum Internationalen Währungsfonds fungieren soll. Führende Länder haben seit Längerem kritisiert, zu wenig Einfluss beim IWF zu haben. Insgesamt sollen in den neuen Fonds 100 Milliarden Dollar eingezahlt werden. China stellt mehr als 41 Milliarden Dollar bereit, Brasilien, Russland und Indien jeweils 18 und Südafrika fünf Milliarden Dollar. Sollte eines der Länder in Zahlungsschwierigkeiten geraten, kann es Hilfe beim Reservefonds beantragen, änhnlich wie beim IWF. Sitz der neuen Organisation ist die chinesische Metropole Shanghai. Zusätzlich ist die Gründung einer Entwicklungsbank für BRICS-Staaten geplant.

G20-GIPFEL: DIE GRÄBEN WERDEN TIEFER Russlands Presse bemerkt einen verschärften Ton zwischen Russland und dem Westen. Auch Deutschland wende sich nun ab, während Frankreich zwischen wirtschaftlichen und politischen Interessen schwanke.

FREMDER UNTER FREMDEN PJOTR KOZLOV

WEDOMOSTI / 07.11 Die Zeitung Wedomosti schreibt, dass der Graben zwischen Russland und dem Westen noch tiefer geworden sei. Die Ukraine-Krise sei das Hauptthema des Gipfels im australischen Brisbane gewesen, obwohl es gar nicht auf der offiziellen Agenda gestanden habe. Wichtigste Begegnung bei dem Treffen der G20 war laut Wedomosti die zwischen der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und Wladimir Putin. Unter Berufung auf die Aussagen eines Mitglieds der deutschen Delegation berichtet Wedomosti, dass Merkel unzufrieden mit den Ergebnissen der Gespräche gewesen sei und auf „Russland als strategischen Partner verzichten wird“.

FRANKREICH LEGT MISTRALLIEFERUNG AUF EIS ALEXEJ TARCHANOW

KOMMERSANT / 17.11 Frankreich habe vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise noch keinen klaren Standpunkt zu der Lieferung von zwei Mistral-Hubschrauberträgern ausgearbeitet, heißt es im Kommersant. Die französische Regierung versuche offenbar, die Entscheidung hinauszuzögern, darauf hoffend, dass in der Ukraine wieder Friede einkehrt. Eine Auslieferung der Mistral-Hubschrauberträger wäre ein Triumph für Russland. Während das entgangene Geschäft ein Schlag für die französische Wirtschaft wäre.

WARUM PUTIN DAS G-20-TREFFEN VORZEITIG VERLASSEN HAT DARJA ZILJURIK

NESAWISSIMAJA GASETA / 17.11 Nesawissimaja Gaseta geht davon aus, dass Wladimir Putin das G-20-Treffen verfrüht verließ, weil die Kritik an seiner Politik in der Ukraine-Krise die Gespräche beherrschte. Die westlichen Staats- und Regierungschefs hätten Russland wegen der Unterstützung der Aufständischen im Südosten der Ukraine wiederholt scharf kritisiert. Die Zeitung zitiert US-Präsident Barack Obama, der die bisher gegen Russland verhängten Sanktionen „sehr effektiv“ nannte und daher keine weiteren geplant habe. Die EU hingegen wolle die Sanktionen verschärfen. Dafür habe sich vor allem der britische Premier Cameron stark gemacht. Laut Igor Bunin, Leiter des Zentrums für politische Technologien, sei es Putin durchaus bewusst gewesen, dass er sich bei dem Treffen in einen „Tigerkäfig“ begibt. Die BRICS-Staaten hätten sich gegenüber Russland „mehr oder weniger freundlich gezeigt“. Die übrigen Länder hätten jedoch alles getan, „um Russland westliche Spielregeln aufzuzwingen“. Zusammengestellt von

DARJA LJUBINSKAJA

SONDERBEILAGEN UND SONDERRUBRIKEN ÜBER RUSSLAND WERDEN VON RBTH, EINEM UNTERNEHMEN DER ROSSIJSKAJA GASETA (RUSSLAND), PRODUZIERT UND IN DEN FOLGENDEN ZEITUNGEN VERÖFFENTLICHT: THE DAILY TELEGRAPH, GROSSBRITANNIEN • THE NEW YORK TIMES, THE WALL STREET JOURNAL, THE INTERNATIONAL NEW YORK TIMES, THE WASHINGTON POST, USA • HANDELSBLATT, DEUTSCHLAND • TAGEBLATT, LUXEMBURG • LE FIGARO, FRANKREICH • EL PAÍS, SPAINIEN • LA REPUBBLICA, ITALIEN • LE SOIR, BELGIEN • GEOPOLITICA, SERBIEN • ELEFTHEROS TYPOS, GRIECHENLAND • THE ECONOMIC TIMES, INDIEN • MAINICHI SHIMBUN, JAPAN • HUANQIU SHIBAO, CHINA • THE NATION, PHUKET GAZETT, THAILAND • LA NACION, ARGENTINIEN • FOLHA DE SÃO PAULO, BRAZILIEN • EL OBSERVADOR, URUGUAY • JOONGANG ILBO, SÜDKOREA • THE SYDNEY MORNING HERALD, THE AGE, AUSTRALIEN • GULF NEWS, AL KHALEEJ, VAE.


Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau

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WIRTSCHAFT

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NEUE GEWINNSTEUER soll Off-Shore-Kapital wieder nach Russland zurückfließen lassen

Kampfansage an Steueroasen Russland will mit neuen Steuern Geld aus Steueroasen zurückholen und Investitionen im Inland ankurbeln. Experten sind skeptisch und fürchten steigende Risiken für Unternehmen. ALEXEJ LOSSAN

Russlands Präsident Wladimir Putin hat am 25. November ein zuvor von der Staatsduma, der unteren Parlamentskammer, abgesegneten Gesetzesentwurf über die „Deoffshoreisierung“ der Wirtschaft unterzeichnet. Das neue Gesetz soll bereits am 1. Januar 2015 in Kraft treten. Entsprechend dieser Vorlage werden russische Aktionäre Steuern auf nicht ausgeschüttete Gewinne ihrer ausländischen Tochterunternehmen, vor allem jener, die sich in Steueroasen oder in sonstiger ausländischer Jurisdiktion befinden, entrichten müssen. „Die Hauptaufgabe der durch die Regierung veranlassten Maßnahmen ist die Verringerung des Anteils der Schattenwirtschaft in Russland und die Rückführung des in der Vergangenheit außer Landes verlagerten Kapitals. In Anbetracht der niedrigen Arbeitslosenrate und der praktisch vollständig ausgelasteten Produktionskapazitäten wird dieses Vorgehen als einer der Hauptwachstumsfaktoren für die nächsten Jahre betrachtet“, sagt Anton Soroko, Analyst der Investmentholding FINAM. Ihm zufolge könnte das zurückgeholte Kapital in die russische Realwirtschaft fließen und so für neue Arbeitsplätze und ein stabileres Wirtschaftswachstum sorgen.

