Russland Heute

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Der Fernsehpapst über öffentlich-rechtliches TV

Ist das moralische Kapital der Protestbewegung aufgezehrt? Der Journalist Ilja Klischin fordert nun Inhalte statt Klicks.

Ein Moskauer bastelt sein schwimmendes Kraftwerk.

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JAN LIESKE

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Ein Projekt von RUSSIA BEYOND THE HEADLINES

Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond The Headlines, Moskau, verantwortlich.

Mittwoch, 5. September 2012

POINTIERT

Tataren auf dem Gendarmenmarkt

Unsinnig im Sinne der Anklage Alexej Knelz CHEFREDAKTEUR

m 21. Februar appellieren drei junge Frauen maskiert in der Hauptkathedrale der Russisch-Orthodoxen Kirche an die Gottesmutter, sie solle endlich Putin verjagen. Russische Medien greifen die Aktion auf. Es gibt kaum einen Russen, intellektuell oder orthodox, oppositionell oder regierungsnah, der die Aktion nicht verurteilt hätte. Dass den Frauen der Prozess gemacht wird, die Anklage auf dogmatische Argumente zurückgreift, die Richterin sich auf die Seite der Anklage stellt und fromme Russen das absurde Strafmaß gerecht finden, mag in Deutschland traurig oder sogar wild erscheinen. Noch trauriger und wilder mag erscheinen, dass das Urteil nach der aktuellen Gesetzeslage rechtmäßig ist. Erfreulich hingegen ist, dass es plötzlich viele Russen gibt, Intellektuelle wie Orthodoxe, Oppositionelle wie Regierungsnahe, die sich öffentlich gegen das Urteil aussprechen – und einen zivilgesellschaftlichen Diskurs ins Rollen bringen, wie man ihn noch n icht gesehen hat i n Russland. Dort erscheint indes traurig und wild, wie das Thema in Deutschland zuweilen abgeschustert und ausgeschlachtet wird. Eine differenziertere Diskussion würde man sich sogar im wilden Russland wünschen.

A

ANNA MIESKES-PETRENKO

Strahlende Sterne Russlands: Auftritt russischer Musiker und Tänzer beim Open-Air im Zentrum Berlins

Mit Säbeltänzen und Kosakenchören hat Russland stets gepunktet. Wenig verwunderlich also, dass das Land Ende August mehr als 400 Tänzer und Sänger aus allen russischen Regionen auf den Berliner Gendarmenmarkt schickte, um mit dem Galakonzert „Strahlende Sterne Russlands“

einen Glanzpunkt des Russlandjahrs in Deutschland zu setzen. Das wichtigste musikalische Ereignis des Russlandjahrs steht dagegen noch bevor: Am 15. September beginnt das Usedomer Musikfestival, und Gastland ist in diesem Jahr die Heimat Schostakowitschs und Mussorgskis.

Ku r t Masu r, 1994 der erste Schirmherr des Festivals, wird diesmal selbst am Pult stehen. Auf Usedom wird auch zu erfahren sein, wie es klingt, wenn russische Orchester „im Konzert dampfen“, wie es der Dirigent Thomas Sanderling im Interview ausdrückt. Er muss es wissen:

Sanderling dirigiert das Sinfonieorchester seiner Geburtsstadt Nowosibirsk. Unter seiner Leitung spielt das Orchester am 3. Oktober „An die Freude“, einmal von Beethoven ... und einmal von Tschaikowsky. MEHR DAZU AUF SEITE 11

THEMA DES MONATS

China per LKW

Pussy Riot ist eine Gruppe junger Russinnen, die seit letztem Herbst mit Masken auf den Köpfen mehrfach öffentlich aufgetreten sind. Im August wurden die drei Mitglieder zu zwei Jahren Lagerhaft verurteilt. So weit die Fakten. An allem Weiteren scheiden sich die Geister. War es Punk, politische Kunst oder, wie das Gericht befand, „Rowdytum aus religiösem

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VW in Kaluga

Hass“? Für das Urteil ist auch die mangelnde Definition des „Rowdytums“ im russischen Strafrecht verantwortlich (S. 2). Warum die weltweite Solidarisierungskampagne am Kreml abperlt, daran verzweifelt der Grandseigneur des russischen Journalismus, Wladimir Posner (S. 10).

Volkswagen macht ernst: 250 Millionen Euro investiert der Autobauer in ein neues Werk in Kaluga: Ab 2015 sollen hier täglich 600 TSI 1,6-Liter-Motoren vom Band laufen. Bis 2018 will der Konzern in Russland jährlich eine halbe Million Autos verkaufen.

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28-300.RU

REUTERS/VOSTOCK-PHOTO

Aufstand vor den Gittern

Die Seidenstraße zwischen China und Europa liegt brach: Die Handelswege über Zentralasien und den Kaukasus sind von Containerschiffen ersetzt worden. Die Initiative NELTA will die alte Route für den modernen Straßenverkehr nutzbar machen.

KAUFEN UND MIETEN IMMOBILIENMARKT ZWISCHEN BETONGOLD UND DATSCHAS „Betongold“ – wer nicht weiß, was das ist, sollte nach Russland kommen: Dort schwören die Menschen auf Wohnungen als Kapitalanlage. Antworten darauf, wie eine Moskauer Babuschka mit einer Rente von einigen 100 Euro bei einem Quadratmeterpreis von 4000 Euro überleben kann, und andere Geheimnisse des russischen Immobilienmarkts auf den SEITEN 6 und 7


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Politik

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Justiz Das harte Urteil im Pussy-Riot-Prozess war nur aufgrund von Lücken in der Rechtssprechung möglich weis war, dass Pussy Riot nicht wegen ihres Hasses gegenüber der Kirche, sondern gegenüber Patriarch Kyrill oder Wladimir Putin verurteilt werden. „Der russische Durchschnittsrichter spielt der Anklage in die Hände, daran ist nichts Überraschendes“, erklärt Ella Panejach, leitende wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Probleme der Rechtsanwendung der Europäischen Universität St. Petersburg. „In diesem Fall war das Ausmaß jedoch beeindruckend: Von den 17 von der Verteidigung beantragten Zeugen wurden nur drei angehört – das ist ein unerhörter Vorgang. Berücksichtigt man zudem, dass die Verteidigung während der Voruntersuchung keinerlei Möglichkeit hatte, auf den Vorgang Einfluss zu nehmen, bedeutet das, dass man sie einfach nicht angehört hat.“

Pussy Riot: Nadeschda Tolokonnikowa, Jekaterina Samutsewitsch, Maria Aljochina

PHOTOSHOT/VOSTOCK-PHOTO

Politische Zweckmäßigkeit? Der wohl dramatischste Moment des Prozesses bestand darin, dass die Richterin bei exakter Einhaltung des russischen Rechts gewichtige Gründe hatte, eben dieses Urteil zu sprechen: Ihr lag das Gutachten von Fachleuten vor, in dem schwarz auf weiß geschrieben stand, dass religiöser Hass in den Worten und Taten der jungen Frauen gegenwärtig war. Es gab allerdings auch zwei Experten, die zum gegenteiligen Schluss gekommen waren. Hätte sie diese berücksichtigen können? Sicherlich, und sie hätte dies wohl auch tun müssen. Das wäre jedoch ein sehr ernst zu nehmender Präzedenzfall gewesen, den man in der Zukunft wohl kaum hätte ignorieren können. Zum Beispiel bei der gerichtlichen Auseinandersetzung mit irgendwelchen faschistoiden Jugendlichen, die in eine Synagoge eindringen, dort die rechte Hand zum Hitlergruß heben und „Die Juden haben Russland ausverkauft!“ schreien. Derartige Dinge passieren wesentlich öfter als Punktänze in der Christus-Erlöser-Kathedrale. Und hätte die Richterin ein milderes Strafmaß festgelegt, so hätte dies die hitzigen Gemüter wahrscheinlich noch weiter aufgeheizt. Darf ein Richter sich aber von den Prinzipien politischer Zweckmäßigkeit leiten lassen, oder ist dies Willkür? Es ist vollkommen klar, dass dieser Disput noch so lange fortgeführt werden wird, wie das Gesetz in der gegenwärtigen Form existiert und eine völlig freie Interpretation zulässt.

Zwei Jahre Haft für einen Tanz in der Kathedrale DMITRIJ KARZEW RUSSKIJ REPORTER

Nach russischem Gesetz ist Rowdytum nicht gleich Rowdytum. Es gibt „geringfügiges Rowdytum“, das eine Ordnungswidrigkeit darstellt und mit höchstens 15 Tagen Arrest geahndet wird. Und es gibt einfach nur „Rowdytum“ – ein Delikt aus dem Strafgesetzbuch, für das eine Haftstrafe von bis zu sieben Jahren erteilt wird. Die juristische Grenze zwischen geringfügigem Rowdytum und seinem „großen Bruder“ ist undefinierbar: Im einen Fall ist die Rede von einer Störung der öffentlichen Ordnung, im anderen von einer schweren Störung. Was aber „schwer“ bedeutet, ist dem Gericht überlassen. In Paragraph 213 des Strafgesetzbuchs gibt es allerdings einen Hinweis für den Richter: die Anwendung von Waffen sowie Motive „politisch, ideologisch, rassistisch, national oder religiös motivierten Hasses oder Feindschaft“ oder „Hass oder Feindschaft gegenüber einer sozialen Gruppe“. Das bedeutet, dass ein und dieselbe Tat in Abhängigkeit von ihrem Motiv sowohl mit 15 Tagen Arrest als auch mit einer Haftstrafe von sieben Jahren geahndet werden kann. Und da es auf der Altarbühne der ChristusErlöser-Kathedrale ohne Waffengewalt zuging, war zu beweisen, dass die jungen Frauen eine der aufgeführten Arten von Hass empfinden. „Ihre Tat fällt eindeutig in den Bereich einer Ordnungswidrigkeit“, erklärt der Jurist und Regierungsvertreter bei der höchsten Gerichtsinstanz, Michail Bar-

schewskij. „Dass ihre Tat nicht als Ordnungswidrigkeit, sondern als Straftat eingestuft wurde, ist keine juristische, sondern eine politische Frage.“ Entscheidend war das dritte psychologisch-linguistische Gutachten. Die ersten beiden fanden keine Straftat in der Handlung der jungen Frauen, das letzte wurde fündig und als Einziges von der Richterin anerkannt.

Der KGB-Chef ist euer Heiliger Die Fachleute wiesen mit nahezu grotesker Penibilität die offensichtliche Tatsache nach, dass es vor dem Altar einer Kirche nicht angebracht ist, in Masken „satirische Strophen“ zu singen. Doch das Entscheidende: Sie kamen zu dem Schluss, dass im Vorgehen der jungen Frauen religiöser Hass zu spüren war, was das Vorliegen einer kriminellen Straftat beweist. Tatsächlich kann man einigen Stellen des „Punkgebets“ keine warmherzigen Gefühle gegenüber der Kirche nachsagen: „Alle Pfarrkinder kriechen zur Verbeugung“, „Der KGB-Chef ist euer oberster Heiliger“, „Der

MEINUNGSSPIEGEL

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Das Urteil hinterlässt nicht nur Spuren in der Biografie der drei jungen Frauen. Es ist ein weiterer Schlag gegen das Rechtssystem, aber mehr noch gegen das Vertrauen der Bürger in dieses System." ALEXEJ KUDRIN, EX- FINANZMINISTER, MITBEGRÜNDER DES KOMITEES FÜR BÜRGERINITIATIVEN

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Ein solches Verhalten in einer Kirche finde ich unsittlich. Wenn die Kirche aber derart eng mit dem Staat zusammenwächst, dass sie einen Gerichtsprozess beeinflussen kann, ist das gesetzeswidrig." SERGEJ BARANOW, DOMIZELLAR VON TAMBOW, LEGTE AUS PROTEST SEINEN ORDENSNAMEN AB

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Auch ich habe Pussy Riot als ’Idiotinnen‘ bezeichnet. Aber Idiotismus ist ungleich Kriminalität. Wenn in der Gesellschaft eine Vorstellung von Gesetz und Ordnung existiert, dürfen wir sie nicht für so etwas ins Gefängnis sperren." ALEXEJ NAWALNY, OPPOSITIONELLER BLOGGER UND KÄMPFER GEGEN DIE KORRUPTION

Patriarch glaubt an Putin – Besser sollte er, der Hund, an Gott glauben“. Aber ist das Hass? Der Jurist Nikolaj Polosow, die ehemalige Staatsanwältin Violetta Wolkowa und der oppositionelle Aktivist Mark Fejgin haben in den letzten Monaten nahezu den gleichen Bekanntheitsgrad wie ihre Mandantinnen erlangt. Sie verheimlichen auch nicht, dass sie zusammen mit den jungen Frauen nicht so sehr für deren Freilassung als um die gesellschaftliche Resonanz gekämpft haben.

