Russland HEUTE

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Ein Projekt von RUSSIA BEYOND THE HEADLINES

Gemeinsam

Fußlahm

Handzahm

1000 Jahre russischdeutsche Geschichte

Georgi Bowt erklärt, warum Medwedjews vier Jahre als Präsident seine junge Regierung alt aussehen lassen

Die Bubis von Pompeya machen soften Pop

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Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond The Headlines, Moskau, verantwortlich.

Mittwoch, 6. Juni 2012

Die neue russische Elf ist die alte

POINTIERT

Gemeinsame Landschaften

Kevin Kuranyi und junge Fans in einer Moskauer Schule. Zur EM fährt er nicht, fühlt sich aber in Russland pudelwohl.

Alexej Knelz

I

TINO KÜNZEL

Tschechien, Polen und Griechenland heißen die Gegner, gegen die sich die russische Fußballnationalmannschaft ab dem 8. Juni durchsetzen muss, wenn sie es zumindest ins Viertelfinale schaffen will. Von Russland als Europameister träumt derzeit kaum jemand: Die meisten sind froh, dass

es die „Sbornaja“ unter Dick Advocaat überhaupt in die Qualifikationsrunde geschafft hat. Von der spielerischen Frische, mit der das Team um Andrej Arschawin vor vier Jahren Europa überraschte und die Holländer überrannte, ist allerdings nur wenig geblieben. Geblieben sind aber die

POLITIK

meisten Spieler – nur ist die Generation Arschawin diesmal vier Jahre älter. „Aber nicht zu unterschätzen“, warnt Kevin Kuranyi im Interview. Mit dem 21-jährigen Alexander Kokorin habe die Mannschaft eine wirkungsvolle Geheimwaffe. Kuranyi weiß, wovon er spricht: Zusammen mit Ko-

korin stürmt er seit zwei Jahren für Dynamo Moskau. Unabhängig vom Ausgang der EM steht der „Sbornaja“ aber ein Generationswechsel bevor: 2018 wird Russland Gastgeber der Fußballweltmeisterschaft sein. SEITEN 8 UND 9

REUTERS/VOSTOCK-PHOTO

ITAR-TASS

Junge Gesichter präsentierte Premier Dmitri Medwedjew bei der Vorstellung seiner Minister: Der jüngste ist noch nicht einmal 30 Jahre alt. Und dennoch schimpften Kritiker das Kabinett sogleich ein „technisches“ – seine Mitglieder seien Experten ohne politisches Gewicht, entschieden werde ohnehin im Kreml. Die Besonderheiten des russischen politischen Systems auf SEITE 3

mmer zogen sich Russen und Deutsche gegenseitig an – und stießen sich gleichzeitig ab. Und obwohl Russland und Deutschland historisch, politisch und wirtschaftlich eng verbunden sind, kommt es in dieser guten Nachbarschaft ab und an zu Missverständnissen. Wie kürzlich auf der internationalen Sicherheitskonferenz in Moskau, als ein russischer General, sehr beunruhigt vom geplanten Raketenschild in Osteuropa, die Fähigkeit Russlands zu einem Präventivschlag beteuerte. Die Rechnung für diese Aussage erhielt das Land stellvertretend für den undiplomatischen General: Russland sei ein Aggressor, der immer noch der Logik des Kalten Krieges folge. Dass man sich mit dieser Schlussfolgerung der gleichen Logik bediente, fiel dabei kaum ins Gewicht. Nur gut, dass es neben kalten Denkern auch jene gibt, die wissen, dass Russland und Deutschland trotz der tiefen Wunden, die sie sich im 20. Jahrhundert zufügten, stets eine gemeinsame Kulturlandschaft bildeten. Das beginnende Jahr Russlands in Deutschland und das Jahr Deutschlands in Russland werden hoffentlich das Interesse füreinander wecken. Ein Blick aus dem 21. Jahrhundert auf unsere 1000-jährige Geschichte kann helfen, sich sympathisch zu finden.