Erste Auswirkungen Dabei berücksichtigte der Gesetzgeber die von der Regierung in das Dokument eingebrachten Änderungen und stimmte diese mit den russischen Großunternehmen ab. In der ursprünglichen Fassung sah der Gesetzesentwurf vor, dass die Kapitaleigentümer eine Gewinnsteuer für ihre ausländischen Tochterunternehmen zu entrichten haben, wenn sie an diesen zu über fünfzig Prozent beteiligt sind. Es war vorgesehen, dass dieser Wert im Laufe der nächsten beiden Jahre gelten soll und anschließend auf 25 Prozent gesenkt wird. Allerdings passten die Ab-

SHUTTERSTOCK/LEGION-MEDIA

RBTH

Eine Registrierung in ausländischen Rechtsräumen dient dazu, das eigene Kapital zu schützen.

grund der steigenden Unterhaltskosten für ihre ausländischen Beteiligungen aus diesen aussteigen und nach Russland zurückkehren, aber man könne nicht ausschließen, dass ein Teil der Geschäftswelt in die Schattenwirtschaft abtauche. Andere Experten befürchten negative Auswirkungen für die Unternehmen. „Einerseits wird sich der Anreiz dieser ‚Steueroptimierungsvarianten‘ drastisch verringern, andererseits jedoch wird sich auch das Investitionsklima durch das steigende Geschäftsführungsrisiko in Russland verschlechtern. In jedem Fall erwarte ich, dass das Gesetz nach seiner Verabschiedung noch deutlich überarbeitet wird“, meint Investcafé-Analyst Timur Nigmatullin.

geordneten den Gesetzesentwurf in der zweiten Lesung an und verkürzten die Übergangszeit auf lediglich ein Jahr. „Dieses Gesetz droht, die Unternehmensausgaben für das Corporate Compliance der Kapitaleigentümer in die Höhe zu treiben. Aber es wird auch vor der Mittelschicht nicht halt machen, weil viele wohlhabende Russen ebenfalls häufig Geld über Off-ShoreUnternehmen im Ausland anglegen“, sagt Natalja Kusnezowa, Partner bei PwC und Leiterin der Gruppe Internationale Steuerstrukturierung. Zu den bevorzugten ausländischen Anlageorten russischer Investitionen zählten im dritten Quartal 2014 die „großen Drei“ Zypern (mit 2,9 Milliarden US-Dollar), Luxemburg (mit 1,9 Milliarden US-Dollar) und die Britischen Jungferninseln (mit 1,05 Milliarden US-Dollar). Nach den Worten Natalja Kusnezowas werde ein Teil des Kapitals nach Russland zurückfließen, viele Geschäftsleute und Unternehmen werden auf-

Ein neues Gesetz soll die Kapitalflucht weniger lukrativ machen und Geld für Investitionen nach Russland zurückholen.

Wesentliche Komplikationen Der russische Industriellen- und Unternehmerverband hat Valentina Matwijenko, Vorsitzende des Föderationsrats der oberen Kammer des russischen Parlaments, in einem Brief bereits seine

kritischen Bemerkungen zu dem Gesetzesentwurf zukommen lassen. In diesem Schreiben heißt es, dass das Gesetz in der aktuellen Fassung „technisch nicht umsetzbar“ sei. „Das Gesetz ist sehr kompliziert und erfordert große Investitionen seitens des Staates, um die korrekte verwaltungstechnische Umsetzung durch die Steuerbehörden zu gewährleisten. Dabei wird das Gesetz, das als eine Maßnahme zur Rückführung des Kapitals gedacht ist, wohl eher als Peitsche, denn als Zuckerbrot dienen“, sagt Natalja Kusnezowa. Man solle nicht nur über repressive Maßnahmen nachdenken, wenn man das ins Ausland abgeflossene Kapital zurückholen möchte. „Eine Registrierung in ausländischen Rechtsräumen dient vor allem dazu, das eigene Kapital zu schützen aufgrund der Möglichkeit, sich an die dortigen Gerichte zu wenden. In dieser Richtung sollte auch unser Staat tätig werden und Maßnahmen initiieren, um die Rückführung des Kapitals zu stimulieren“, fügt sie hinzu. Auch Emil Martirosjans, Dozent am Institut für Betriebswirtschaftslehre bei der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und öffentlichen Dienst, sieht objektive Gründe für die Steuerflucht der Unternehmen. „Erstens funktioniert in Russland das Gesetz zum Schutz des geistigen Eigentums kaum, was dazu führt, dass die Unternehmer Patente, Marken usw. ins Ausland verlagern. Zweitens zahlen Unternehmen zwar Steuern an den Staat, haben aber keinen Einfluss darauf, wie diese Mittel ausgegeben werden. In den USA existiert zum Beispiel die Praxis des tax statement, einer Art Rechenschaftsbericht des Staates gegenüber den Steuerzahlern. In Russland dagegen ist so etwas bisher noch nicht eingeführt“, fügt Martirosjan hinzu. Anton Soroko ist überzeugt, dass das neue Gesetz in erster Linie dazu führe, das Leben derer, die es vorziehen, ihr Kapital nicht in Russland anzulegen, noch mehr zu erschweren. „Die begonnene Offensive zur Deoffshoreisierung der Wirtschaft ist groß angelegt und wird wahrscheinlich noch so lange andauern, bis die Regierung reale Veränderungen in den Eigentumsstrukturen erkennt“, glaubt er.

ENERGIE Über das billige Öl freuen sich die Verbraucher – die erdölfördernden Länder denken indes über Gegenmaßnahmen nach

In Russland wird über eine Reduzierung der Ölfördermenge diskutiert. Das ist nicht ohne Risiko, die übermächtige Opec könnte die russischen Marktanteile übernehmen. ANNA KUTSCHMA RBTH

Seit Mitte des Jahres ist der Ölpreis gefallen – von anfangs 110 US-Dollar auf unter 80 US-Dollar pro Barrel. Das ist der niedrigste Stand seit 2010. Für die russische Wirtschaft könnte das einen Verlust von bis zu 100 Milliarden US-Dollar bedeuten, wie Finanzminister Anton Siluanow kürzlich erklärte. In der Regierung diskutiert man derzeit über Möglichkeiten, den Ölpreis zu stützen. Als eine Maßnahme brachte Energieminister Alexander Nowak eine Drosselung der Fördermengen ins Spiel. „Diese Entscheidung muss sorgfältig geprüft werden, denn unser Haushalt hängt in hohem Maße von den Einnahmen aus dem Ölgeschäft ab“, sagte Nowak und wies darauf hin, dass Russland technisch nicht so gut ausgerüstet sei wie zum Beispiel Saudi-Arabien, um die Fördermengen flexibel anzupassen.

Zahlen

100 Milliarden US-Dollar könnte Russland jährlich wegen des niedrigen Ölpreises von 80 US-Dollar pro Barrel verlieren.

Russland ist mit einer Fördermenge von 10,8 Millionen Barrel einer der größten Ölproduzenten der Welt. Nur Saudi-Arabien fördert mehr, auf Platz drei liegen inzwischen die USA. Während Russland unabhängig agiert, gehört Saudi-Arabien mit elf weiteren Staaten zur Opec, auf die 43 Prozent entfallen und die die Preisbildung auf dem Ölmarkt durch eine Festlegung der Förderquoten kontrolliert. Im Gegensatz zu Russland, wo die technischen Möglichkeiten eine Steigerung der Fördermengen nicht zuließen, könne Saudi-Arabien bis zu drei Millionen Barrel pro Tag mehr förden, sagt Nikolai Issain vom Institut für Energetische Strategien. Umgekehrt hält Issain Pläne, die russischen Fördermengen zu reduzieren, für kaum realisierbar: „Im Alleingang hat Russland keine Chance“, konstatiert er. Um Einfluss auf die Ölpreisentwicklung zu nehmen, müsste Russland die tägliche Fördermenge um ein Drittel senken. Theoretisch könnte daraus eine Ölpreissteigerung von etwa 15 bis 25 US-Dollar pro Barrel resultieren, glaubt Valeri Polchowski vom Forex Club. Dann könnte Russland die im Haushaltsplan für das Jahr 2015

SHUTTERSTOCK/LEGION-MEDIA

Russlands Haushalt leidet unter dem niedrigen Ölpreis

festgelegte Marke von 100 US-Dollar erreichen. Allerdings droht Russland bei einer Reduzierung der Fördermengen seine angestammten Absatzmärkte zu verlieren. „Einen Rückzug Russlands vom Markt werden der Iran, Saudi-Arabien und andere Ölproduzenten mit Begeisterung aufnehmen. Erstens steigen die Preise, und zweitens können sie ihren Export ausweiten“, sagt Polchowski. Außerdem bestünde die Gefahr, dass Russland sein Image als zuverlässiger Lieferant verlöre. Die Zeitung Wsgljad hat dazu Experten befragt, die empfehlen, dass Russland sich mit anderen ölproduzierenden Staaten zusammenschließt. Der einfachste Weg wäre ein strategischer Verbund der GUS-Staaten. Diese halten allerdings nur einen Anteil von

Russland denkt über Maßnahmen nach, den Ölpreis zu stützen. Eine davon könnte eine Drosselung der Produktion sein. Doch auch hier sind Russlands technische Möglichkeiten der Anpassung begrenzt.