Die Strategie der Anwälte „Wir hatten keine Alternative“, erklärt Anwältin Wolkowa. „Die Untersuchungsrichter haben zu Beginn klargemacht, dass die jungen Frauen nur freigelassen werden, wenn sie ihre Schuld eingestehen. Das haben sie kategorisch abgelehnt, da sie keinerlei religiösen Hass verspürten. Unsere Aufgabe war es deshalb, der russischen Gesellschaft zu zeigen, wie unser sogenanntes Rechtssystem funktioniert.“ Das erklärt auch die Strategie der Verteidigung, deren Ziel der Be-

Die ungekürzte Fassung dieses Beitrags erschien im Wochenmagazin Russkij Reporter

IM BLICKPUNKT

War das Gerichtsverfahren gegen Pussy Riot rechtmäßig? „Der Prozess im Fall Pussy Riot verläuft rechtmäßig, objektiv und unparteiisch.“ – In einer Umfrage des Lewada-Zentrums stimmten dieser Aussage vier Tage vor dem Urteilsspruch 44 Prozent zu, 39 Prozent wussten nicht, wie sie den Fall einordnen sollen. Aus einer weiteren Lewada-Umfrage vom 24. August, einer Woche nach der Urteilsverkündung, geht hervor, dass nur noch 63 Prozent die Tätigkeit Wladimir Putins als Präsident gutheißen statt 67 Prozent im Vormonat. Alexej Graschdankin, Vizedirektor des Lewada-Zentrums, führt diesen Rückgang auf den Pussy-Riot-Prozess zurück.

PHOTOXPRESS

Ein Moskauer Gericht verurteilte die Mitglieder der Punkband Pussy Riot am 17. August zu zwei Jahren Lagerhaft. Wie kann man dieses absurde Urteil erklären und einordnen?

Wer sind Pussy Riot? Wo kommen sie her? Warum reagiert man in Russland auf ihre Aktion anders als in Deutschland, und warum unterstützt die Mehrheit der Russen das Urteil? Lesen Sie die Beiträge auf www.russland-heute.de


Politik

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IM GESPRÄCH

Ein öffentlich-rechtlicher Versuch Mit der „Öffentlichen Fernsehanstalt Russlands“ (OTW) soll 2013 der erste öffentlichrechtliche Sender des Landes starten. Direktor Anatoli Lyssenko über die Risiken.

BIOGRAFIE GEBOREN: WINNYZJA, UKRAINE ALTER: 75 PROFIL: FERNSEHLEGENDE

MARINA WASSILJEWA RUSSKIJ REPORTER

Anfang der 1990er gab es bereits einen öffentlich-rechtlichen Sender – ORT. Heute heißt er 1. Kanal und ist das Sprachrohr des Kreml. Warum sollte es dieses Mal klappen? Damals hatte doch niemand wirklich die Absicht, eine öffentliche Fernsehanstalt zu gründen. Wie kommen Sie denn darauf? Das folgt aus dem Namen. Tja, wissen Sie, der Name … Man hat sich damals einfach nur eine wohlklingende Bezeichnung ausgedacht. Kaum jemand hatte wirklich geglaubt, dass das ein unabhängiger Sender wird: Herausgekommen ist eine „öffentliche Fernsehanstalt Boris Beresowskis“ (Der Oligarch Boris Beresowski hatte den Sender ORT Mitte der 1990er aufgekauft – Anm. d. Red.). Warum gründet und finanziert der Staat den Sender? Das führt doch das Wesen des öffentlichrechtlichen Rundfunks ad absurdum? Wer garantiert, dass nicht eine „öffentliche Fernsehanstalt des Staates“ herauskommt? Wer soll ihn denn sonst gründen? Es hätten ihn beispielsweise auch mehrere zivilgesellschaftliche Or-

Anatoli Lyssenko gilt in Russland als „Patriarch des Fernsehens“: Bereits 1959 moderierte er Jugendprogramme. Das Jugendliche blieb an ihm haften: Ab 1968 und bis in die 1990erJahre war er als Programmdirektor für sämtliche Jugendsendungen des Zentralfernsehens zuständig. Ab 1987 leitete er die Perestroika-Kultsendung „Wsgljad“ (Blick), die durch investigativen Fernsehjournalismus die öffentliche Meinung im Land sowie das gesamte Sowjetfernsehen umkrempelte. Erster „Wsgljad“-Moderator und Russlands größte Fernsehlegende Wladislaw Listjew (1995 unter ungeklärten Umständen ermordet) nannte Lyssenko seinen „Papa“. Bis 2004 moderierte Lyssenko im 1. Kanal, heute unterrichtet er Medienkommunikation an der renommierten Moskauer Hochschule für Handel und Wirtschaft.

ITAR-TASS

Im Fernsehrat werden Ihnen 25 Politiker, Journalisten, Schriftsteller, Ärzte und Sportler zur Seite stehen. Wie sollen all diese Leute zusammenarbeiten, wie sollen sie einen interessanten TV-Sender mit Profil aufbauen? Sie haben sich wahrscheinlich nie mit theoretischer Mechanik beschäftigt. Da gibt es eine Regel: je größer der Richtungswinkel des Vektors, umso deutlicher fällt das Ergebnis aus. Viele Menschen heißt viele Meinungen, und am Ende kommt etwas Interessantes heraus. Zweifelsohne wird es auch Konflikte geben, aber diese werden wir lösen können. Ohne Gewaltanwendung – versprochen.

CHRONIK

Das Ringen um einen öffentlichrechtlichen Fernsehkanal 22. Dezember 2011 • Präsident Dmitri Medwedjew schlägt dem Föderationsrat vor, eine öffentlich-rechtliche Fernsehanstalt zu gründen. 17. April 2012 • Medwedjew unterzeichnet den Erlass zur Gründung der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalt. Der neue Sender OTW soll die Frequenzen des Militärsenders „Swesda“

ganisationen gründen können, aber das ist nicht geschehen. Warum? Wahrscheinlich, weil sie keinen Bedarf haben. In unserem Land existiert noch keine Zivilgesellschaft. Sobald sie entsteht, wird sie sich auch für eine richtige öffentlich-rechtliche Fernsehlandschaft einsetzen. Bis dahin hat der Staat diese Funktion auf sich genommen. Hierbei geht es auch nicht um die Finanzierung, sondern um die Ziele, die jetzt

HINTERGRUND

(Stern) übernehmen, die dem Verteidigungsministerium gehören. 18. Juli 2012 • Anatoli Lyssenko wird zum Generaldirektor von OTW ernannt. Er verschiebt den geplanten Sendebeginn vom 1. Januar 2013 auf den 1. Mai. Grund: Bis Jahresende seien nicht alle organisatorischen und technischen Fragen zu klären.

vor uns liegen. An staatlichen Zuschüssen fürs Fernsehen ist an sich nichts Verwerfliches: Das sind doch unsere eigenen Steuergelder. Es gibt mehrere Länder, in denen der öffentlich-rechtliche Rundfunk vom Staat subventioniert wird. Falls es aber Versuche geben sollte, das OTW wie andere staatliche Fernsehsender zu kontrollieren, was wäre Ihre Reaktion?

Wir werden diskutieren und den Staat davon überzeugen, dass er im Unrecht ist. Ich verstehe den Unterton in Ihrer Frage. Viele Bekannte und Kollegen sagen: „Wenn die Initiative vom Staat ausgeht, werden wir uns daran nicht beteiligen!“ Das ist zwar eine stolze Haltung, aber ich finde sie ein wenig pingelig. Durch Enthaltung wird die Situation nicht besser. Klar, auch ich habe da gewisse Zweifel. Aber sich beleidigt in die

Ecke zu stellen und zu sagen: „Ich mache da nicht mit!“, ist auch nicht richtig. Ist es überhaupt noch sinnvoll, neue Fernsehsender zu gründen, wo sich die Menschen immer mehr am Internet orientieren – vor allem die Jugendlichen? Im Internet werden in erster Linie Informationen gesucht. Das Fernsehen hat außer zu informieren noch die Funktionen aufzuklären und zu unterhalten. Das Informieren wird künftig über das Internet laufen, Aufklärung nicht. Wenn aber niemand mehr fernsieht, wie soll da das Fernsehen diese Funktion erfüllen? Jetzt übertreiben Sie aber: Es werden immer mehr Fernsehgeräte verkauft. Und wenn ich zurückdenke – was hat man zu meiner Zeit nicht schon alles totgesagt? Bücher, Kino, Theater, Malerei – und all das gibt es noch.

Der Medienkonsum der russischen Bevölkerung

Leid-Medium Fernsehen In der Sowjetunion war Fernsehen das Leitmedium: Seit den 1960er-Jahren ist praktisch jeder russische Haushalt mit einem Fernseher ausgestattet. Das Zentralfernsehen sendet landesweit auf vier Kanälen. Mit Beginn der Perestroika emanzipiert sich das Programm: Investigative Sendungen wie „Wsgljad“, in denen erstmals Kritik am System laut wird, verändern das Bewusstsein der Gesellschaft. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wird das Zentralfernsehen reformiert, das Pilotprojekt einer öffentlich-rechtlichen Anstalt scheitert jedoch. Milliardär Boris Beresowski kauft den Sender 1994 und läutet eine neue Ära ein:

18. August 2012 • Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow appelliert an Premierminister Dmitri Medwedjew, die Frequenzen des Senders „Swesda“ weiterhin nutzen zu dürfen: Zu viele Mittel und Mühen seien in den Militärsender gesteckt worden. Sein Vorschlag: Der neue öffentlich-rechtliche Kanal könnte auf ungenutzten Regionalfrequenzen von „Swesda“ senden. Die Reaktion von Anatoli Lyssenko: „Der Staat soll selbst entscheiden, was ihm wichtiger ist und ob er überhaupt einen öffentlich-rechtlichen Sender braucht.“

Das Fernsehen steht in den 90ern unter dem Einfluss der Oligarchen. Unter Putin werden die wichtigsten Sender wieder verstaatlicht oder unter den Einfluss staatlicher Konzerne gebracht. Seitdem setzen die drei größten Kanäle auf kremlfreundliche Nachrichten und Entertainment. Mit dem Einzug des digitalen Fernsehens ändert sich jedoch das System. In den letzten Jahren sind Spartenkanäle wie der unabhängige Sender Doschd (Regen) entstanden. Auch das Internet setzt dem Fernsehen immer mehr zu: Im Juli vermeldete das Internetportal Yandex erstmals mehr User als der „Erste Kanal“ Zuschauer.

QUELLE: WCIOM

Dieser Beitrag erschien zuerst im Wochenmagazin Russkij Reporter


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Wirtschaft

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Logistik Wie auf der Seidenstraße Waren aus der EU über Russland nach China gelangen

AKTUELL

Auf den Spuren Marco Polos

Russen kaufen mehr teure Autos

Auf der alten Seidenstraße China mit europäischen Waren versorgen? Im September wird ein Pilotprojekt abgeschlossen, per LKW die Trasse wieder befahrbar zu machen. SEBASTIAN BECKER FÜR RUSSLAND HEUTE

Das Leitmotiv von Martin Marmy klingt idealistisch: „Wir arbeiten gemeinsam für eine bessere Zukunft weltweit, die durch den wachsenden Wohlstand ermöglicht wird, den etwa der Straßentra n spor t scha f f t.“ Der 67-jährige Schweizer ist Generalsekretär der International Road Union (IRU), jener Vereinigung, die seit 1948 die Interessen der LKW-Unternehmen, Trucker und aller vertritt, die mit dem Straßentransport ihr Geld verdienen. Jetzt, im September, steht eines von Marmys wichtigsten Projekten vor dem Abschluss. Es geht um die Reaktivierung der alten Seidenstraße von Europa nach China, die Marco Polo vor mehr als 700 Jahren nutzte. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis China die USA als Wirtschaftssupermacht eingeholt hat. Der Warentransport vom Alten Kontinent ins Reich der Mitte wird also in den kommenden Jahren immer wichtiger. Aktuell gehen über 90 Prozent der Güter in Containern über den Seeweg. Der Transport auf der Straße liegt derzeit brach, soll aber nach dem Willen der IRU eine konkurrenzfähige Alternative werden. Das Projekt, das den Namen NELTI (New Eurasian Land Transport Initiative) trägt, begann im Jahr 2008. Trucks testeten dabei Routen von Mittelasien bis nach Europa. Sie legten Zehntausende Kilometer zurück und waren wochenlang unterwegs. Die LKW-Fahrer, die aus unterschiedlichen Ländern wie Russland oder Usbekistan stammen, dokumentierten alle Probleme und Hindernisse auf ihrem Weg. Die Daten werden nu n den Durchgangsstaaten vorgelegt mit dem Ziel, eben diese Hindernisse abzubauen. Die IRU hat das Projekt gemeinsam mit der eurasischen Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit ECO auf die Beine gestellt, der Länder wie der Iran, die Türkei und Kasachstan angehören.

15 km/h und viel Bakschisch Die Durchschnittsgeschwindigkeit der Trucks lag bei nur 15 Kilometern pro Stunde. Ein Drittel der Zeit verloren die Fahrer durch

WIRTSCHAFTSKALENDER

Auf der Moscow Motor Show im August präsentierte Daimler den neuen Mercedes-Benz GL 63 AMG. Die Weltpremiere des 550 PS starken Geländewagens in Moskau war kein Zufall: Die Russen kaufen laut einer Studie von Ernst & Young immer mehr teure Autos. Im ersten Halbjahr lagen 14,4 Prozent der Verkäufe im Segment bis 37 500 Euro gegenüber 9,6 Prozent im Vorjahr. 9,5 Prozent der verkauften Autos kosteten 37 500 Euro aufwärts.