25 Prozent am russischen Fördervolumen. Denkbar wären auch eine verstärkte Zusammenarbeit mit der Opec oder gar ein Beitritt. Saudi-Arabien hat sich noch nicht eindeutig positioniert, was die Drosselung der Fördermengen betrifft. „Nach inoffiziellen Meldungen führen Russland und Saudi-Arabien derzeit separate Verhandlungen über gemeinsame Maßnahmen zur Erhöhung der Ölpreise“, berichtet Alexei Kokin, Analyst beim Finanzunternehmen Uralsib. Russlands Außenminister Sergei Lawrow betonte nach einem Gespräch mit seinem saudischen Amtskollegen Saud al-Faisal, dass beide Länder grundsätzlich der Meinung seien, die Preisbildung solle am Markt erfolgen. „Der Markt darf nicht als Arena für politische Spiele missbraucht werden.“


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Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau

KULTUR

EINSIEDELEI DER KÜNSTE LAUT EINES RANKINGS DES TOURISMUSPORTALS TRIPADVISOR IST DIE EREMITAGE, DIE IM DEZEMBER IHR 250. JUBILÄUM FEIERT, DAS BESTE MUSEUM EUROPAS UND DAS DRITTBESTE DER WELT

MUSEUM NUMMER EINS GETTY IMAGES/FOTOBANK

ist bisher nur vereinzelt gezeigt worden. Die erste Kunstausstellung im Generalstabsgebäude wurde 2012 eröffnet.

FORTSETZUNG DER ERSTEN SEITE

Kontroverse Ausstellungen

Zitat

«

Der Erfolg eines Museums sollte nicht nach buchhalterischen Maßstäben bestimmt werden.»

MICHAIL PIOTROWSKI, DIREKTOR DER EREMITAGE

4 FAKTEN ZUR EREMITAGE

In diesem Jahr sorgte die Installation „End of Fun“ (zu Deutsch: „Schluss mit lustig“) der beiden britischen Künstler Jake und Dinos Chapman für einen Skandal. Die Chapmans hatten Hunderte kleine Figuren, die unter anderem Nazi-Uniformen trugen, in zum Teil religiösen Zusammenhängen aufgebaut. Besonders die Darstellung gekreuzigter Teddybären und eines gekreuzigten Ronald McDonald, dem Maskottchen der Fast-Food-Kette McDonald’s, erregten Anstoß. Es beschwerten sich zahlreiche, angeblich vor allem christlich-orthodoxe Besucher. Die russischen Behörden ermittelten daraufhin wegen Extremismus, allerdings ohne Erfolg. Das Salzlabyrinth des japanischen Künstlers Motoi Yamamoto, das im vergangenen Jahr im Rahmen der Ausstellung „Moderne Kunst Japans“ im Generalstabsgebäude gezeigt wurde, kam hingegen gut beim Publikum an. In diesem Jahr war die am 31. Oktober zu Ende gegangene „Manifesta“, eine Biennale zeitgenössischer Kunst, zu Gast in Sankt Petersburg. Michail Piotrowski, Direktor der Eremitage, freute sich, das hochkarätige Kunstereignis ausrichtet zu haben: „Nie zuvor

Einst ein kleiner Nebenbau füllt die Eremitage heute den gesamten Winterpalast am Ufer der Newa. Der Palast diente früher dem Zaren als Residenz.

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Der prachtvolle Winterpalast am Ufer der Newa diente ab Mitte des 18. Jahrhunderts bis ins 20. Jahrhundert als offizielle Residenz der russischen Monarchen.

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Heute beherbergt er die Staatliche Eremitage, gemessen an ihren Ausstellungsstücken das größte Museum der Welt. Es zählt mehr als drei Millionen Exponate.

CORBIS/ALLOVERPRESS

In diesem Jahr wählten die Besucher der Touristikwebseite TripAdvisor die Eremitage zur schönsten Sehenswürdigkeit Europas. Damit konnte sie sich gegen die Galleria dell’Accademia in Florenz und das Pariser Musée d’Orsay durchsetzen. Die Kunsthistorikerin Natalia Semyonowa weist darauf hin, dass kein anderes russisches Museum auch solche Exponate der Öffentlichkeit zugänglich mache, die nicht im Rahmen der Dauerausstellung gezeigt werden: Das Museumsmagazin im Stadtbezirk „Altes Dorf“ kann in Führungen besichtigt werden, es gibt dort Kunsthallen und Hörsäle. John Varoli ist ein US-amerikanischer Journalist und Experte für russische Kultur, der 13 Jahre lang in Russland gelebt hat. Die Eremitage verfüge „zweifelsohne über eine der besten Sammlungen der Welt“, was sie aber so besonders mache, sei ihre Lage. „Der Louvre zum Beispiel besitzt eine noch interessantere Sammlung, doch ist sie in einem unattraktiven Gebäude untergebracht, es wirkt grobschlächtig“, sagt Varoli. Die Eremitage im Winterpalast hingegen sei bereits für sich genommen beeindruckend. Das ziehe die ausländischen Gäste fast noch mehr an als die Sammlung selbst. Zum Museum Eremitage gehören seit einigen Jahren auch Teile des Generalstabsgebäudes gegenüber dem Winterpalast. Es wurde 1829 fertiggestellt und war lange vom Militär genutzt worden. Die schweren Stiefel der Offiziere, die in dem 600 Meter langen, halbrunden Bau ein- und ausgingen, haben im Parkett ihre Spuren hinterlassen. Ein Flügel des Generalstabsgebäudes wird heute von der Eremitage als Ausstellungsfläche für moderne Kunst genutzt, ein Novum, denn das Museum ist für eine eher konservative Ausrichtung seiner Ausstellungen bekannt – zeitgenössische Kunst

hat es eine so bedeutende Kunstausstellung in Sankt Petersburg gegeben, die zudem erstmals außerhalb der Grenzen der Europäischen Union gezeigt wird.“ Einige Exponate wurden eigens anlässlich der Ausstellung von bekannten europäischen Künstlern geschaffen. Ihr 250. Jubiläum wird die Eremitage an ihrem traditionellen Gründungstag begehen, dem 7. Dezember. Geplant sei ein Tag der offenen Tür, verrät Piotrowski schon einmal. „An diesem Tag werden alle Gebäude der In einem Ranking des Tourismusportals TripAdvisor wurde das Staatliche Eremitage-Museum zum besten Museum Europas für das Jahr 2014 gekürt.

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Die Bezeichnung „Eremitage“ hat das Museum aus seiner Anfangszeit, als es nur wenigen Außerwählten zugänglich war. Seit 1851 steht es allen Besuchern offen.

Eremitage geöffnet sein, auch das Generalstabsgebäude, das Museumsmagazin im historischen Stadtbezirk ‚Altes Dorf‘, die Kleine Eremitage und die Mengden-Villa neben dem Eremitage-Theater.“ Und danach? Zukunftspläne gebe es viele, sagt der Museumsdirektor. In nächster Zeit sind große und kleinere Ausstellungen geplant, unter anderem „Archäologie in der Eremitage“, „Neuerwerbungen“, „Restauration“, eine Vitrinen-Ausstellung und eine über die Geschichte des musealen Designs. Piotrowski will das einzigartige kulturelle Erbe der Eremitage noch mehr Menschen zugänglich machen. Profit stehe dabei für ihn nicht im Vordergrund. Ein Museum ist seiner Meinung nach eine demokratische Kulturinstitution, in der jeder Mensch einen Platz hat und etwas von Interesse finden kann. Museen sollten für die breite Masse zugänglich sein, meint er. „Und der Erfolg eines Museums sollte nicht nach buchhalterischen Maßstäben bestimmt werden.“

Zahlen

3 106 071 Ausstellungsstücke sind offiziell in der Eremitage registriert und befinden sich in Museumsbesitz.

66 842 Quadratmeter groß sind die Ausstellungsräume. Das entspricht zehn Fußballfeldern.