Solarkraftwerk im Ural geplant In der Großstadt Tscheljabinsk könnte bald Russlands erstes Solarkraftwerk entstehen. Der finnische Konzern Fortum, dem in der Stadt mehrere Kraftwerke gehören, verhandelt laut Kommersant mit dem russischen Solarzellenhersteller Hevel Solar über ein Kraftwerk mit einer Leistung von 100 MW.

ZAHLEN Prozent des Gütertransfers zwischen Europa und China werden heute auf dem Seeweg verschifft. Der Transport mit dem Lastwagen liegt praktisch brach.

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die Wartezeiten an den Grenzen. Doch das war bei Weitem nicht das Unangenehmste: Um überhaupt weiterfahren zu können, mussten sie oft Schmiergelder zahlen. Den Berichten der IRU zufolge machte dieses Bakschisch in manchen Fällen bis zu 40 Prozent der Transportkosten aus. „Das ist eine kühne Vision“, urteilt deshalb etwa Ingo Hodea, Sprecher des Deutschen Speditions- und Logistikverbandes (DSLV) in Berlin, über die Wiederbelebung der Seidenstraße. Bis sich ein solches Projekt verwirklichen lasse und regelmäßige Verkehre per LKW aufgebaut werden, könnten viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte vergehen. Hodea weist darauf hin, dass Versorgungseinrichtungen, Parkplätze und befahrbare Straßen fehlen. „Doch verhindern überwiegend die politischen Zustände in Ländern wie dem Iran eine baldige Realisierung“, so Hodea. Besonders wichtig sei es, die Zollund Einreiseformalitäten zu erleichtern. Hodea zufolge sollte mit dem Projekt wohl eher ein

politisches Zeichen gesetzt werden. Mehr als nur eine politische Deklaration sieht dagegen der Logistikspezialist Sebastian Kummer von der Wirtschaftsuniversität Wien. Denn dazu sei der Aufwand, den die Beteiligten betrieben hätten, viel zu groß. „Immerhin sind mehrere Länder und Unternehmen eingebunden, die über Jahre hinweg gezielt Daten über die Strecken sammelten“, sagt der Wissenschaftler.

WIRTSCHAFTSKONTAKTE MANAGERFORTBILDUNGSPROGRAMM RUSSLAND

VORTRAG MYTHOS TRANSSIB – GESCHÄFTS- UND FREIZEITREISEN AUF DER LÄNGSTEN EISENBAHNSTRECKE DER WELT

11. SEPTEMBER BIS 6. OKTOBER, KÖLN

Millionen Einwohner haben die in der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit (ECO) zusammengeschlossenen Staaten insgesamt.

350 Millionen Konsumenten NELTI kann seinen Aussagen zufolge langfristig gesehen auch für deutsche Logistikunternehmen oder Autohersteller wie Daimler interessant werden. „Das Projekt hilft, die Wirtschaftsräume entlang der Seidenstraße zu entwickeln“, erklärt Kummer. Die Länder, die derzeit noch von Krisen erschüttert sind, verfügten über ein beträchtliches logistisches Potenzial, das deutsche Unternehmen erschließen könnten. Tatsächlich erwirtschaften die ECO-Staaten derzeit ein gemein-

14. SEPTEMBER, OST- UND MITTELEUROPA VEREIN, HAMBURG

LESEN SIE MEHR ÜBER DIE RUSSISCHE WIRTSCHAFT AUF

20 russische Führungskräfte mit Interesse an Technologie und Kooperation kommen auf Einladung der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) zur Fortbildung nach Köln. Die GIZ ermöglicht die deutschlandweite Kontaktanbahnung.

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Ein Drittel der Zeit verloren die Fahrer an den Grenzen. Um weiterzukommen, mussten sie oft Schmiergeld zahlen. Die Strecke kann auch für deutsche Logistiker oder Autohersteller wie Daimler interessant werden. sames Bruttoinlandsprodukt von etwa 1,2 Billionen Euro, etwas wen iger als d ie Häl f te von Deutschland. Allerdings ist das Konsumentenpotenzial mit 350 Millionen Einwohnern mehr als viermal so hoch. Viele dieser Länder verfügen nicht über einen Zugang zum Meer und sind somit auf die innerländischen Verkehrswege angewiesen. Manche von ihnen wie Kasachstan haben reiche Gasvorkommen und sind deswegen sehr entwicklungsfähig. Davon zeigt sich auch Sebastian Kummer überzeugt und bewertet die Initiative NELTI grundsätzlich positiv. Wenn es um die konkrete Lieferung von Gütern auf der Seidenstraße über Land geht, ist der Logistikfachmann allerdings skeptisch: „Hier dürfte NELTI gegenüber der Bahn im Moment noch deutlich im Hintertreffen sein.“ Deren Anbindungen seien derzeit wesentlich besser und dazu kostengünstiger.

CHANCEN DEUTSCH-RUSSISCHE KARRIEREBÖRSE 18. SEPTEMBER, STAATLICHES POLYTECHNISCHES MUSEUM, MOSKAU

1500 Züge für Volkswagen Der Logistikdienstleister DB Schenker Rail hat im August den 1500. Zug zum Standort von Volkswagen und Škoda in Kaluga gefahren. Über 110 000 Container mit Autoteilen erreichten seit 2007 das Werk per Schiene. Täglich rollen bis zu zwei Containerzüge mit über 1000 Metern Länge Richtung Kaluga.

Beitritt zur WTO offiziell vollzogen Russland ist offiziell in die Welthandelsorganisation WTO aufgenommen. Am 22. August wurde es zum 156. Mitglied erklärt – 18 Jahre nach dem Beitrittsantrag. Die Regierung erhofft sich nun einen Modernisierungsschub, Importeure erwarten mehr Sicherheit.

Hannover wählt als Partner Russland Russland wird Partnerland der Hannover Messe 2013 im April. Für Jochen Köckler, Vorstandsmitglied der Deutschen Messe AG, ist Russland „das ideale Partnerland“. Sein Investitionspotenzial übe eine hohe Anziehungskraft auf Aussteller und Fachbesucher aus.

UNTERNEHMERREISE DELEGATIONSREISE ZUM THEMA MASCHINENBAU/ METALLVERARBEITUNG 18. BIS 22. NOVEMBER, PERM/ISCHEWSK

OMV Lunchbreaks bieten die Möglichkeit zu Networking und Erfahrungsaustausch. Das Impulsreferat hält Jochen Szech von GO EAST Reisen.

Auf der Karrierebörse können Studenten, Absolventen und junge Berufstätige Unternehmen mit deutschrussischem Fokus kennenlernen. Das Forum richtet sich an Fachkräfte aller Studienrichtungen.

Die vom deutschen Wirtschaftsministerium geförderte Reise dient der Anbahnung geschäftlicher Kontakte deutscher kleiner und mittlerer Unternehmen aus den Bereichen Maschinenbau und Metallverarbeitung.

› o-m-v.org

› deutsch-russisches-forum.de

› markt-wissen.de


Wirtschaft

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Regionen Die Erforschung des arktischen Schelfs auf Jamal

Neue Rohstoffe aus dem Permafrostboden

ILJA LOKTJUSCHIN RUSSLAND HEUTE

Bis Jahresende wird in Salechard, der Hauptstadt der Jamal-Halbinsel, ein internationales Zentrum zur Erforschung der Arktis entstehen. Das gab Dmitri Kobylkin, Gouverneur des Autonomen Kreises der Jamal-Nenzen, auf der 10. Internationalen Permafrostkonferenz Ende Juni in Salechard bekannt. Das weltweit größte Forum der Permafrostforschung, an dem über 600 Wissenschaftler aus 35 Ländern beteiligt waren, fand erstmals in Russland statt. Der Standort des neuen Forschungszentrums wurde nicht zu-

Flüssigerdgas (LNG) geplant. Künftig soll das LNG über den Seeweg von der Karasee über das Nordpolarmeer an Abnehmerländer in Europa geliefert werden.

Wissenschaftlicher Rat Das Forschungszentrum ist der erste Schritt auf der neuen Erschließungsagenda. Zuvor wurde die Arktis ohne den Rat von Fachleuten in einer Art wilden Pioniergeists in Besitz genommen, was zu Pannen und Unfällen geführt hat: In Norilsk, 1000 Kilometer östlicher, wären um ein Haar 300 Häuser eingestürzt, weil sich der Permafrostboden in 20 Meter Tiefe erwärmt hatte und die Stahlträger der Bauten eingesunken waren. „Es wäre töricht, auf diese Art weiterzumachen und nicht auf die Ratschläge der Experten zu hören“, ist Melnikow überzeugt.

PRESSEBILD

fällig gewählt: „Nebst Permafrost bietet das Gebiet fast schon Laborbedingungen zur Beobachtung und Erforschung aller arktischen Prozesse“, sagt Wladimir Melnikow, Direktor des Instituts für Kryosphärenforschung an der russischen Akademie der Wissenschaften in Tjumen. Ferner liege hier der Löwenanteil der russischen Erdöl- und Erdgasvorkommen. Das Investitionspotenzial liegt bei 1,5 Billionen Euro. Um diese Ressourcen in naher Zukunft ausschöpfen zu können, wird die Infrastruktur der Region zum Teil saniert und ausgebaut: In den kommenden zehn Jahren, so der Plan, sollen zwischen Salechard und Nadym eine Eisenbahnstrecke und eine Landstraße entstehen. In Salechard, das an der Karasee liegt, sind ein neuer Hafen, eine Raffinerie und ein Werk zur Aufbereitung von

Die Förderung von Rohstoffen in ökologisch verträglichem Maß? Ein Forschungszentrum auf der Jamal-Halbinsel soll die Erschließung von Erdöl und -gas wissenschaftlich begleiten.

Ökologen aus dem Kreis der Jamal-Nenzen auf der Weißen Insel.

Die Einbindung der Wissenschaft hat bereits begonnen: Im August fand eine ökologische Expedition zur Weißen Insel in der Karasee statt, auf der eine 60 Jahre alte Wetterstation und eine Militärbasis stehen. Junge Studenten klaubten alte Ölfässer und anderen Schrott zusammen – zum ersten Mal seit 40 Jahren. Insgesamt sam-

melten sie rund 75 Tonnen Altmetall, das im kommenden Frühjahr abgeholt und verwertet wird. Auf der Weißen Insel, so die Regionalregierung, sei eine internationale Ökologiestation geplant, deren vornehmliche Aufgabe es sei, Eingriffe in die Umwelt zu überwachen – und zukünftig Schädigungen zu verhindern.

Regionen In Kaluga entsteht Russlands erfolgreichstes Automobilcluster – VW will hier ab 2015 auch Motoren bauen

Der Gouverneur ruft Investoren – sie rufen ihn zurück Die Erklärung Ende August war eine Überraschung: VW wird in Kaluga Motoren bauen – eine qualitativ neue Ebene für die Produktion in Russland.

ZAHLEN

250

ELENA SCHIPILOWA FÜR RUSSLAND HEUTE

Millionen Euro investiert VW in ein neues Motorenwerk, das ab 2015 täglich bis zu 600 moderne TSI 1,6-LiterMotoren produzieren soll.

© GRIGRIJ SISOEV_RIA NOVOSTI

Der VW-Vorstandsvorsitzende Martin Winterkorn war extra in die russische Hauptstadt gekommen, um auf der Moskauer Motorshow öffentlichkeitswirksam die Neuigkeit zu präsentieren. Zusammen mit Anatolij Artamonow, dem Gouverneur des Gebiets Kaluga, setzte er seine Unterschrift unter einen Vertrag, demzufolge Volkswagen bis zum Jahr 2015 ein Motorenwerk neben seiner Autofabrik in der Stadt Kaluga bauen wird. 250 Millionen Euro investiert VW in das neue Werk, das ab 2015 täglich bis zu 600 moderne TSI 1,6-Liter-Motoren bauen soll.

VW-Werk Kaluga: Ab 2015 werden hier auch TSI 1,6-Liter-Motoren gebaut.

Qualitativ erreicht die Produktion damit ein neues Niveau: Seit 2007 produziert VW in der Stadt 200 Kilometer südlich von Moskau. Bisher wird der Großteil der Autoteile jedoch aus ausländi-

schen Werken angeliefert. Das Motorenwerk soll sowohl die VW-Fabrik in Kaluga als auch die GAZFabrik in Nischnij Nowgorod versorgen, wo bereits das VW-Modell Yeti zusammengebaut wird.

IN EIGENER SACHE INVESTITIONSFORUM

Volkswagen, so Winterkorn, wolle in Russland bis zum Jahr 2018 jährlich bis zu einer halben Million Autos verkaufen. Dazu werde man zusätzlich zu der bereits investierten Milliarde eine weitere Milliarde Euro in die russische Produktion stecken. In diesem Jahr plant der Konzern, in Russland 300 000 Pkws abzusetzen. Der Bau des Motorenwerks ist allerdings auch den vertraglichen Verpflichtungen geschuldet: Nach

einer staatlichen Verordnung müssen ab 2016 30 Prozent der in Russland gebauten Autos mit dort produzierten Motoren ausgestattet sein. Der Staat will damit die Produktion vor Ort erweitern. Für den Standort Kaluga ist der Bau des Werks ein weiterer Erfolg. Gerade erst feierte hier Conti nental sei n Richtfest: 240 Millionen Euro hat der deutsche Reifenhersteller in die neue Fabrik investiert. Neben Continental haben sich in dem Automobilcluster schon Peugeot, Magna und viele andere Hersteller angesiedelt. Neben den großzügigen steuerlichen Vergünstigungen ist den Investoren zufolge das größte Plus der Region der direkte Draht zu Anatolij Artamonow: Jeder Investor bekommt seine Handynummer, bei der kleinsten Reiberei hat er den Gouverneur persönlich am Apparat.