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KULTUR MUSEEN Sechs Ausstellungen, die aus dem Rahmen fallen

Siegmund Freud und Babuschka Lida Die Sankt Petersburger Eremitage und die Moskauer Tretjakowgalerie sind fast jedem ein Begriff. Wer jedoch auf der Suche nach skurrilen Erlebnissen ist, wird bei den folgenden Museen sicher fündig.

6. Historisches Museum der Trauerkultur, Nowosibirsk Die Exponate des Museums für weltweite Trauerkultur umfassen Leichenwagen, Gedenkschmuck und -steine, Fotos des Genres „post mortem“, eine Sammlung von Trauermode des viktorianischen Zeitalters und Totenmasken. Ausgestellt sind auch Särge aller Schattierungen. Einer von ihnen hat die Form eines Fisches. Er ist das Werk des nach Nowosibirsk gereisten afrikanischen Sargtischlers Eric Adjetej, der sich auf die Herstellung ausgefallener Särge spezialisiert hat.

OLGA TSCHEREDNITSCHENKO FÜR RBTH

1. Museum der Träume von Sigmund Freud, Sankt Petersburg Sigmund Freud zeigte, dass Träume keine zusammenhanglosen Gespinste des ruhenden Gehirns sind, sondern einen „Königsweg zum Unbewussten“ darstellen, der dem Menschen unendliche Schätze an Informationen über die Welt und ihn selbst eröffnet. In einem Petersburger Bürgerhaus aus dem 19. Jahrhundert ist das Institut für Psychoanalyse und eines der wenigen dem Begründer der revolutionären Theorie gewidmeten Museen untergebracht. Der gesamte Raum des Museums ist eine Installation. Die vielen Spiegel und Schatten lassen bei den Besuchern Wachtraumeffekte entstehen.

JURI MOLODKOWETS

KULTUR Museumswächter auf Mäusefang

Von Kunstschätzen und Hofkatzen An den Feierlichkeiten zum 250. Jahrestag der Sankt Petersburger Eremitage nehmen auch Gäste der ganz besonderen Art teil – Katzen. Sie haben eine Menge Heldentaten hinter ich. JOY NEUMEYER FÜR RBTH

Verborgen vor dem alltäglichen Besucherstrom erstreckt sich in den Kellern des barocken Prachtbaus eine riesige Unterwelt an Heizungskanälen und Lagerräumen. Hier hängen keine Werke von Rembrandt und Caravaggio an den Wänden, sondern Katzenfotos. Die Katzen sind eng mit der Geschichte der Eremitage verbunden, welche sie über die Jahrhunderte hinweg bewacht haben.

Über Mäuse und Meisterwerke Katharina die Große hatte den Palast in eines der weltweit größten Kunsthäuser verwandelt. „Schon sehr früh begriff sie, dass Kunst bei den Herrschern Europas ein Statussymbol war“, sagt Geraldine Norman, Autorin des Buches „The Hermitage: Biography of a Great Museum“ und Beraterin der Museumsleitung. Im Jahr 1771 brachte sie das erste Gemälde Raphaels von einer Reise mit nach Russland. Acht Jahre später kaufte sie eine zweihundert Kunstwerke umfassende Sammlung des britischen Premierministers Robert Walpole. Diese enthielt unter anderem Arbeiten von Rubens und Velazquez. Während ihrer Regentschaft erwarb Katharina insgesamt 4000 Gemälde alter Meister und eine beeindruckende Sammlung von 10 000 gravierten Edelsteinen. Von Anfang an waren Katzen Dauergäste in der Eremitage. Schon im Jahr 1747 erließ Katharina II. den Befehl, „jagdwillige Hauskatzen“ in ihrer Residenz anzusiedeln. Daraufhin wurde eine Kutsche voller Katzen der Rasse Russisch Blau nach Sankt Petersburg gebracht. Die Zarin führte die Unterscheidung zwischen Hauskatze und Hofkatze ein. Letztere durften sich in den Ausstellungssälen der Ermitage zwecks Mäusefang frei bewegen. Sie wurden tierische Museumswächter. Die Bolschewiki verstaatlichten die Eremitage. Das war der Beginn einer traumatischen Ära für das Museum, die drei Jahrzehnte währen sollte. Bereits in den 1930er-Jahren begann Stalin, Kunstwerke aus dem Museumsbestand zu veräußern. Die Mittel flossen in die sowjetische Industrialisierung. Die von dem amerikanischen Unternehmer An-

Katharina II. befahl, „jagdwillige Hauskatzen“ in ihrer Residenz anzusiedeln. Daraufhin wurde eine Kutsche voller Katzen zum Zarensitz gebracht.

drew Mellon erworbenen Werke alter Meister legten beispielsweise den Grundstein der National Gallery of Art in Washington. Ihre dunkelsten Tage erlebte die Eremitage im Zweiten Weltkrieg. Während der 872-tägigen Belagerung des damaligen Leningrads kamen 1,5 Millionen Menschen ums Leben. Die Kunstsammlung wurde in den Ural evakuiert. Die Bevölkerung litt so großen Hunger, dass sie auch vor den Katzen der Eremitage nicht haltmachte. Am Ende des Krieges war kein einziges Tier mehr am Leben, doch kurz danach wurden neue Katzen im Palast angesiedelt. Der Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 stellte die Eremitage vor eine finanzielle Katastrophe. In der Dokumentation „Hermitage Revealed“ (zu Deutsch: Eremitage neu entdeckt) erinnert sich Museumsdirektor Michail Piotrowski, dass nicht einmal für die Reparatur des Dachs genug Geld vorhanden war. Maria Haltunen, Assistentin der Museumsleitung, arbeitet seit 1995 in der Eremitage. An einem ihrer ersten Arbeitstage ging sie in den Keller, um etwas zu holen. Dort bot sich ihr ein schockierender Anblick: Dutzende Katzen – zumeist in miserabler Verfassung, hungrig und vernachlässigt. Haltunen und eine Kollegin brachten von nun an regelmäßig Brei aus der Cafeteria in den Keller, um die Tiere zu füttern. Sie starteten die Kampagne „Ein Rubel für eine Katze“, um Geld für Futter und eine medizinische Versorgung zu sammeln. Schließlich bekamen sie auch die Unterstützung von Museumsdirektor Piotrowski, der ihnen einen bestimmten Bereich des Kellers für die Pflege und Haltung der Katzen zuwies.

2. Museum der Samoware aus Tula Der Samowar ist ein Symbol der russischen Identität – und wird heute durch den Wasserkocher ersetzt. Die besten Samoware wurden traditionell in Tula hergestellt. Das Museum befindet sich in einem historischen, nach Zar Alexander II. benannten Gebäude. Hier sind Samoware in allen Größen ausgestellt, von einem gigantischen 70-Liter-Modell bis zu einem winzigen für drei Tröpfchen Wasser. 3. Museum der Volksmythen und des Aberglaubens, Uglitsch In diesem Museum kann man sich auf eine Reise in die Welt der russischen Volksbräuche und Feste begeben und sehr viel Interessantes über alte russische Götter, mythische Vorstellungen und slawische spirituelle Praktiken erfahren. Es werden Vorträge über die Interpretation von Märchen und Sagen gehalten, Amulette und Talismane gezeigt, man lernt Rituale und Verfahren der Heilung und viele verbreitete und seltene Methoden der Wahrsagerei kennen. Wachsfiguren und „Butzemänner“ wurden anhand von Legenden, Büchern, Handschriften und Sagen hergestellt, die man auf ethnografischen Forschungsreisen entdeckt hatte. 4. Privatmuseum Babuschka Lida, Strojewskoje, Gebiet Archangelsk Babuschka Lida aus dem Dorf Strojewskoje besitzt in ihrem Haus eine Sammlung traditioneller Alltagsgegenstände, Werkzeuge und bäuerlicher Kleidung. Sie selbst bietet Führungen und auch Workshops an. Man kann bei ihr lernen, Getreide mit Mahlsteinen zu mahlen oder süßen Brei zu kochen. Die Gäste legen sich alte Trachten an und trinken Tee aus dem Samowar zu hausgemachten Piroggen. 5. Museum der sowjetischen Spielautomaten, Moskau, Sankt Petersburg, Kasan Das Museum ist eine Art Zeitmaschine. Man fühlt sich wie ein Pionier mit rotem Halstuch. Hier stehen über 60 Spielautomaten aus sowjetischen Zeiten, die beliebtesten elektronischen Spielzeuge der 1970er-Jahre. Fast alle lassen sich noch benutzen.