PETER URBAN, GENERAL MANAGER DPU INVESTMENT

Aufbruchsstimmung vor Olympia 2014 Vom 20. bis 23. September geht es auf dem Internationalen Investitionsforum in Sotschi bereits zum zehnten Mal um Investitionsprojekte im Süden Russlands. Mehr Info: www.forumkuban.com

Warum nehmen Sie am Investitionsforum Sotschi-2012 teil? Das Forum hat sich für uns als erfolgversprechendes Netzwerk erwiesen. Daher nehmen wir in diesem Jahr schon zum zweiten Mal teil. Welche Erwartungen verbinden Sie mit dem Forum dieses Jahr?

Russia Beyond the Headlines ist offizieller Medienpartner des Investitionsforums Sotschi 2012.

Ich wünsche mir, dass das Forum so erfolgreich wird wie im letzten Jahr und auch 2012 geprägt ist von herzlichen Begegnungen. Das Forum stellt eine hervorragende Plattform dar, die es ermöglicht, in einer lockeren Atmosphäre geschäftliche Angelegenheiten zu besprechen.

Welche Programmpunkte interessieren Sie beim diesjährigen Programm besonders? Für uns stehen besonders Themen aus dem Bereich der Energie mit dem Schwerpunkt erneuerbare Energien im Vordergrund. In Zusammenarbeit mit der Adminis-

tration der Region Krasnodar beabsichtigen wir, die Produktion von Solarmodulen aufzubauen. Die DPU Investment berät und entwickelt Projekte im Bereich der Energiewirtschaft.


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Thema des Monats

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IMMOBILIEN KAUFEN UND MIETEN MIETEN IST UNPOPULÄR, WER KANN, KAUFT – EIGENE VIER WÄNDE STEHEN IN RUSSLAND HOCH IM KURS

Die Wohnungsfrage ist seit jeher eine der drängendsten in Russland. Die Nachfrage ist viel größer als das Angebot. Speziell in Moskau, das wie ein Magnet die Menschen anzieht. ANDRÉ BALLIN

Preis bei 20 000 bis 35 000 Euro im Monat liegt“, sagt Ilja Plaksin von Penny Lane Realty.

ab und zieht um – in ein neues Abenteuer: eine heruntergekommene Bude, die der auswärtige Besitzer unter der Bedingung billig vermietet, dass Andrej sie renoviert und ihn bei seinen MoskauBesuchen unterkommen lässt. Auch dies keine Lösung auf Dauer.

Staat verschenkt Wohnung Wie können sich unter solchen Umständen Rentner mit einer Pension von 250 Euro eine Wohnung in Moskau leisten? Ganz einfach, sie gehört ihnen. „Der Staat hat mir meine Wohnung geschenkt“, erklärt Ljudmila Iwanowna, 68-jährige Rentnerin. In den 90er-Jahren wurde der Großteil der zu Sowjetzeiten gebauten Wohnungen privatisiert. Der freie Markt galt den Reformern als das höchste Ziel, und so wurde fleißig Staatseigentum verkauft, verscherbelt und verschenkt. Ziel war die Schaffung eines Immobilienmarkts. Dazu musste der Kreis der Besitzer wesentlich erweitert werden. Privatisiert wurden nicht nur Wohnungen, sondern sogar einzelne Zimmer, denn zu jener Zeit lebten noch immer viele Russen in sogenannten Kommunalkas, die sich von den Wohngemeinschaften heute im Wesentlichen dadurch unterscheiden, dass die Bewohner ihre Zimmer vom Staat zugewiesen bekamen und sich folglich ihre Nachbarn nicht

FÜR RUSSLAND HEUTE

Der Anruf holt Andrej im Urlaub morgens um fünf aus dem Bett. „Es tut mir leid“, erklärt die Vermieterin am Telefon. Ihr Sohn Nikolai sei überraschend aus der Haft entlassen worden und müsse nun unterkommen. Andrejs Wohnung werde gebraucht. Die Urlaubslaune ist hin, nichts wie zurück nach Moskau. Zwei Wochen Gnadenfrist hat Andrej bekommen; zwei Wochen, in denen er sich in seinem Zimmer einschließt, denn die Wohnung muss er nun mit Nikolai, dem amnestierten Betrüger, teilen. Es sind zwei lange Wochen, denn Nikolai feiert seine Entlassung ausgiebig mit alten Freunden und zufälligen Frauen von der Straße. Als Andrej schließlich eine neue Wohnung gefunden hat, ist Nikolai in rührseliger Stimmung: „Wenn du willst, kannst du bleiben, du störst mich nicht“, sagt er ihm. Doch Andrej winkt dankend

Kein Vertrag, keine Steuern Es sind solche Geschichten, die die Russen nach eigenen vier Wänden lechzen lassen. Mietverträge gibt es selten, denn die meisten Vermieter wollen keine Steuern zahlen. Speziell bei billigen Wohnungen sind die Mieter oft völlig rechtlos und können von einem Tag auf den anderen vor die Tür gesetzt oder mit saftigen Mietsteigerungen konfrontiert werden. Vor allem in Moskau ist Wohnen nicht billig. Die russische Hauptstadt zählt zu den teuersten Städten der Welt. Der Preis für die Einzimmerwohnung am Stadtrand beginnt bei 30000 Rubel (750 Euro) im Monat – und steigt jährlich um zehn Prozent. Wer es nobel liebt, braucht einen prall gefüllten Geldbeutel: „Hochwertige Wohnungen kosten ab 3000 Euro. Eine Obergrenze zu nennen ist in dem Segment schwer, auf dem Markt sind Objekte, deren

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EINE FESTE BURG IST MEINE KLEINE WOHNUNG Die 90er waren die Zeit der Privatisierungen. Der Markt galt den Reformern als das höchste Ziel, und so wurde fleißig Staatseigentum verkauft, darunter auch die staatlichen Wohnungen. Man hoffte, dass die Besitzer sich um den Erhalt ihrer Immobilien kümmern und so den Staat entlasten würden.

aussuchen konnten. Verbunden war die Privatisierung mit der Hoffnung, dass sich der vom Mieter zum Besitzer mutierte Bürger stärker um den Erhalt sei ner I m mobi l ie kümmern und so dem Staat Kosten ersparen würde. Die meisten Russen haben tatsächlich zugegriffen – bis zum 1. März 2013 müssen sich auch die letzten Unentschlossenen entscheiden, die bis heute als Mieter in ihrer Wohnung aus der Sowjetzeit leben. Dann endet die Frist für eine mögliche Privatisierung. Wie bei jeder Privatisierung gibt es Gewinner und Verlierer: Wer Glück hat, wohnt in Moskau, die Pechvögel leben in Magadan. Die Differenz ist gewaltig. Ein Quadratmeter in Moskau kostet im Schnitt 4000 Euro, in Magadan 830 Euro. Kostenlose Sozialwohnungen gibt es auch heute noch: Anspruch darauf haben aber nur wenige:

Russischer Immobilienmarkt verspricht hohe Renditen Mit russischen Immobilien seine Euros retten? Experten halten gerade den Moskauer Markt für lukrativ und zukunftssicher. Zur Freude der Investoren, zum Leidwesen der Bevölkerung.

Moskauer Immobilien Investoren zwischen 15 bis 20 Prozent im Jahr einbringen“, sagt Oleg Reptschenko vom Immobilienportal IRN.ru.

Diese Haltung decke sich mit den Ansprüchen der wachsenden Mittelschicht. Die legt Wert auf ein gepflegtes soziales Umfeld und funktionierende Infrastruktur – Schulen, Ärzte, Parkplätze. Der Trend greife auch auf die russischen Regionen über. In Omsk entwickelt Willen ein ganzes Stadtviertel unter besonderer Berücksichtigung der Nachhaltigkeit: Er verwendete hochwertige Materialien und ließ neben Grünanlagen ein Netz von Fahrradwegen anlegen.

Immobilienblase Sotschi FÜR RUSSLAND HEUTE

Eine Schande sei es, was auf dem russischen Markt für Wohnimmobilien vor sich gehe, entfuhr es Igor Schuwalow vor einigen Wochen auf dem Wirtschaftsforum in St. Petersburg. Wie könne es sein, so der Vizepremier, dass für viele Russen die eigenen vier Wände unerschwinglich blieben, während Bauherren und Investoren riesige Gewinne einstrichen? Für den Durchschnittsbürger lässt der Immobilienmarkt in der Tat wenig Raum zum Träumen. 53 Jahre müsse ein Moskauer auf eine Eigentumswohnung sparen, errechnete die Zeitung Argumenty i Fakty. In den übrigen Großstädten seien es immer noch 20 bis 30 Jahre. Auf zahlungskräftige Käufer hingegen warten satte Renditen: „Während in Europa die Ert räge gewöh n l ich bei z wei bis drei Prozent liegen, können

Wegen der großen Nachfrage könne man auch langfristig von einer Wertsteigerung von mindestens zehn Prozent ausgehen, dazu kämen die laufenden Mieteinnahmen. „Auch bei einer Wirtschaftsflaute ist nicht zu befürchten, dass die Preise allzu stark fallen. Selbst nach der Finanzkrise 2008 haben sie nur um 30 Prozent nachgegeben – und das bei einem überhitzten Markt“, sagt Reptschenko. Im Durchschnitt kostet der Quadratmeter in der Hauptstadt heute zwischen 2500 und 4500 Euro. Damit ist der Höchststand von Ende 2008 fast wieder erreicht. „Eine Immobilienblase“, so Reptschenko, „ist dies jedoch nicht.“ Hingegen sei etwa in Sotschi ein massives Überangebot entstanden. Selbst im Vorfeld der Winterolympiade 2014 stiegen die Preise dort nicht mehr, und nach den Spielen werde es schwer, Käufer zu finden.

Qualität dank Mittelschicht

ZAHLEN

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BOJAN KRSTULOVIC

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Jahre muss ein durchschnittlicher Moskauer laut der Zeitung Argumenty i Fakty auf seine eigene Wohnung sparen.

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Prozent Gewinn kann eine Moskauer Immobilie ihrem Besitzer einbringen, wenn er sie nach einem Jahr wieder verkauft.

Vorstadtsiedlungen und „Gated Communities“ liegen im Trend.

Auch der Architekt Jürgen Willen sieht den russischen Immobilienmarkt wieder im grünen Bereich. Der Deutsche baut derzeit zwei Villen westlich von Moskau an der Millionärsmeile Rubljowka. In der Entwurfsphase ist au-

ßerdem eine Wohnanlage nahe des sogenannten Deutschen Dorfs, wo Diplomaten und Geschäftsleute leben. „In der Krise sind die Bauherren vorsichtiger geworden. Es zählt nicht mehr nur die Masse, sondern Qualität“, so Willen.

Trotz der Attraktivität von Wohnimmobilien müssten ausländische Investoren wohlüberlegt handeln, warnt Jelena Jurgenewa vom Immobilienberater Knight Frank. Beim Weiterverkauf der Immobilie fällt eine Steuer von 30 Prozent an – erst wenn ihr Wert also um mehr als ein Drittel gestiegen ist, ist das Geschäft auch wirklich lohnend. Außerdem wird der Handel mit Immobilien in Rubel abgewickelt: Da kann es wegen der unterschiedlichen Kurse beim An- und Verkauf zu empfi ndlichen Verlusten kommen.


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KOMMENTAR

Mein schönes Betongold Bernd Hallier WISSENSCHAFTLER

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Moskau bei Nacht: die Luxusimmobilie „Sperlingsberge“ im Westen der Stadt

Großfamilien, Weltk r ieg s t e i l ne h me r, Waisen und manche Behinderte. Als bedürftig gelten auch die Bewohner von baufälligen Gebäu-

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mehr muss jährlich der Mosseine Mietwohnung hinleQuadratmeter Wohnfläche rzeit 4000 Euro.

den, die vor dem Abriss stehen. Die bürokratischen Hürden in so einem Fall sind freilich hoch.

Eine lange Wartezeit Pro Jahr werden in Moskau 10 000 bedürftige Familien mit einer Sozialwohnung versorgt. Derzeit warten aber knapp 180000 Familien auf eine Zuteilung, die Wartezeit beträgt 15 bis 20 Jahre. Für Rollstuhlfahrer wurden in den letzten Jahren gerade einmal einige hundert Wohnungen fertiggestellt. Also bleibt den meisten Russen nur der Kauf. In Moskau ist das Pflaster besonders teuer. Trotzdem sind LORI/LEGION MEDIA

Wohnungen äußerst begehrt. Sie gelten als sichere Wertanlage mit satter Rendite. Zum einen, weil der Quadratmeterpreis in den letzten Jahren beständig stieg, zum anderen, weil dementsprechend hohe Mieten monatlich gute Gewinne abwerfen. Während der Finanzkrise 2009 gab der Markt zeitweise deutlich nach. Sollte der Ölpreis auf 60 bis 70 USD pro Barrel fallen, sei auch in diesem Jahr ein Preisrutsch von 15 bis 25 Prozent möglich, prognostiziert der Leiter des Immobilienportals IRN.ru Oleg Reptschenko. Doch derzeit ist die Gefahr gering. Interessanter sind die möglichen Auswirkungen der Stadterweiterung Moskaus. Auf dem neuen Gebiet sollen Wohnungen für etwa zwei Millionen Menschen entstehen. Durch das steigende Angebot könnte der Preis unter Druck geraten. Doch Experten meinen, dass der anhaltende Zuzug in die russische Hauptstadt diese Steigerung mehr als ausgleicht.