7. Sündenmuseum, Tambow 30 Jahre lang sammelte der Pathologe Juri Schtschukin gruselige Exponate. Er brachte es auf 700 Gläser mit menschlichen Extremitäten, Organen und Embryonen. Das Museum ähnelt einem Kuriositätenkabinett des 19. Jahrhunderts – oder einem Horrorfilm: ein Kind mit einem hübschen Gesicht und doppeltem Gehirn, ein Baby mit fünf Augen, ein Säugling mit Ohren anstelle von Augen. Diese spezielle Sammlung hat wohl in erster Linie eine abstoßende Wirkung auf die Betrachter. Dafür fällt es einem nach ihrem Besuch sicher leicht, auf die kleinen Sünden des Alltags zu verzichten: den Genuss von Alkohol, Zigaretten oder einen Seitensprung. 1. Die meisten Automaten sind noch funktionstüchtig: Museum der Sowjetischen Spielautomaten. 2. Ins Reich der Träume: Museum der Träume von Siegmund Freud 3. In Tula produziert man seit jeher traditionelle Samoware: Museum der Samoware.

8. Gadowo-Museum, Gebiet Twer Heute trägt die Siedlung, in dem sich das Museum befindet, den klangvollen Namen Priwolschski. Früher aber hieß dieser Ort Gadowo und war traditionell von vielen Schlangen besiedelt. Eine Legende besagt, dass es hier ein ganzes Meer aus Schlangen gegeben habe – die Heimat des berühmten Märchenhelden Smej Gorynytsch. Besonders effektvoll ist der Typ der „grünen Schlange“ – des Alkohols – dargestellt. Ein interessantes Detail: In dem Dorf Gadowo gab es einst eine Schnapsbrennerei. ZAMIR USMANOV / TASS

1 © ALEKSANDR UTKIN / RIA NOVOSTI

2 LORI/LEGION MEDIA

Amtlicher Katzenpass Die Katzen durchstreifen zwar die Säle nicht wie zu Katharinas Zeiten, die geselligen unter ihnen machen jedoch Ausflüge in die Innenhöfe des Museums oder hinab an das Ufer der Newa. Heute haben sie „Pässe“ und versammeln stolz eine ganze Heerschar von Freiwilligen und Tierärzten um sich herum. Ihnen zu Ehren gibt es einen jährlichen Festtag, an dem Besucher Schlange stehen für die Möglichkeit, die Katzengemächer zu besichtigen und deren Bewohner zu adoptieren. Die Katzen sind aus der Eremitage nicht wegzudenken, ebenso wenig wie die Gemälde Monets oder die prunkvollen Säle des Winterpalasts.

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Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau

MEINUNG

PLÄDOYER FÜR PRAGMATISMUS

FJODOR LUKJANOW POLITOLOGE Chefredakteur der Fachzeitschrift „Russia in Global Affairs» und Vorsitzender des Russischen Rats für Außen- und Verteidigungspolitik.

KONSTANTIN MALER

D

ie Beziehungen zwischen Russland und der Europäischen Union sind weiterhin mehr als nur angespannt, und eine Verbesserung dieser Lage ist offenbar nicht in Sicht. Auch ist klar ersichtlich, dass Brüssel seine Sanktionen gegen Russland nicht aufheben wird, zumindest nicht in absehbarer Zeit. Darüber hinaus werden allem Anschein nach jegliche Unruhen, zu denen es derzeit im Osten der Ukraine kommt, so interpretiert, dass ausschließlich Moskau dafür die Schuld trage, was zu einem weiteren Anlass werden könnte, Vergeltung zu üben. So wurde unlängst verkündet, dass man die Sanktionen gegen Russland verschärfen werde, sollten die Anhänger der Volksrepublik Donezk den Donezker Flughafen unter ihre Kontrolle bringen. Das heißt, dass demnach Russland grundsätzlich an allem die Schuld trägt, was gerade in der Ukraine passiert. Können Russland und die EU angesichts dieser angespannten Lage überhaupt wieder zu einem konstruktiven Verhältnis zurückfinden? Vor noch nicht allzu langer Zeit war die Rede von einer strategischen Partnerschaft auf Grundlage des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens (PKA) zwischen Russland und der EU. Das Abkommen zwingt beide Seiten zum Kompromiss. Grundsätzlich hat das PKA noch Bestand, allerdings muss es nach der Ukraine-Krise überarbeitet werden. Die bilateralen Beziehungen müssen prinzipiell völlig neu überdacht werden, wenn sich die politische Lage zwischen Russland und der EU wieder entspannt, was früher oder später der Fall sein wird. Ein neues Beziehungsmodell wird dabei nicht auf langfristigen Wünschen beider Seiten beruhen können, sondern auf der Realität. Die Russische Föderation und die Europäische Union existieren etwa gleich lang. Die Russische Föderation erscheint seit Dezember 1991 auf der Weltkarte, die EU wurde im Februar 1992 gegründet. Beide stellen zwei neue politische Gebilde dar, mit einer langen Geschichte, die sie von den Vorgängern geerbt haben. Es wäre nicht korrekt zu behaupten, dass Anfang der 1990er-Jahre bei null angefangen wurde, allerdings darf man den Versuch eines prinzipiellen Neustarts auch nicht leugnen.

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Europa wird für lange Zeit Russlands wichtigster Partner bleiben, auch wenn es derzeit nicht danach aussieht.»

Zum einen stimmten beide Seiten darin überein, dass ihr langfristiges Ziel darin besteht, eine Gemeinschaft auf Grundlage einer Harmonisierung der normativen Basis aufzubauen, die wiederum auf einer maximalen Annäherung beider Seiten basiert. Die EU hat jedoch eine ungewöhnliche Struktur. Die Komplexität ihrer inneren Ordnung sowie ihre stark ausgeprägte ideologische Komponente führen dazu, dass sie nur schwer normale Beziehungen zu Partnern außerhalb ihrer eigenen Grenzen führen kann. Dies ist besonders bei Partnern der Fall, die nicht als potenzielle Mitglieder des EU-Projekts im engen (als vollwertige EUMitgliedsländer) oder weiten (als Zone, in der die Grundsätze und Normen der EU gelten) Sinne betrachtet werden können. Russland hat einen EU-Beitritt niemals ernsthaft in Erwägung gezogen. Und Brüssel hat Russland nie als potenziellen Kandidaten betrachtet. Die Annäherung erfolgte auf Basis der rechtlichen Rahmenbedingungen der EU. Moskau war im Grunde genommen damit einverstanden, denn damals war das Land geschwächt. Im Zuge des Wiederaufbaus Russlands nach der Krise der 1990er-Jahre verlangte Moskau verstärkt nach einem

in rechtlicher Hinsicht gleichgestellten Beziehungsmodell. Das heißt nach Beziehungen, die nicht auf der Rechtsgrundlage der EU basierten, sondern auf gemeinsam vereinbarten rechtlichen Rahmenbedingungen. Allerdings ist die EU nicht dazu imstande. Aus diesem Grund blieb der Rahmen der Beziehungen zwischen Russland und der EU derselbe, nur dessen Inhalt härtete aus. Die Ukraine-Krise hat dem Ganzen nun ein Ende gesetzt. Inzwischen hat es keinen Sinn mehr, angesichts der gegenseitig verhängten Sanktionen über eine strategische Partnerschaft zwischen Russland und der EU zu sprechen. Der nächste Schritt für die kommende Zeit wird Schadensbegrenzung sein. Das Ende der Beziehungen, wie sie früher gestaltet waren, könnte entweder geregelt oder abrupt vonstattengehen. Leider ist derzeit letztere Variante zu beobachten. Doch es gibt Hoffnung. Federica Mogherini, Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, sagte kürzlich: „Russland mag zwar derzeit kein Partner sein, doch es stellt ein Schlüsselland in der Welt dar. Wir müssen daher unsere Beziehung zu Russland in den nächs-

INTELLIGENTE SANKTIONEN DES WESTENS ZEIGEN IHRE WIRKUNG

L PETER KASNATSCHEJEW ÖKONOM Leiter des Zentrums für Ressourcenökonomie der Russischen Akademie für Volkswirtschaft.

ange Zeit wurden westliche Sanktionen in Russland bestenfalls als wirkungslos und ineffektiv gesehen. Nun zeigt sich, dass es doch einen Weg gibt, der am Anfang der Auseinandersetzung von kaum jemandem in Betracht gezogen wurde. Dabei handelt es sich um „intelligente Sanktionen“, die nicht auf einem totalen Handelskrieg gründen, sondern auf punktuellen Maßnahmen. Das Ziel ist, die Energiewirtschaft unmittelbar unter Druck zu setzen, um die Produktion von Kohlenwasserstoffen zu reduzieren und somit auch Russlands Staatseinnahmen. Genau diese Maßnahmen sind der Kern der dritten Sanktionsrunde seitens der USA und der EU, die im August beschlossen und im September um weitere Maßnahmen ergänzt wurden. Diese Sanktio-

«

Es geht nicht darum, schnell und hart zuzuschlagen, sondern um stetigen Druck.»

nen betreffen eine ganze Reihe von Russlands größten Unternehmen sowie ganze Wirtschaftsbranchen. Auf den Energiesektor wirken sich vor allem Exportbeschränkungen für spezielle Ausrüstungen und Technologien aus sowie die Sanktionen im finanziellen Bereich – namentlich der verwehrte Zugang zu langfristigen Krediten. Das Hauptziel des Embargos auf den Export von Ausrüstungen und Technologien sind nicht die laufenden Projekte, sondern Vorkommen, deren Förderung in wenigen Jahren beginnen könnte, um die sinkende Produktion der alten Lagerstätten zu kompensieren. Mit der Zeit nimmt in Russland der Anteil an schwer förderbaren Ressourcen zu. An den neuen Vorkommen beträgt dieser bereits mehr als 50 Prozent.

Bei der Förderung dieser Vorkommen ist eine Kooperation mit ausländischen Unternehmen besonders wichtig. Nach Berechnungen des Zentrums für Rohstoffwirtschaft der Russischen Akademie für Volkswirtschaft ist Russland bei horizontalen Bohrungen zu 56 Prozent von ausländischen Servicegesellschaften abhängig. Beim Fracking beträgt die Abhängigkeit sogar 93 Prozent. Ebenfalls von essenzieller Bedeutung ist die Teilnahme ausländischer Unternehmen an Projekten im arktischen Schelf. Ohne sie müsste die Entwicklung dieser Vorkommen unter Umständen auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Bis vor wenigen Wochen haben sich Russische Unternehmen noch unbeeindruckt von den finanziellen Strafmaßnahmen des Westens gegeben.

ten fünf Jahren grundlegend überdenken.“ Das scheint mir der richtige Ansatz. Einerseits ist es ein Eingeständnis, dass man um Russland nicht einfach so herumkommt, und andererseits unterstreicht es die Notwendigkeit, das Beziehungsmodell neu zu überdenken. In Russland muss überlegt werden, welche Erwartungen an die EU gestellt werden, die Illusion einer Integration wurde zerstört. Die Absicht Russlands, sich in Richtung Asien zu orientieren, sollte nicht den Hintergrund haben, sich gegen Europa stellen zu wollen. Dahinter sollte vielmehr die Einsicht stehen, dass es ohne Asien mit seinem enormen Wachstum im 21. Jahrhundert nicht geht. Europa steht Russland in historischer und kultureller Hinsicht besonders nahe. Die Unstimmigkeiten, die heute zwischen Moskau und anderen Hauptstädten Europas bestehen, spiegeln diese kulturhistorische Nähe sowie die Chronik ihrer langfristigen Koexistenz wider. Asien steht im Vergleich dazu eher im Hintergrund. Deshalb wird Europa noch lange Zeit Russlands wichtigster Partner in wirtschaftlicher und technologischer Hinsicht bleiben – auch wenn es gerade so scheint, als ob beide Seiten alles dafür täten, um ihre Abhängigkeit voneinander zu minimieren. In diesem Sinne scheint Pragmatismus vernünftig: zuzugeben, dass die aktuellen Meinungsverschiedenheiten teilweise ein und dieselben Wurzeln haben. Unterschiedliche Herangehensweisen sind kein Beweis dafür, dass die eine oder andere Seite mehr oder weniger Recht hat, sondern einfach eine Tatsache. Andererseits könnten die Versuche, neue Gebiete zu erschließen, sei es durch militärpolitische oder rechtliche Methoden, beiden Seiten gravierende Schwierigkeiten bereiten. Man muss daher mit Vorsicht an das Problem herangehen und begreifen, dass es die ideale Harmonie nicht geben kann, man einer selbstzerstörerischen Disharmonie aber entgegenwirken muss. Nur dann wird es möglich sein, in einiger Zeit damit beginnen zu können, ein neues „großes Europa“ aufzubauen, das später fließend in ein „großes Asien“ übergehen könnte – ohne ambitiöse Projekte und Versuche, etwas aneinander zu ändern, dafür mit viel Verständnis dafür, dass man einander braucht.

Letztlich waren sie aber doch spürbar: Im August hat der Chef des Ölförderers Rosneft, Igor Setschin, die Regierung um einen Staatskredit in Höhe von 44,5 Milliarden US-Dollar gebeten – eine Summe, die in etwa der damaligen Nettoverschuldung von Rosneft entsprach. Russlands zweitgrößte Ölgesellschaft Lukoil hat ihrerseits angekündigt, ihre Ausgaben herunterzufahren – ebenfalls wegen Schwierigkeiten bei der langfristigen Finanzierung ihrer Darlehen. Es geht nicht darum, schnell und hart zuzuschlagen, sondern vielmehr um einen stetig wachsenden Druck. Die „intelligenten Sanktionen“ wurden so angelegt, dass sie die Interessen der europäischen Länder nur minimal treffen. Grundsätzlich hat das funktioniert, denn ein Anstieg der Preise für Öl und Gas blieb aus. Vielmehr sinkt der Ölpreis seit Juli dieses Jahres. Langfristig allerdings sind die Wirkungen der Maßnahmen ungewiss. Klar ist auch, dass eine Verschärfung des Konflikts zwischen Russland und dem Westen gezielte Sanktionen immer schwieriger macht. Die Gesetze der Wirtschaft sind unerbittlich. Im Endeffekt leiden beide Seiten, wenn auch in unterschiedlichem Maße.

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Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau

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BILDUNG

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INTERVIEW DMITRI PETROW

Fremdsprachen in nur 16 Stunden

Warum gerade 16 Stunden? Ich habe bemerkt, dass ein erwachsener Mensch den Dingen nur eine bestimmte Menge an Zeit widmen kann. Zudem habe ich herausgefunden, dass dabei zehn Stunden zu wenig und 20 Stunden zu viel sind – die Menschen können sich nicht mehr konzentrieren. Genau deswegen muss der Sprachkurs kompakter sein. Womit beginnen Sie in der Regel Ihre erste Unterrichtseinheit? Meine erste Frage in einem neuen Kurs lautet: „Welche Assoziationen, Bilder und Emotionen ruft diese Sprache bei Ihnen hervor?“ Bei der deutschen Sprache denken viele erst einmal an historische Ereignisse und dabei vor allem an den Krieg. Im Laufe des Kurses ist es immer sehr interessant zu beobachten, wie diese negativ konnotierten Begriffe nach und nach von positiven abgelöst werden. Die neuen Begriffe stammen häufig aus der deutschen Küche. Andere wiederum assoziieren mit der deutschen Sprache Musik oder Architektur.

AUS DEM PERSÖNLICHEN ARCHIV

Herr Petrow, Sie sprechen mehr als 30 Fremdsprachen, lehren Deutsch, Englisch, Spanisch, Französisch. Wie realistisch ist es, diese Sprachen in 16 Stunden zu erlernen? Natürlich ist es nicht möglich, eine Fremdsprache nach nur 16 Stunden fließend zu sprechen. Aber man kann Hemmungen ablegen, die wichtigsten Strukturen der Sprache erkennen und sich einen Grundwortschatz aneignen, um sich bei einem Gespräch sicherer zu fühlen.