Die Russen lieben ihre Datscha. Viele besitzen eine, noch mehr wollen sie. Im Gartenhäuschen erholen sie sich und bessern mit Blumen, Gurken und Kartoffeln ihre Haushaltskasse auf. ANDRÉ BALLIN FÜR RUSSLAND HEUTE

Schon zu Sowjetzeiten war die Datscha, das Häuschen im Grünen, der Traum vieler Russen. Sie verbrachten dor t auch ih re Ferien – wie übrigens jedes Wochenende –, denn einen Auslandsaufenthalt konnte sich kaum einer leisten. Der Traum hatte enge Grenzen und klare Konturen. „Schest sotok“, also 600 Quadratmeter, maß das Standardgrundstück, oft waren sogar Anzahl und Standort der Apfelbäume und Obststräucher reguliert. Denn die Datscha hatte nicht dem bourgeoisen Vergnügen ihrer Besitzer zu dienen, sondern der sozialistischen Planerfüllung bei der Produktion von Obst und Gemüse. Trotz siegreicher Ernteschlachten blieb der

Sieg des Kommunismus aus, und die Sowjetunion verabschiedete sich ins Reich der Geschichte. Die Vorliebe der Menschen für ihre Datscha blieb. 25 Prozent der Stadtbewohner besitzen ein Haus im Grünen, in Moskau sogar jeder dritte Haushalt. Von Anfang Mai bis Ende September sind die Nahverkehrszüge am Wochenende so eng bestückt wie die Gurkengläser der „Datschniki“, auf den Ausfallstraßen ist am Freitagabend das Gedränge noch fürchterlicher als zu Stoßzeiten unter der Woche. Mit Hupen und Fluchen geht es hinaus in die ländliche Idylle.

Datscha, die Versorgerin Dann ist erst einmal Arbeit auf dem kleinen Stückchen Erde vor der Stadt angesagt. Gerade für Rentner sind die Sommermonate eine gute Gelegenheit, ihr Budget mit der eigenen Ernte zu entlasten und sich durch den Verkauf von Gurken, Zwiebeln und Blumen sogar noch ein kleines Zubrot zu verdienen. Andere erho-

ITAR-TASS

600 Quadratmeter für den Hobbygärtner

Die Lieblingsimmobilie der Russen: „Datschniki“ in freier Wildbahn

len sich auf ihrer Datscha ganz einfach bei Schaschlik und Banja (der russischen Sauna) vom Großstadtstress. Heute sind die strengen Auflagen längst hinfällig geworden: Größe, Form und Ausgestaltung des Grundstücks hängen wesentlich vom Geldbeutel ab. Im Durchschnitt zahlt man im Gebiet Moskau für 1000 Quadratmeter umgerechnet 55 000 Euro. Freilich sagt das wenig über den tatsächlichen Preis einer Datscha aus. Je näher der eigene Rückzugsort am pulsierenden Stadtkern, desto teurer das Vergnügen; liegt er dann

noch an einem romantischen See oder Fluss, ist er unbezahlbar. Und so weichen viele ehemalige Datschas nahe Moskau modernen Prachtbauten mit hohem Zaun und Wachmann vor dem Tor. Es sind die Vorstadtvillen der Neuen Russen. Der Verkauf von Grundstücken und sogenannten Cottages um Moskau herum ist für viele Immobilienmakler zu einer Goldgrube geworden. Aber auch die ganz klassische Datscha steht weiterhin hoch im Kurs: Immer noch verbringt ein Viertel aller Moskauer seine Ferien am liebsten dort auf dem Land.

ährend der Sowjetzeit wurden Wohnungen vom Staat zentral zugeteilt. Die Vergabe erfolgte nicht immer nach objektiven Kriterien, sondern vielfach willkürlich. Auch die Definition von „Wohnraum“ differiert von westlichen Vorstellungen: Es gibt auch heute noch viele Wohnungen, die eine Gemeinschaftsküche oder ein Gemeinschaftsbad haben. 1990 betrug in St. Petersburg die durchschnittliche Wohnfläche pro Person in jenen Einheiten ganze zehn Quadratmeter. Die Privatisierung der Wohnungen mit dem Ende der Sowjetunion war ein wichtiger Schritt, um bei den Bürgern ein Gefühl für Besitz und Verantwortung zu entwickeln und dem Staat hohe Renovierungskosten zu ersparen. Taktisch richtig war auch der so erreichte Transfer des „Datscha-Gefühls“ auf die heimische Wohnung. Früher war die Zuflucht der Russen aus dem Wohnkollektiv der Stadt die Datscha auf dem Lande. Hier blühte die Individualität und das Großfamilienambiente, hier verbrachte man den Sommer. Dieses Besitzdenken hält nunmehr Einzug in die Stadt – und wenn man Penthäuser in Moskau oder St. Petersburg mit Blick auf die Moskwa oder die Newa sieht, so spiegelt das auch ein neues Statusdenken in der Wohnkultur wider. Ein dritter Aspekt der Wohnungsprivatisierung ist die Freisetzung von Einkommen für den Konsum. In Deutschland wird darüber geklagt, dass für einkommensschwache Menschen die Mietkosten bis zu 50 Prozent des Einkommens betragen. In Russland haben die staatlichen „Verschenkaktionen“ von Wohnungen der 90er-Jahre Kaufkraft für den Konsum freigesetzt: eine ganz wichtige Stimulanz für die Entwicklung von Angebot und Nachfrage. Heute dominiert jedoch ein vierter Faktor: das Misstrauen der Russen in den Rubel. Im kurzfristigen Konsum wie in der langfristigen Immobilienanlage zeigt sich eine Flucht aus der Normalität. Immobilien sind „Betongold“. Im Handel, etwa bei IKEA, ist eine russlandspezifische Strategie zu erkennen. Aus Mangel an modernen Verkaufsstätten ist der Einrichtungskonzern in Russland – weltweit einzigartig – zu einem Immobilien-Developer geworden. Er entwickelt und betreibt Shopping-Center von Moskau bis in den Ural in einer Größenordnung von 70 000 bis 200 000 Quadratmetern. Kooperationspartner sind Auchan-Warenhäuser, Do-it-yourself-Märkte wie OBI und an die 200 russische Fachgeschäfte. Prof. Dr. Bernd Hallier ist Präsident der European Retail Academy und Experte im Bereich Städtepar tnerschaf te n im Deutsch-Russischen Forum e.V.


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Die Stadt

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Unterwelten Erkundungstouren mit Moskauer Unterweltforschern führen unter anderem zu Stalins Kommandobunker Schrecklichen soll hier irgendwo lagern“, erzählt Digger Alexej. „Das Phänomen der Digger tauchte in Moskau vor ungefähr zehn Jahren auf“, erklärt Sergej Nikitin, Historiker an der Staatlichen Moskauer Universität. „Die Menschen lechzen nach Adrenalin, sie werden magisch vom Moskauer Untergrund angezogen. Zum Beispiel die Moskauer U-Bahn: Sie ist ein richtiggehender Palast, ein Reich des Lichts unter der Erde. Und sie weckt immer wieder die Neugier der Leute.“

Unterirdisch

Faszinierende Kanalisation

ANNA ARINNA/SELLYOURPHOTO

Feuchte Dunkelheit und schaurige Gewölbe: Die Digger-Szene liebt Moskau unter Tage, wo unerforschte Tunnel und viel Adrenalin lauern.

entfernt. Das Stahlbetonlabyrinth erstreckt sich über 18 Etagen, die unterste liegt auf 65 Metern – unter der Hauptstadt. Die Schritte hallen angsteinflößend von den nackten Wänden zurück, während man die dunklen Gänge zur Kommandozentrale und zum Ruheraum des Generalissimus Stalin entlangläuft. Wenn nebenan eine U-Bahn vorbeidonnert, erzittern die Lichtkegel der Taschenlampen. Unser Guide erzählt von archaischen Telefonanlagen und Checkpoints, in denen noch heute Militärunifor-

Unter der Hauptstadt liegt ein weitverzweigtes Netz aus unterirdischen Schutzbunkern und Gängen. „Digger“ suchen hier den Kick zwischen Fantasie und Wirklichkeit. LUCIA BELLINELLO FÜR RUSSLAND HEUTE

Durch den muffigen Geruch von Schimmel und Feuchtigkeit meint man sie zu spüren – die Geister der atomaren Gefahr und des Kalten Krieges. Bunker 42, gleich unter dem Taganka-Platz, liegt keine drei Kilometer vom Kreml

men lagern und Gasmasken von den Wänden baumeln – Zeugen einer vergangenen Zeit. Hinter der hermetisch verschließbaren, vierzig Zentimeter dicken Stahltür eröffnet sich das von Stalin geschaffene Tunnelsystem, das auch unter Chruschtschow als Bollwerk des Kalten Krieges diente – bis es 2006 in eine Touristenattraktion umgewandelt wurde. Hier liegt auch das Aufmarschgebiet der Digger – Hobbyarchäologen, die durch Abwasserrohre in ihre schöne neue Unterwelt abtauchen. Etwa 3000 sollen es sein,

die diesem in Moskau derzeit angesagten Hobby nachgehen. Genug Spielraum haben sie: Der StalinBunker ist nur einer von vierzig in Moskau und als Einziger für Besucher freigegeben.

Tunnel-Archäologen Unter dem Asphalt gibt es aber noch mehr zu entdecken: ein ausgedehntes Netz von Wartungsgängen und Tunneln, die direkt zum Kreml führen sollen. „Es heißt, dass es unter Tage sogar eine geheime U-Bahnlinie gibt, und die verschollene Bibliothek Iwans des

Seine erste Tour unternahm Alexej 1995: „Ich war mit Freunden am Stadtrand unterwegs, wir krochen durch einen Kanalisationsschacht unter die Erde. Das war unglaublich faszinierend. Die Dunkelheit, die Stille, die Erkenntnis, dass du als Erster seit Jahrzehnten dort langgehst.“ Neben Alexej pafft der dreißigjährige Ljoscha in Militäruniform an seiner Pfeife. „Was nicht alles für Unsinn über den Untergrund geschrieben wird“, sagt er. „Um zu verstehen, was wahr ist, muss man sich das selbst ansehen.“ Er sei schon vor Jahren über die U-Bahntunnel bis zum Fundament des Bolschoi-Theaters vorgestoßen. Aber die Grenze zwischen Wahrheit und Dichung ist bei Diggern fließend. Ljoscha berichtet, dass immer wieder Menschen in der Tiefe ihr Leben lassen. Die größte Herausforderung bestehe aber darin, nicht der Polizei in die Hände zu fallen – „Diggertum“ gilt als Ordnungswidrigkeit und wird mit 1500 Rubeln (40 Euro) geahndet.

Literatur Dmitry Glukhovsky dient das Moskauer Tunnelsystem als Handlungsort seiner Endzeitromane

Den Moskauer Autor inspirierten die Unterwelten seiner Heimatstadt zu seinem Science-FictionRoman „Metro 2033“. Russland HEUTE erzählt er von der Entstehungsgeschichte.

Nur die Spitze des Eisbergs

PRESSEBILD

Endzeitstimmung in Moskau – gut gerüstet in die Apokalypse

tentümern geworden: Jedes hat eine eigene Ideologie – Kommunismus, Nationalismus oder Demokratie – und eine eigene Religion. Alle leben im ständigen Konflikt. Eine ganze Welt reduziert auf die Größe der Metro.

DMITRY GLUKHOVSKY FÜR RUSSLAND HEUTE

Glukhovksy in der Metro. Sein Apokalypseroman „Metro 2033“ erschien 2009 bei Heyne.