AUS DEM PERSÖNLICHEN ARCHIV

Immer mehr Europäer wollen in den letzten Jahren Russisch lernen, wovon das gestiegene Interesse an Sprachkursen zeugt. Dmitrij Petrow, der bekannte russische Psycholinguist und Moderator einer Wissenschaftsshow beim russischen TV-Sender Kultura, verspricht dabei schnelle Erfolge nach nur 16 Stunden. Wie das funktioniert, erklärt er im Interview mit RBTH.

Dmitri Petrow ist bekannt für unkonventionelle Lehrmethoden in seinen Sprachkursen.

Dmitrij Petrow: „Russisch als Fremdsprache“. Moskau 2014, 320 Seiten

Wie gestalten Sie Ihren Unterricht, um negative Assoziationen durch positive zu ersetzen? Ich bin stets darum bemüht, die scheinbar schwierigsten Aspekte einer Sprache angenehmer und leichter zu gestalten. Es ist schwierig, grammatikalische Regeln zuerst zu erklären und diese dann in der Praxis anzuwenden. Viel einfacher ist es, wenn man ausreichend Elemente verinnerlicht, aus denen man dann eine Vielzahl an Kombinationen schaffen kann. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass jeder lernen muss, über sich selbst zu sprechen und nicht über abstrakte Sachverhalte. Stimmt es, dass es Russen schwerer als Europäern fällt, Fremdsprachen zu erlernen? Ich sehe das anders: Es gibt Länder, in denen die Fremdsprachenkenntnisse der Bevölkerung noch um vieles niedriger sind als in Russland. So ist es beispielsweise in allen englischspra-

MEHR DAZU ERFAHREN SIE AUF DER OFFIZIELLEN WEBSEITE RUSSJAHR.DE

chigen Ländern, da die Bevölkerung dort bereits eine internationale Sprache spricht. Mehrsprachigkeit findet man vor allem in kleinen europäischen Ländern sowie in jenen Staaten, in die viele Touristen reisen. In Russland hingegen erlernen Kinder und Jugendliche Fremdsprachen in der Schule und später vielleicht auch auf der Universität, und dennoch bringt niemand etwas über die Lippen, da die Russen einfach nicht locker genug sind.

schers ist die Notwenigkeit, sich in den Sprecher hineinzuversetzen und ihn anhand seines Sprachstils einschätzen zu können. Europäer kommen nicht umhin, die politischen Umstände bei der Wahl einer Fremdsprache zu bedenken. Warum sollten sie dennoch Russisch wählen? Sprache ist ein Kommunikationsmittel und eine Quelle für wissenschaftliche und kulturelle Informationen. Deshalb sind die Motive, Russisch zu erlernen, ganz unterschiedlich. Manche sind daran interessiert, die russische Kultur kennenzulernen, anderen wiederum sind russische Geschäftskontakte wichtig. Und um Geschäfte nicht nur in Russland, sondern auch in den ehemaligen Sowjetrepubliken abschließen zu können, kommt man um die russische Sprache nicht herum.

Was hindert sie daran? Zum einen ist es ihre Angst davor, Fehler zu machen, zum anderen ihre Panik vor schlechten Noten. Doch wir werden niemals in unserem Leben etwas lernen, wenn wir keine Fehler machen dürfen. Daher neigen gerade jene Völker, die das Leben lockerer sehen, stärker dazu, Fremdsprachen zu erlernen. Viele Russen erlernen eine Sprache und schämen sich davor, diese wegen ihrer schlechten Aussprache zu sprechen. Ist der russische Akzent ein Problem? Sogar eine so klassische europäische Sprache wie das Deutsche hat eine Vielzahl an Akzenten und Dialekten. Diejenigen, die in diesen Dialekten und mit Akzent sprechen, tun das ohne sich zu schämen, obwohl es eine Normsprache, das Hochdeutsch, gibt. Aus diesem Grund sollten wir uns wegen unseres Akzents keine Gedanken machen. Sie haben für Wladimir Putin, Boris Jelzin und Michail Gorbatschow gedolmetscht. Unterscheidet sich die Sprache der Politiker von der Alltagssprache? Die Sprache der Politiker ist bis zu einem gewissen Grad vorhersehbar, doch wenn Fehler passieren, ist der Preis ziemlich hoch. Das Interessante an dem Beruf des Simultandolmet-

Das Gespräch führte JULIA SCHEWELKINA Sprachkurse werden vom Centre Culturel et Scientifique Russe (Goethestraße 32, Luxemburg) angeboten. Das akademische Jahr beginnt jeweils im Herbst und endet im Juni.

RUSSISCH LERNEN RBTH STELLT ZWEI LEHRBÜCHER VOR „MOST I“ LEHR- UND ARBEITSBUCH MIT ZWEI AUDIO-CDS VON IRMA ADLER UND LJUDMILA BOLGOVA

KLETT VERLAG 2013 Das erprobte Lehrwerk für Erwachsene (A1–A2) wird häufig in VHSKursen verwendet. Dank einer Überarbeitung und Aktualisierung sind die kommunikativen und grammatikalischen Inhalte übersichtlicher geworden. „Most II“ (B 1) sorgt für eine Vertiefung der erworbenen Kenntnisse. Pro: Langsames Lerntempo und gut portionierte Grammatik Contra: Zum Selbststudium wenig geeignet. Im Arbeitsbuch ist die Grammatik etwas knapp dargelegt.

„KLJUTSCHI I“ LEHR- UND ARBEITSBUCH VON LUDMILA SOKOLOWA UND HEINER ZELLER

Biografie

MAX HUBER VERLAG 2001

Dmitri Petrow

Ein spannend gestaltetes Lehrbuch, das zum sofortigen Sprechen ermutigt. Und das funktioniert tatsächlich! Dabei erfährt man eine Menge über Russland und seine unterschiedlichen Bewohner. Pro: Mit Bildern, die kuriose Situationen erzählen, und Übungen, die allesamt die sprachliche Kreativität fördern. „Kljutschi II“ (B 1) enthält anspruchsvolle, zum Teil belletristische Texte. Contra: Eine Einführung in das russische ABC und die Phonetik fehlt. Die Grammatikkurzfassung ist nicht ausführlich genug.

Dmitri Petrow wurde 1958 in der Nähe von Tula, südlich der Hauptstadt Moskau, geboren. Er studierte an der Staatlichen Linguistischen Universtiät Moskau, an der er heute selbst unterrichtet. Nach eigenen Angaben beherrscht Petrow bis zu 30 Fremdsprachen, wobei er nur mit acht von ihnen arbeitet. Darunter sind Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Deutsch, Griechisch, Tschechisch und Hindi. Bekannt wurde Petrow durch eine Fernsehshow beim russischen Sender Kultura, wo er bereits in der sechsten Staffel verschiedene Sprachen aus seinem Repertoire unterrichtet. In seiner Laufbahn hat Petrow bereits für Politiker wie Michail Gorbatschow, Boris Jelzin und Wladimir Putin als Synchronübersetzer gearbeitet.

Das Kulturjahr bündelt zahlreiche Veranstaltungen in den Bereichen Sprachunterricht, Übersetzung und Literatur wie beispielsweise: -

die bundesweite Russisch-Olympiade Wettbewerbe für deutsche Schüler und Studenten Konferenzen für Russischlehrer und -dozenten Übersetzer-Symposien Begegnungen zwischen russischen und deutschen Schülern und Studenten - Ausstellungen - Lesungen - Literaten- und Publizistentreffen und vieles andere mehr


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Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau

PORTRÄT

SCHICKSAL Nach ihrem schweren Unfall ließ sich eine Moskauerin nicht unterkriegen

Das zweite Leben der Nastja Belkowskaja Es krachte, dann konnte sich Nastja Belkowskaja an nichts mehr erinnern. Sie verlor beide Beine – jedoch nicht ihren Mut. Wie sie inzwischen ihr Leben in Moskau meistert. TATJANA MARSCHANSKICH FÜR RBTH

Nastja Belkowskaja war gerade einmal zehn Jahre alt, als sie einen Designerwettbewerb des Modemagazins Burda gewann. Eine große Zukunft sagte man ihr damals voraus. Doch dann kam alles ganz anders: Vor fünf Jahren verlor Nastja beide Beine und ihr Gedächtnis.