PRESSEBILD

Die Moskauer Untergrundbahn ist nicht zufällig Schauplatz von „Metro 2033“, meinem antiutopischen Roman über das Überleben der Menschheit nach dem Dritten Weltkrieg. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg begann man mit dem Bau der Metro, doch der Krieg führte zu Änderungen der Konstruktionspläne. Die Metrostationen wurden als Luftschutzbunker genutzt, und Zigtausende von Moskauern konnten sich hier vor den deutschen Bombern retten. Nach dem Krieg baute man die Metro in einer nach europäischen Maßstäben enormen Tiefe – manche Stationen liegen 100 Meter unter der Oberfläche. Die Metro ist ein sogenanntes Objekt doppelter Verwendung: Offiziell war sie Teil des Verkehrsnetzes sowie eine der größten und schönsten U-Bahnen weltweit, ein sowjetisches Weltwunder. In Wirklichkeit war sie aber einer

Spiel mit dem Feuer: Glukhovskys Roman als Videospielumsetzung

der gewaltigsten Luftschutzbunker der Erde – und ist es heute noch. Während des Kalten Krieges, aus Angst vor atomarer Zerstörung, wurden die Metrostationen zu Atombunkern umgebaut. Jede wurde mit hermetischen Schleusen ausgestattet, welche die Station im Fall eines Angriffs innerhalb von sechs Minuten luftdicht versiegeln konnten. Viele Stationen bekamen eigene Luftfilteran-

lagen, in den Tunneln wurden Lebensmittel- und Medikamentenvorräte angelegt, mancherorts sogar Brunnen gegraben. Als ich als Kind erfuhr, dass „meine“ Metro, mit der ich tagtäglich zur Schule fuhr, eigentlich keine U-Bahn, sondern ein grandioser Bunker ist, ließ ich mich von der Idee inspirieren. Ich wollte einen Endzeitroman darüber schreiben, wie einige Menschen zwei Jahrzehnte nach dem Dritten Welt-

krieg in den Katakomben der Moskauer Metro überleben. Sie können ihr Schutzhabitat nicht verlassen, denn die Welt draußen liegt in Schutt und Asche. Verbindungen zu anderen Städten gibt es nicht mehr. Die Moskauer vermuten, dass die restliche Menschheit ausradiert wurde. Die Zivilisation ist erloschen, die Moskauer Metro mit ihren Stationen, Bunkern und unterirdischen Palästen könnte zum letzten Bollwerk der Menschheit und seiner Kultur geworden sein. Ein politisches System gibt es nicht mehr, die U-Bahnstationen sind zu karikiert feudalen Fürs-

Bei meiner Recherche erfuhr ich die unglaublichsten Dinge über die Moskauer Metro. Die 185 Stationen und die nahezu 300 Kilometer langen Tunnel sind nur die Spitze des unterirdischen Eisbergs. Neben den U-Bahnstationen – zuweilen nur mehrere Meter hinter ihren Mauern – verbergen sich, für die Millionen Passagiere unbekannt und unsichtbar, über 200 Militär- und Regierungsbunker. Damit nicht genug: Parallel zum gewöhnlichen Metronetz wurde ein U-Bahnsystem für die herrschende Elite gebaut. Unter allen wichtigen Staatsgebäuden, Ministerien und Residenzen entstanden geheime Stationen. Durch ein separates Tunnelnetz miteinander verbunden, bilden sie die sogenannte Metro 2. Diese wurde speziell zu dem Zweck geplant, die sowjetische Elite im Falle eines Dritten Weltkriegs zu evakuieren – die Spitze der Geheimdienste, die Armeeführung sowie die führenden Wissenschaftler. Die Infrastruktur existiert bis heute. Der Dritte Weltkrieg fand nicht statt. Noch nicht. Doch keine Stadt ist besser für die Apokalypse gerüstet als Moskau.


Reisen

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MORITZ GATHMANN

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Tour Mit dem Fahrrad durch die Gebiete Kaluga und Tula

Auf zwei Rädern in Tolstois Fußstapfen

© RIA NOVOSTI

Hoch zu Ross: Graf Leo Tolstoi in seinem Anwesen in Jasnaja Poljana

Zwischen Melonen aus Astrachan und Schlaglöchern aus Tula: Fahrradfahren in Russland mag dem Freude machen, der nicht den Bodenseeradweg erwartet. MORITZ GATHMANN RUSSLAND HEUTE

Laut tutet es von hinten, schon rauscht ein Kamaz-Laster vorbei. Hat er Kies geladen, Melonen aus Astrachan oder Trauben aus Moldawien? Keine Zeit zum Nachdenken: Vorne kommt der nächste Hügel und hinten der nächste Lastwagen. Wir sind auf der Simferopolsker Chaussee, der alten Straße, die von Moskau auf die Krim führt. Nach einer Woche im Sattel ist es die schlechteste Variante für Radfahrer: zweispurig, von Lastwagen befahren, zum Ausweichen nur ein Kiesbett. Mit drei Fahrrädern, darauf ein russischer Deutscher, ein Berliner und ein Freund aus Kaluga, sind wir auf dem Weg von Tula an den Fluss Oka. 350 Kilometer haben wir hinter uns, „auf den Spuren Tolstois“ sind wir am Ende unserer Tour angelangt. Lew Tolstoi war ein rastloser Mensch: Von seinem Landgut Jasnaja Poljana in der Nähe von Tula wanderte er des Öfteren 170 Kilometer bis nach Moskau, gerne besuchte er das Kloster Optina Pustyn im Nachbargouvernement Kaluga, um mit den Mönchen sein

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schwieriges Verhältnis zu Gott zu erörtern. Optina Pustyn ist, aus Kaluga kommend, unser erstes Ziel: Allerdings macht das Kloster, das von seinem Mythos lebt, nach welchem es vor der Revolution ein Quell der Spiritualität war, heute einen eher „unheiligen“ Eindruck. Vor dem Eingang parken Busse, ein ständiges Kommen und Gehen prägt die Atmosphäre, im Klosterspeisesaal wurden jüngst die Preisschilder für die Kaviarbrötchen ausgetauscht: Nicht mehr „Preis“ steht dort nun, sondern „Spende“ über 70 Rubel. Eine ganz eigentümliche Stimmung herrscht dagegen im Frauenkloster Schamardino: Hierher, wo seine Schwester als Nonne lebte, kam Tolstoi auf seiner letzten Flucht. Einige Kilometer von Optina Pustyn entfernt, grüßen die Klostermauern aus rotem Backstein von einem idyllischen Hügel, an dessen Fuß zwischen Buchen und Birken kalte, klare Quellen entspringen. Rund um die Quellen sind Holzhäuschen gebaut. An diesem warmen Sommertag stehen Besucher Schlange, um im Halbdunkel der Hütte ein Bad im kalten Wasser zu nehmen. Von drinnen klingt aufgeregtes Geschnatter, draußen scheinen die Russen, die nicht dafür bekannt sind, gerne mit Unbekannten zu sprechen, von der positiven Kraft des Ortes beseelt: Es herrscht eine ausgelassene

Zwei Jahre Lagerhaft für Pussy Riot - wie gerecht ist dieses Urteil? Sagen Sie uns die Meinung. facebook.com/ RusslandHeute

Das Kloster Schamardino: Hier lebte Marie Tolstoi als Nonne.

Fahrräder

Unterkunft

Essen & Trinken

Mit dem eigenen Rad und mit genügend Schläuchen und Speichen anreisen – außerhalb von Städten wie Kaluga oder Tula wird es schwierig mit Ersatzteilen. Vorsicht: Mit Nabenschaltungen kennt sich in Russland kaum jemand aus.

Zelten kann man in Russland fast überall. Einzige Einschränkung: nicht zu nah an einer Siedlung, weil betrunkene Dorfjugend zu Besuch kommen kann. Im besten Fall endet ein solches Treffen mit einem gemeinsamen Wodkagelage.

Kleine gemütliche Dorfgaststätten wie in Deutschland sollte man nicht erwarten. Dafür gibt es aber Supermärkte in jeder kleineren Stadt. Und einen ordentlichen Kaffee bekommt man inzwischen an fast jeder Tankstelle.

Stimmung. Von einem Ofen auf dem Klostergelände kommt der Geruch getrockneter Äpfel: Die Nonnen bereiten sich auf den langen Winter und die Fastenzeit vor. Am nächsten Tag verlassen wir das Gebiet Kaluga. Es geht durch herrlich duftende Blumenwiesen, an verfallenen Kolchosen und

Metall auf den Abtransport. Die Fabriken sind verrammelt, an der Karl-Marx-Straße stapeln sich Müllhaufen. Trotz der 14 000 Einwohner suchen wir eine geschlagene Stunde, bis wir einen Ort finden, an dem wir essen können. Das über 850 Jahre alte Beljow trägt die schwere Last einer „Sackgassenstadt“: Der Weg in die Gebietshauptstadt Tula ist weit und schlecht asphaltiert, jener ins Gebiet Kaluga unbefahrbar. Schnell suchen wir das Weite: Warmer abendlicher Rückenwind treibt uns auf der Landstraße nach Tula, Pappeln auf beiden Seiten spenden Schatten. Die Straße führt hier nicht an den Flussläufen entlang, sondern über Hügel: In den Niederungen hat das Eis über den Winter den Asphalt gesprengt, und Straßenarbeiter haben dort auf einer Länge von 20 Metern die oberen Zentimeter abgetragen – gefährliche Fallen für Radfahrer, insbesondere wenn man mit 60 Sachen vom Hügel herunterbraust. Gegen Abend errei-

chen wir Tula und kämpfen uns mit letzter Kraft bis Jasnaja Poljana, das einige ernsthafte Hügel außerhalb der Stadt liegt. Wer als Einstimmung auf Jasnaja Poljana, übersetzt „Helle Lichtung“, Sofja Tolstajas Beichte „Eine Frage der Schuld“ liest, wird hier auf langen Spaziergängen die Pappelallee wiedererkennen, die Pferdeställe, die Wohnhäuser des Gesindes und der Familie Tolstoi selbst. Hinten im Park liegt im Schatten der Bäume ein unscheinbarer, von Gras überwucherter Hügel: das Grab des Dichters. In Jasnaja Poljana schrieb Tolstoi „Krieg und Frieden“, hier empfing er seine Verehrer aus der ganzen Welt, hier stritt er mit seiner Frau, hier begann seine letzte Flucht, die mit seinem Tod an einer Bahnstation in Südrussland endete. Für uns endet die Reise ebenfalls mit einer Zugfahrt, allerdings etwas angenehmer: Von der Stadt Aleksin an der Oka geht es zurück nach Kaluga.

Ins Frauenkloster Schamardino kam Tolstoi auf seiner letzten Flucht – hier lebte seine Schwester als Nonne. friedlichen kleinen Dörfern vorbei. Die Straße ist mal Feldweg, mal kämpfen wir uns durch Kies, dann gibt es plötzlich wieder Asphalt. Ein System ist nicht zu erkennen. Autos fahren hier kaum, und wir genießen die Freiheit. Die Stadt Beljow im Gebiet Tula schockiert: Links der löchrigen Einfallstraße rauchen Müllkippen, rechts wartet gesammeltes

hört…

Radio

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Meinung

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SIE PFEIFEN AUF DIE AUSLANDSMEINUNG Wladimir Posner JOURNALIST

NATALIJA MICHAILENKO

W

orin besteht das Vergehen der Gruppe Рussy Riot? Darin, dass Nadjeschda Tolokonnikowa, Jekaterina Samuzewitsch und Maria Aljochina in der Christ-Erlöser-Kirche ein „Punkgebet“ vorführten, in dem sie Russland dazu aufforderten, sich Wladimir Putins zu entledigen, was einem politischen Protest gleichkam. Es war, unverhohlen gesagt, ein unschöner Akt – nicht wegen der Handlung selbst, sondern wegen der Wahl des Schauplatzes und der Methode. Vor Gericht sagten die Frauen aus, dass sie weder die Russisch-Orthodoxe Kirche noch die Gläubigen hatten beleidigen wollen. Meiner Meinung nach können nur hirnlose oder unaufrichtige Menschen so etwas behaupten, denn es gibt nicht den geringsten Zweifel daran, dass eine solche Aktion beleidigend für die Gläubigen ist. Das sage ich als Atheist und Gegner der Orthodoxen Kirche. Die Richterin Marina Syrowa gab an, sie habe keinen politischen Kontext in dem Punkgebet erkennen können. Auch für diese Aussage muss man meiner Meinung nach entweder hirnlos oder unaufrichtig sein. Die Hauptsache ist jedoch ein starkes Gefühl des Déjà-vu. Man erinnere sich: Was war das Vergehen des genialen Dichters und Nobelpreisträgers Joseph Brods-

Es geht um die geringschätzige Einstellung der Behörden zur demokratischen öffentlichen Meinung im Ausland. ky? Die Tatsache, dass er nicht die „richtigen“ Gedichte schrieb, wofür er des Schmarotzertums angeklagt, verurteilt und außer Landes verwiesen wurde. Die ganze demokratische Welt protestierte. Und dann? Nichts. Zumal das sowjetische Volk den antisowjetischen Menschen und Speichellecker des Westens Brodsky verdammte, obgleich niemand seine

Gedichte, die ja nicht gedruckt wurden, gelesen hatte. Was war das Vergehen des großen Wissenschaftlers, des dreifachen Helden der sozialistischen Arbeit und, wenn man will, des Vaters der Wasserstoffbombe Andrei Dmitrijewitsch Sacharow? Die Tatsache, dass er die Politik der KPdSU und des Sowjetstaats öffentlich verurteilte. Dafür wurde er zur Verbannung in die Stadt Gorki geschickt. Dagegen protestierte die ganze demokratische Welt. Und dann? Nichts. Man schickte ihn nach Gorki und damit basta. Zumal das sowjetische Volk ... na, und so weiter. Was war das Vergehen des großen russischen Dichters und Nobelpreisträgers Boris Pasternak? Was war das

Vergehen des genialen Musikers und großen Cellisten Mstislaw Rostropowitsch? Wenn jemand den Eindruck hat, dass ich die Mitglieder von Pussy Riot mit den oben genannten Genies vergleiche, dann irrt er. In Wirklichkeit geht es mir um die absolut geringschätzige Einstellung der russischen Behörden zur demokratischen öffentlichen Meinung im Ausland. Denn die ganze demokratische Welt protestiert gegen das, was mit den Mitgliedern von Pussy Riot geschah, geschieht und geschehen wird. Und dann? Nichts. Zumal das Außenministerium der Russischen Föderation Hinweise darauf für überzeugend erachtet, dass die Strafgesetzgebung Deutschlands und Österreichs Paragrafen enthalte, nach denen man für ähnliche Aktionen wie die von Pussy Riot zu einer Haft- oder Geldstrafe verurteilt werden könne. Und die Mehrheit der russischen Bürger vertritt den Standpunkt, dass man die Mädchen von Pussy Riot einsperren müsse. Unlängst, als ich in London während der Olympischen Spiele einige Wettkämpfe besuchte, empfand ich es als äußerst unangenehm, dass das Publikum laut und manchmal leidenschaftlich Partei gegen das russische Team ergriff. Das fiel besonders in den Mannschaftssportarten wie Basketball und Volleyball auf. Allerdings wandte man sich nicht gegen bestimmte Sportler, sondern, meiner Meinung nach, gegen das Land. Ja, das heutige Russland ist in der demokratischen Welt nicht beliebt. Aber wir pfeifen darauf. Stimmt’s? Wladimir Posner, geboren 1934 in Paris und aufgewachsen in New York, Berlin und Moskau, gehört zu den angesehensten russischen Fernsehjournalisten.

FACEBOOK KÖCHELT NICHT MEHR Ilja Klischin JOURNALIST

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as chinesische Sprichwort „Wenn drei Leute einen Tiger gesehen haben wollen, glauben es bald alle!“ kann als Devise für die Verbreitung von Informationen im Internet gelten. Der Kern der Aussage ist, dass es kaum überzeugt, wenn ein Einziger erzählt, er habe ein Raubtier durch die Stadt streifen sehen. Berichten jedoch drei Personen davon, kann dies durchaus zu einer Änderung der Meinung führen. Auf diese Weise lässt sich das Phänomen des Dezembers 2011 erklären. Damals hatten alle Internetnutzer in Moskau plötzlich das Gefühl, eine friedliche Revolution sei im Anmarsch. Der Aufruf „Für ehrliche Wahlen“ entstand

aus der Situation heraus und wurde ohne Angabe eines Autors verbreitet – dafür jedoch mit rasanter Geschwindigkeit. Die Anzahl von Posts und Tweets verwandelte sich sofort in eine qualitative Aussage, in die für einen unbeteiligten Beobachter urplötzliche Aktivierung von Bürgern, die der Politik zuvor gleichgültig gegenübergestanden hatten. Ein organischer Massenprotest entsteht, wenn er von Emotionen aus- und dann zu Worten übergeht, und nicht umgekehrt. Kurzum, je mehr Organisationskomitees es gibt, desto mehr Betrug ist im Spiel. Kolumnen, Videobotschaften bekannter Persönlichkeiten, Nachrichten in den sozialen Netzwerken – nach den Ereignissen vom Dezember erwiesen sie sich immer häufiger lediglich als Imitation des Geistes, der tatsächlich im De-

Sagen Sie uns die Meinung: leserbriefe@russland-heute.de

Für alle in Russland HEUTE veröffentlichten Kommentare, Meinungen und Zeichnungen sind ausschließlich ihre Autoren verantwortlich. Diese Beiträge stellen nicht die Meinung der Redaktion dar.

zember geherrscht hatte. Das moralische Kapital war bald aufgebraucht. Für mich, der beteiligt war, ist es bedauerlich, dies jetzt zu verstehen. Die übertriebene Positionierung jeder folgenden Ak-

Es geht nicht darum, dass alle einen Link weiterleiten, sondern dass dieser Link mit Inhalt gefüllt wird. tion als entscheidende Schlacht zwischen Gut und Böse musste zwangsläufig die Aktivisten ausbrennen. Müde und halbherzig schleppten sie sich zur nächsten Demo. Wozu so etwas führen kann, wurde bei der letzten Versammlung am 19. August vor dem

Weißen Haus deutlich, als sich alle langweilten: die Politiker, die Journalisten, die Protestierenden und auch die Polizisten der OMON-Sondereinheiten. Die ausgeleierte Schallplatte „Man kann keinesfalls nicht hingehen, weil’s nicht anders geht!“ funktioniert nicht mehr. Aus dieser Kanone wurde auf Spatzen geschossen, und das Wundertöpfchen „Facebook“ hat aufgehört zu köcheln. Schließlich geht es nicht darum, dass alle einen Link weiterleiten, sondern dass dieser Link mit konkretem Inhalt gefüllt wird. Multipliziert man eine Null mit einer Million, bleibt trotzdem nur eine Null. Der Autor organisierte die Winterdemonstrationen mit. Dieser Beitrag erschien in der Zeitung Vedomosti

Russland HEUTE: Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint als Beilage in der Süddeutschen Zeitung. Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond The Headlines, Moskau, verantwortlich. Rossijskaja Gaseta Verlag, Ul. Prawdy 24 Str. 4, 125993 Moskau, Russische Föderation Tel. +7 495 775-3114 Fax +7 495 988-9213 E-mail redaktion@russland-heute.de Herausgeber: Jewgenij Abow; Chefredakteur deutsche Ausgabe: Alexej Knelz; Gastredakteur: Moritz Gathmann; Redaktionsassistenz: Jekaterina Iwanowa; Anzeigen: Julia Golikova, Gesamtanzeigenleiterin, +7 495 775-3114

REFLEKTIERT

Päpste, Punks und Pussies Der Ulenspiegel ZEITZEUGE

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enn in Deutschland ein Satiremagazin dem Papst peinliche Flecken auf die Soutane retuschiert, führt das bestenfalls zu Empörungsroutine. Natürlich regen sich ein paar Leute auf, und der Vatikan hat der Redaktion den Gefallen getan, zu klagen. Das ist gut für die Auflage. Das Ende ist absehbar: eine Geldstrafe, vielleicht ein Freispruch, weil Satire alles darf. Die Deutschen diskutieren mit Freunden darüber, mit Kopfschütteln oder Schmunzeln, aber das war’s. Ganz anders die Haltung der Russen zu Pussy Riot. Eine große Mehrheit fühlt sich von den drei Aktionskünstlerinnen provoziert. Dabei sind die Russen weder besonders fromm noch besonders prüde. Immer gab es extreme Avantgarde-Künstler in der Geschichte des Landes. Kein Tabu, das in den wilden 90er-Jahren nicht gebrochen wurde. Normalerweise sind es eher die Russen, die Deutsche für verklemmt halten. Warum dann die ablehnende Reaktion auf das „Punkgebet“? Russen lieben es, Normen zu übertreten, aber sie haben auch ein starkes Gefühl dafür, was „man“ nicht tut. Russland ist das Land der werkgetreuen Theateraufführungen. Shakespeare’sche Helden in Unterwäsche oder Latex sieht der Theaterfreund nicht gerne. Russen können gegenüber Unbekannten extrem unhöflich sein, aber Kinder, die Erwachsene duzen, gibt es nicht. Viele fluchen sehr ordinär, aber nie in Gegenwart einer Dame. Und in einer Kirche Unfug zu treiben, das tut man eben auch nicht. Da sind sich orthodoxe Russen mit ihren muslimischen, jüdischen oder buddhistischen Landsleuten einig. Religionszugehörigkeit ist Teil der Identität. Als Russe ist man orthodox, als Tatar ein Muslim. Und wer was gegen meine Religion sagt, der greift mich an, auch wenn ich den lieben Gott ansonsten einen guten Mann sein lasse. In Russland kann man noch provozieren. Wenn, wie in Deutschland, der gröbste Tabubruch bestenfalls eine Mediendebatte hervorruft, wird der Provokateur zum Hanswurst. In Russland kann er zum Märtyrer werden, weil die Provokation ernste Folgen haben kann. Vor allem, wenn Volk und Machthaber sich gleichermaßen angegriffen fühlen. Der Autor ist Experte für russisch-deutsche Spiegelungen.

Produktion: Milla Domogatskaja, Produktionsleitung; Layout: Maria Oschepkowa; Bildbearbeitung: Andrej Sajzew; Proofreading: Dr. Barbara Münch-Kienast Druck: Süddeutscher Verlag Zeitungsdruck GmbH, Zamdorferstraße 40, 81677 München Verantwortlich für den Inhalt: Alexej Knelz, Schützenweg 9, 88045 Friedrichshafen Copyright © FGUB Rossijskaja Gaseta, 2012. Alle Rechte vorbehalten Aufsichtsratsvorsitzender: Alexander Gorbenko; Geschäftsführer: Pawel Negojza; Chefredakteur: Wladislaw Fronin Alle in Russland HEUTE veröffentlichten Inhalte sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion


Feuilleton

RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU

Klassik Am 15. September beginnt das Usedomer Musikfestival – Gastland ist Russland

LESENSWERT

Wo die Meereswoge singt

Gebrochene Flügel

PRESSEBILD

Der gebürtige Nowosibirsker Thomas Sanderling kitzelt aus dem Orchester „blühenden Streicherklang“.

Ab Mitte September lässt sich hören, wie das Sinfonieorchester Nowosibirsk im Konzert „dampfen“ kann, auch unter der Leitung eines deutschen Dirigenten. MARTIN MORGENSTERN FÜR RUSSLAND HEUTE

KULTURKALENDER

Tschaikowskis „An die Freude“ Eine fast kuriose Besonderheit ist am 3. Oktober zu erleben: Zusammen mit Beethovens Neunter Sinfonie erklingt ein Werk, das der junge Peter Tschaikowski nicht ganz freiwillig schrieb. Für die Zulassung zur Diplomprüfung am Petersburger Konservatorium bei Anton Rubinstein nämlich oblag es ihm, eine Kantate „K Radosti“ – also „An die Freude“ – zu komponieren. Wenige Wochen nur hatte er dafür Zeit und lehnte eine Veröffentlichung später ab; so dürfen wir das Werk nun gar als deutsche Erstaufführung genießen. Der Dirigent der drei Abende mit dem sibirischen Orchester steht in besonderem Maß für die kulturellen Verbindungen Deutschlands und Russlands. Thomas Sanderling ist der erste, in Nowo-

FESTIVAL 3. RUSSISCHES KAMMERMUSIKFEST HAMBURG 9. BIS 20. SEPTEMBER, LAEISZHALLE HAMBURG UND KULTURKIRCHE ALTONA

„Deutschland in Russlands Spiegel“ – wo wäre ein solches Motto besser aufgehoben als an der Ostsee? sibirsk geborene Sohn der im letzten Jahr verstorbenen Dirigentenlegende Kurt Sanderling. Am Vortag des Festkonzerts wird er seinen siebzigsten Geburtstag feiern – und auf eine beachtliche Pultkarriere zwischen vielen Welten zurückblicken. Begonnen hat er bei den kleinen Orchestern in Sondershausen und Reichenbach (Vogtland); 1966 wurde er zum Musikdirektor der Oper in Halle an der Saale. Später dirigierte er die renommiertesten Orchester der DDR, der Bundesrepublik und

Das Festival Was 1994 begann, zählt heute zu den wichtigsten Festivals im musikalischen Kalender Deutschlands. Vor dem grandiosen Hintergrund der Sonneninsel findet zwischen dem 15. September und 7. Oktober zum 19. Mal das Usedomer Musikfestival statt. Gespielt wird in Kirchen, Schlössern und Konzertsälen. Schwerpunkt ist in diesem Jahr die russische Kultur. Weitere Informationen und das komplette Programm finden Sie unter www.usedomer-musikfestival.de

Martin Morgenstern ist Musikwissenschaftler, Journalist und Begründer des Kulturportals Musik in Dresden.

IM BLICKPUNKT

PRESSEBILD

Ein glücklicher Zufall war es, der den Namen Usedom in diesem Jahr in die überregionalen Zeitungen spülte. Nach einem Sturz vom Podium im April nämlich hatte der Dirigent Kurt Masur eine Zwangspause einlegen und sämtliche Konzerte bis zum Ende der Spielzeit absagen müssen. Nun wird das erste Deutschlandkonzert des genesenen Maestros in Peenemünde stattfinden – zur Eröffnung des 19. Usedomer Musikfestivals. Wer nach den Verbindungen Masurs zum Festival sucht, muss ins Gründungsjahr 1994 zurückgehen. Der Dirigent war der erste Schirmherr des Projekts und wird nun erstmals selbst am Pult stehen. Am 15. September dirigiert er im Kraftwerk des Museums Peenemünde das 2008 ins Leben gerufene Festivalorchester „Baltic Youth Philharmonic“, zudem leitet er einen Meisterkurs mit sieben Nachwuchsdirigenten aus Russland, Deutschland, Taiwan, Südkorea und den USA. Die Werke des Abends, Modest Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ und Dmitri Schostakowitschs Erste Sinfonie, stimmen auf den diesjährigen Schwerpunkt des Festivals ein. „Deutschland in Russlands Spiegel“ heißt der – und

wo wäre ein solches Motto besser aufgehoben als an der Ostsee, die beide Länder geografisch verbindet? Mehr als 40 Veranstaltungen mit über 30 russischen Komponisten und Interpreten, darunter der Cellist Alexander Buzlov und die Pianisten Lilya Zilberstein und Alexander Melnikov, werden verschiedene Facetten der deutschen und russischen Musikkultur beleuchten. Das „Orchestra in Residence“ der Festspiele, das Akademische Sinfonieorchester Nowosibirsk, präsentiert musikalische Raritäten: Am 5. Oktober steht etwa Tschaikowskis selten zu hörende Elegie „In memoriam Iwan Samarin“ auf dem Programm.

der UdSSR sowie an der Wiener Staatsoper, am Teatro La Fenice, in Japan und den USA. Nach dem Klang russischer Orchester befragt, hat der Dirigent griffige Formulierungen parat. „In russischen Orchestern steht der blühende, reiche Streicherklang im Vordergrund, ein überaus romantischer Klang, sozusagen ‚mit viel Cholesterin‘, wie jemand einmal sagte“, so Sanderling. Klanglich gehe es sofort gewaltig los: „Im Konzert kann das dampfen“, fügt er hinzu. Und das Sinfonieorchester Nowosibirsk? Es zählt heute zu den bedeutendsten Orchestern Russlands, konzertiert mit international renommierten Dirigenten und Solisten und ist weltweit auf Gastspielreisen präsent. „Nowosibirsk ist die drittgrößte Stadt Russlands und sehr besonders“, erzählt Sanderling. „Historisch ein Verbannungsort, wurden im Zweiten Weltkrieg viele Intelligenzler hierher evakuiert. Auch die Petersburger Philharmoniker waren hierher ausgelagert, was der Stadt einen wichtigen kulturellen Impuls gab.“ Noch vor dem Krieg wurde in Nowosibirsk das größte Operntheater Russlands gebaut. Mit der Eröffnung nach dem Krieg entstand ein eigenes Philharmonisches Orchester. Stolz verweist Sanderling auf die jüngsten CD-Einspielungen des Orchesters. Die Orchesterwerke Sergei Tanejews fanden bei der Fachpresse viel Resonanz – und waren die beste Empfehlung für das Usedomer Festival. Wer also den blühend-reichen, „russischen“ Orchesterklang für sich entdecken will und die lange Anfahrt nach Sibirien scheut, sollte im Oktober nach Usedom pilgern.