Falsche Zeit, falscher Ort

Ein folgenschwerer Brief Zu dem Fotoshooting in Berlin kam Nastja Belkowskaja aus reinem Zufall. 2009 fuhr sie mit ihren Eltern nach Deutschland, um neue Beinprothesen anfertigen zu lassen. Im Vorfeld war es schwierig gewesen, das Geld dafür zusammenzubekommen. Doch viele halfen ihr: Kommilitonen, Geschäftsleute, ein bekannter Sänger und auch völlig fremde Menschen, die von ihrem Schicksal erfahren hatten. Drei Tage vor Abflug bekam Nastja den folgenschweren Brief. Der Fotograf Wolfgang Lehmann wollte sie auf die Titelseite eines deutschen Magazins bringen. Ein Kollege hatte im Netz zufälltig den Aufruf zur Sammelaktion für ihre Prothesen gesehen und war von dem Videoclip in deutscher Sprache begeistert. „Du kannst dir selbst aussuchen, was du anziehen möchtest“, schlug Lehmann Nastja vor. Er hatte es kaum glauben können, dass die junge Frau da plötzlich in seinem Studio stand. „Am besten ist es, wenn das Outfit deiner Stimmung entspricht.“ Nastja fuhr mit ihrem Rollstuhl die Kleiderstangen entlang und schaute sich die sehr

Nur ihre Eltern wissen, wie viel Kraft diese Erfolge ihre Tochter gekostet haben. Um die Verkrümmung im Leistenbereich zu kompensieren, musste Nastja sechs Stunden täglich unter einem 45 Kilogramm schweren Sack ausharren. Und das ganze vier Jahre lang.

AUS DEM PERSÖNLICHEN ARCHIV (3)

„Mama, wo bleibst du? Du musst mir doch noch bei meiner Frisur helfen! In einer halben Stunde muss ich fort!“, ruft Nastja und fährt flink mit ihrem Rollstuhl durch die geräumige Moskauer Wohnung. Sie ist 29 Jahre alt, und an einen langen Abschnitt ihres Lebens kann sie sich nicht erinnern. „Nastja hat einen Teil ihres Großhirns verloren“, erklärt ihre Mutter Natalja Belkowskaja. „Ich musste ihr das Lesen, Schreiben, Sitzen und sogar das Essen noch einmal ganz von vorn beibringen.“ Vor fünf Jahren, an einem kalten Dezembertag, fuhr Nastja mit ihrem Wagen auf dem Moskauer Autobahnring, einer der verkehrsreichsten Straßen der Stadt. Mit einem Mal ging der Motor aus. Während Nastja das Warndreieck aufstellte, wurde sie von einem Auto angefahren. Der Mann darin beging Fahrerflucht. Wie lange Nastja am Straßenrand im Schnee lag, weiß niemand genau. Von Hunderten vorbeifahrenden Autos hielt ein einziges an. Die Frau rief den Rettungsdienst und hielt bis zu seinem Eintreffen Nastjas Hand. Vierzig Tage lang lag die junge Frau im Koma, beide Beine mussten ihr amputiert werden. Und das ist nur ein kleiner Teil dessen, was sie durchgemacht hat.

Eine andere Realität

1. Mit Trainerin Lilija Osija: Nastja war 2011 FitnessWeltmeisterin in Österreich. 2. Beim Fotoshooting – hier im Dirndl – mit dem Fotografen Wolfgang Lehmann; unter den vier ausgewählten Outfits war auch ein Hochzeitskleid. 3. Nastja und ihre Mutter Natalja Belkowskaja

AKTUELLES AUS RUSSLAND

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unterschiedlichen Requisiten an. Aus den Hunderten Kostümen suchte sie sich schließlich vier aus, darunter ein Hochzeitskleid. Nastja erinnert sich gern an das Shooting zurück. Während der Aufnahmen war sie absolut glücklich, wie in einem Märchen hatte sie sich gefühlt. Staffage, Make-up und Licht sorgten für die gewünschte Wirkung: Bald darauf tauchte ihr Porträt auf den Titelseiten diverser deutscher Zeitschriften auf. „Für mich war es eine angenehme Überraschung, dass man im Ausland Behinderten mit einem Lächeln begegnet und ihnen in die Augen sieht. In Russland kehrt man ihnen normalerweise den Rücken zu“, erzählt Natalja Belkowskaja. „Ich glaube, die Fahrt nach Deutschland hat mich und meine ganze Familie verändert.“ Nach der Reise begann Nastja, aktiv Sport zu treiben. So aktiv, dass sie 2011 eine Disziplin bei der Bodybuilding- und Fitness-Weltmeisterschaft in Österreich gewann. Und ein Jahr darauf wurde sie Moskauer Meisterin im Powerlifting.

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Seit mehreren Monaten werden im Internet Unterschriften für eine Petition an den Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin gesammelt. Unter anderem geht es darum, Nastja Belkowskaja eine Transportmöglichkeit zur Verfügung zu stellen. Aus eigener Kraft kommt sie weder zum Training noch in die Universität. Die Fahrten mit dem Taxi gehen ins Geld – jeden Monat muss die Familie dafür umgerechnet tausend Euro berappen. Solche Ausgaben lässt die Haushaltskasse aber eigentlich nicht zu. Ansonsten spielt Nastjas Mutter seit dem Unfall ihrer Tochter die Taxifahrerin. Außerdem war sie Psychologin, Lehrerin und Sozialarbeiterin für ihr Kind. Damit sie sich um Nastja voll und ganz kümmern konnte, war es ihr zeitweise sogar nicht mehr möglich, ihrer Arbeit nachzugehen. Inzwischen ist es ihr Ziel, für Nastja in etwa die gleichen Lebensbedingungen zu schaffen, wie sie Menschen mit eingeschränkten Möglichkeiten in Deutschland haben. „Wenn ich das durchsetzen kann, werden es auch die anderen Behinderten in Russland leichter haben“, gibt sie sich kämpferisch.

Wie lange Nastja am Straßenrand lag, weiß niemand so genau. Von Hunderten Autos hielt nur ein einziges an.

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DIE NÄCHSTE AUSGABE erscheint am 18. Dezember 2014

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Während Nastja also beim Reiten oder beim Gesangsunterricht ist, schwimmt und Gewichte im Fitnesscenter stemmt, schreibt ihre Mutter Briefe an die Moskauer Behörden. Gründe dafür gibt es zur Genüge. In ihrem Stadtviertel beispielsweise gibt es keinerlei Rampen für Rollstühle, geschweige denn Behindertentoiletten. Sogar auf eine Zuzahlung für einen Rollstuhl mit Elektroantrieb hat Nastja keinen Anspruch. „Den bekommt nur jemand, der schwache Arme hat“, wurde Natalja Belkowskaja in einer Behörde angeblafft. „Ihre Tochter ist Fitness-Weltmeisterin. Das bedeutet, sie hat kräftige Arme und kann genauso gut mit einem normalen Rollstuhl fahren.“ Nastja selbst interessieren diese Petitionen und Beschwerden nur am Rande. Wie in der Vergangenheit treibt sie jeden Tag mehrere Stunden Sport. Seit Neuestem erlernt sie komplizierte Zirkusnummern, zum Beispiel, so lang wie möglich auf den Händen zu laufen oder sich in der Luft an einem Seil zu drehen. Abends zeichnet Nastja häufig Modeentwürfe, denn sie hat ihren Traum, Designerin zu werden, noch nicht aufgegeben. Schon ein paar hundert Entwürfe liegen auf die Art in ihrer Schublade. Wenn man bedenkt, dass Nastja nach dem Unfall nicht einmal einen Bleistift in der Hand halten konnte, ist das ein kaum zu glaubender Fortschritt. Und außerdem möchte sie viel reisen, heiraten und ein Kind zur Welt bringen.

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