Welche Vorzüge haben russische Musiker, wie aufgeklärt ist ihr Publikum? Interview mit Thomas Sanderling vom Sinfonieorchester Nowosibirsk Lesen Sie den Beitrag auf www.russland-heute.de

GESPRÄCH GULAG-ZEITZEUGENGESPRÄCH

AUSSTELLUNG DIE JUNGEN MALER MOSKAUS

14. SEPTEMBER, SCHILLER-MUSEUM WEIMAR

AB 15. SEPTEMBER, KIT, DÜSSELDORF

ERFAHREN SIE MEHR ÜBER RUSSISCHE KULTUR AUF

Werke bedeutender Komponisten wie Tschaikowski und Strawinski, aber auch weniger geläufige wie Rubinstein oder Nikolaj Roslawez werden unter anderem vom Gewandhausquartett Leipzig interpretiert.

Siegfried Jenkner (Jg. 1930) und Ernst Friedrich Wirth (Jg. 1932) wurden in der DDR verhaftet und verbrachten mehrere Jahre in sowjetischen Straflagern. Die Veranstaltung begleitet die Ausstellung „GULAG. Spuren und Zeugnisse 1929-1956“.

„I am who I am“ ist das Motto der jungen Maler Moskaus, deren Werke das KiT in Zusammenarbeit mit dem MAMM Moskau und der Rodchenko Moscow School of Photography and Multimedia zeigt, darunter die Künstler Sergey Bratkov, Aristarkh Chernyshev und die Electroboutique Group.

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› musikfoerderung.de/kammermusikfest/

› klassik-stiftung.de

› kunst-im-tunnel.de

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Immer schon galt die Literatur in Russland als Gewissen der Nation, der Dichter als moralische Instanz, der ausspricht, was nicht gelebt werden darf. Also wurde er zensiert oder verboten – von Puschkin an. Wo die offizielle Geschichte Wahrheiten verschweigt, kann Literatur sich erzählend nähern. Ulitzkajas neuer Roman „Das grüne Zelt“ kreist um die sowjetischen Dissidenten der 1960er- bis Mitte 80er-Jahre, als harte Strafen wegen „antisowjetischer Betätigung“, „Rowdytums“ oder „verbotener Literatur“ an der Tagesordnung waren; er warnt vor einer Verklärung der „ruhmreichen sowjetischen Vergangenheit“. Ulitzkaja bietet Einblicke in die Lebenswelten von Menschen, die sich in einem totalitären Staat für geistige Freiheit und soziale Gerechtigkeit einsetzen. Thema ist die Verantwortung des Einzelnen, sein Gewissen, seine Freiheit. Die drei Schulkameraden Ilja, Sanja und Micha und die Mädchen Tamara, Galja und Olga wachsen in den 50ern in Moskau auf, ihr Lehrer sensibilisiert sie für kulturelle, soziale und ethische Fragen. Bald geraten sie als denkende Menschen in Widerspruch zur Staatsdoktrin, werden durch den KGB erpresst. Ilja emigriert Hals über Kopf, um die geliebte Olga zu schützen. Micha zieht einer neuen Verhaftung den Freitod vor. Sanja geht in die USA. Die Helden, deren Flügel zum Fliegen nicht mehr taugen, haben einen Knacks weg. In Olgas Traum vom grünen Zelt sind sie alle versammelt, Lebende wie Tote, Täter und Opfer. Ulitzkaja verurteilt niemanden, ihre Liebe jedoch gilt den Aufrechten. Ljudmila Ulitzkaja: Das grüne Zelt. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Carl Hanser Verlag, München 2012, 592 Seiten Ruth Wyneken

empfiehlt


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Porträt

WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU

Erfinder Ein Physiker baut am Ufer der Moskwa ein schwimmendes Kraftwerk. Nun droht seinem Projekt das Aus ren, womit er sein Geld verdient. Ein paar Vorträge, ein gnädiger Investor – das sollte zum Leben reichen. So viel steht fest: Alexander Russetzkij ist ein Besessener. Manchmal beim Reden überholen seine Worte seine Gedanken. Sein Lebenstraum ist in Gefahr, er will jetzt die ganze Welt auf einmal überzeugen.

Kapitän Nemo und sein großer Traum vom Schwimmen

Ein Kunstwerk von Boot

JAN LIESKE (4)

Ist er verrückt? Eine Art Daniel Düsentrieb? Alexander Russetzkij glaubt an sein schwimmendes Kraftwerk – wenn ihn denn nur die Verwaltung in Ruhe ließe. DIANA LAARZ FÜR RUSSLAND HEUTE

Kapitän Nemo hat auch niemand geglaubt. Bis er mit dem nie für möglich gehaltenen Unterseeboot „Nautilus“ 20 000 Meilen unter den Meeresspiegel abtauchte und gegen Riesenkraken kämpfte. Man sollte also zu Alexander Russetzkijs Gunsten annehmen, dass sich Erfindergeist am Ende immer durchsetzt. Auch wenn Russetzkij im Moment kaum jemand glaubt, seine Familie nicht und erst recht nicht der Präfekt jenes Moskauer Stadtteils, in dem er lebt. Der Vergleich zwischen Russetzkij und Jules Vernes Romanfigur Kapitän Nemo liegt deshalb so nahe, weil beide von der Idee besessen sind, ein Boot zu bauen, das es zuvor noch nie gab. Nur: Russetzkijs Boot soll nicht tauchen, es soll schwimmen und dabei Energie erzeugen. Am Ufer des Flusses Moskwa, in der Nähe des Südhafens, liegt das, was einmal ein schwimmendes Windkraft-

werk werden soll, nach Auskunft des Erbauers gar das erste schwimmende Windkraftwerk seiner Art weltweit. Auf den ersten Blick wirkt es wie die zusammengezimmerte Hütte eines verrückten Professors. Auf den zweiten auch. Ein beinahe baumhohes Gewirr von Eisenstangen, Rotorblättern, die sich sanft im lauen Lüftchen wiegen, die meisten Stahlplatten haben schon Rost angesetzt. Alexander Russetzkij schweißt, schraubt und sägt seit sechs Jahren an seinem Traum.

Countdown: vier Wochen Russetzkij steht auf der ersten Plattform seines Bootes, gut zwei Meter hoch. Er wirkt gehetzt, gönnt sich keine Sekunde Ruhe. Vor drei Wochen hat er einen Brief von der Verwaltung seines Stadtbezirks bekommen. Wenn er sein Boot nicht in vier Wochen zu Wasser gelassen habe, werde es zerstört, heißt es darin. In vier Wochen kann Alexander Russetzkij nicht schaffen, was er in sechs Jahren nicht vermocht hat. Er vermutet, das Drängen der Behörden hänge mit dem öffentlichen Parkhaus zusammen, das auf der anderen Straßenseite gerade fertig geworden ist. Vielleicht komme Bürgermeister Sobjanin

BIOGRAFIE GEBURTSORT: DRUSKININKAI ALTER: 59 PROFIL: TÜFTLER

Alexander Russetzkij wird 1953 im litauischen Druskininkai geboren. 1971 fängt er ein Molekularphysikstudium am Moskauer Institut für Physik und

Für ein halbes Megawatt sei sein Boot gut – die Hälfte von dem, was ein kleines konventionelles Windrad leistet. zur Eröffnung, und der solle den Metallberg nebenan nicht sehen, schlussfolgert er. Ihm bleibt noch eine Woche Zeit. Deshalb streicht er erst einmal die rostigen Platten mit hellem Grau, 14 Stunden täglich. Vielleicht stimmt das die Beamten ja gnädig. Alexander Russetzkij ist ein Mann, der schwer zu fassen ist. Er ist 59 Jahre alt, drahtig. Sein Gesicht passt gut zu einem gütigen Großvater, sein Blaumann und seine Arbeitshandschuhe, die er

Technologie an. 1986 folgt eine Dissertation in Biophysik an der Lomonossow-Universität. 20 Jahre lang arbeitet Russetzkij am Forschungszentrum für Kardiologie der Akademie der Wissenschaften, wo er mit Hilfe von Elektromagneten versucht, Medikamente in kranken Organen von außen lokal zu konzentrieren. Weil seine Arbeit kaum bezahlt wird, wechselt er 1996 den Beruf und wird Schweißer.

fast nie aus der Hand legt, passen zu einem Bauarbeiter. Er ist studierter Physiker, seine Formeln hat er mit weißer Farbe in viele Ecken seines Bootes gepinselt. Er malt aber auch, am liebsten das Gesicht einer Frau, die ihn vor vielen Jahren aus einem vorbeifahrenden Auto anblickte. Zu seiner eigenen Familie hat Alexander Russetzkij verschiedene Versionen. Der Nowaja Gaseta erzählte er, seine Frau habe ihn verlassen, jetzt sagt er, sie sei von betrunkenen Polizisten überfahren worden. Mit seinem Sohn hat er sich zerstritten. Russetzkij wohnt auf dem Boot, in einem Chaos aus Altmetall, Turbinenmodellen und leeren Instantkaffeeverpackungen. Daraus bastelt er Windfähnchen. Er kann nicht genau erklä-

Das Boot ist ein Gesamtkunstwerk. Es ist über 40 Meter lang und soll einmal von fünf Pontons über das Wasser getragen werden. Auf dem floßähnlichen Unterbau werden fünf oder sechs einzelne Hütten stehen, deren Grundform einem Tropfen ähnelt. Zwischen diesen sternförmig angeordneten Hütten soll sich der Wind so verfangen, dass er eine Turbine in der Mitte antreibt. Russetzkij erläutert die Funktionsweise an einem Modell und pustet mit aufgeblasenen Backen, um den Wind zu simulieren. Er ist dabei eifrig wie ein kleines Kind. Er geht in die Knie und hüpft auf und nieder, als er erklärt, wie er mithilfe der Wellen am Boden des Floßes eine Art Fahrradpedalkonstruktion antreiben will. Auch damit werde dann Energie gewonnen. Für etwas mehr als ein halbes Megawatt sei sein Boot gut. Das ist etwa die Hälfte von dem, was ein kleines konventionelles Windrad leistet. Die Anmerkung, dass es auf der Moskwa kaum Wellen gibt, bringt Russetzkij nicht aus dem Konzept: „Ein-, zweimal im Monat wird’s hier richtig stürmisch.“ Außerdem hat er sowieso ganz andere Pläne. Im nächsten Jahr – falls die Behörden bis dahin ruhig bleiben – will er in See stechen, die Wolga entlang fahren, übers Asowsche und übers Schwarze Meer bis nach Sotschi. Dort würde er gerne 2014 bei den Olympischen Winterspielen der Weltöffentlichkeit sein schwimmendes Kraftwerk präsentieren. Von dem Boot geträumt hat Alexander Russetzkij bereits als Jugendlicher. Als fast 60-Jähriger will er seinen Traum verwirklichen. Ob es wirklich auf große Fahrt geht, ist am Ende vielleicht gar nicht so wichtig. Mit den letzten Pinselstrichen will er in knapp einem Jahr den Namen auf den Rumpf des Bootes schreiben. Es soll „Traum einer Nacht“ heißen, „Perpetuum Mobile“ oder „Russkij Innovator“. Auf keinen Fall „Nautilus“.

Auf dem Papier sieht Russetzkijs Boot atemberaubend aus, in der Realität trennt ihn vom Erfolg noch ein weiter Weg. Der Tüftler selbst glaubt, es sei „nur noch ein Stückchen“.

ITAR-TASS

Frankfurter Buchmesse: Neues aus Russland heute. iPad trifft Intelligenzija – wie Russen Literatur konsumieren

10. Oktober


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