INHALT

Ein gutes Recht auf Streiks

REGIERUNG JUNGE EXPERTEN IM WEISSEN HAUS – EXMINISTER IM KREML

CHEFREDAKTEUR

„Westliche Firmen verkaufen ihre Autos hier zu denselben Preisen wie in Europa, also stehen uns auch dieselben Löhne zu“, sagt Alexej Nastin. Was eine unabhängige Gewerkschaft ist, hat der junge Mann erst vor Kurzem erfahren. Und schon den ersten Streik organisiert: Anfang April standen beim Autozulieferer Benteler in Kaluga die Bänder still – was auch dem benachbarten VWWerk zu schaffen machte. Mit Löhnen von 500 Euro wollen Nastin und seine Kollegen sich nicht mehr zufriedengeben. Jetzt wird bei Benteler verhandelt und auch bei VW. Ford in Sankt Petersburg droht im Juni der nächste Streik. – Warum die neue Gewerkschaft MPRA besonders bei westlichen Unternehmen greifen kann.

Die „Sedow“ ist das zweitgrößte Segelschiff der Welt und mit ihren 90 Jahren Geschichte auf allen Meeren ein gern gesehener Gast. Jetzt ist der Viermaster in Sankt Petersburg zu einer Weltumrundung aufgebrochen – und wird im Juni in Kiel vor Anker gehen. Wer in Sankt Petersburg geblieben ist, muss sich nicht grämen: Dort sind nun Spaziergänge über den Dächern der Stadt angesagt.

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In 426 Tagen um die Welt

Nato Warum fürchtet Moskau die Abwehr? POLITIK

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Moskau Eine Stadt zeigt Herzchen WIRTSCHAFT

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Aralsee Einer gegen das Verschwinden GESELLSCHAFT

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Schliemann Reich machte ihn Russland FEUILLETON

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Politik

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Kommentar

Raketenabwehr Der Start des Systems verärgert Russland

Das Gleichgewicht einseitig aufgehoben

Schickt die Rüstungsexperten fort auf eine ferne Insel Fjodor Lukjanow

V

or Kurzem nahm ich an einem russisch-amerikanischen Seminar teil. Am zweiten Tag kam mir und einem US-Kollegen praktisch gleichzeitig dieselbe Idee. Dass es großartig wäre, sämtliche mit strategischer Stabilität und Rüstungskontrolle befassten Experten der Welt auf eine komfortable Insel irgendwo im Indischen Ozean zu verfrachten. Sie würden sich wohlfühlen und überhaupt nicht langweilen, könnten hingebungsvoll die Probleme eines ersten und zweiten Atomschlags, die Dialektik der garantierten wechselseitigen Vernichtung und die gegensei-

Patriot-Raketen im Einsatz, hier während des Irak-Krieges in der saudi-arabischen Wüste

AFP/eastnews

Die USA nehmen ihren Raketenabwehrschirm in Betrieb, die Russen testen als Antwort eine neue Rakete. Worum geht es im Streit zwischen Russland, der NATO und den USA? Reinhard Löser

für Russland heute getty images/fotobank

Noch Ende der 60er-Jahre waren sich Amerikaner und Russen einig, dass zur Entspannung der atomaren Konfrontation zwei Dinge gehören: die Begrenzung des strategischen Atomwaffenarsenals sowie der Raketenabwehrsysteme. Ausgleichende Sicherheit, so die Überlegung, kann es nur bei Verkürzung der Speere und gleichzeitiger Verkleinerung der Schilde geben. Wer eine der beiden Arsenale einseitig für sich behalten oder ausbauen würde, gewänne die strategische Überlegenheit. Unter Ronald Reagan hinterfragten die USA diesen Zusammenhang. Sie koppelten 1983 den Verteidigungsaspekt von der Reduzierung der Angriffsraketen ab und entwickelten die Idee der Strategic Defense Initiative (SDI). Das ging gegen alle Abmachungen, seither schwelt der Streit. Mit dem Zerfall der Sowjetunion legten die Amerikaner das Projekt auf Eis, das Wettrüsten war beendet. Doch mit dem 11. September griffen die USA das Thema wieder auf. George W. Bush kündigte im Dezember 2001 einseitig den ABM-Abrüstungsvertrag und drängte auf eine Entwicklung des Raketenschutzschilds, Nachfolger der SDI. Formell war dies kein Vertragsbruch. Fernab des amerikanischen Territoriums soll SDI feindliche Atomraketen orten und zerstören. Wer könnte die abfeuern? Terroristen und Schurkenstaaten wie der Iran oder Nordkorea, lautet die offizielle Version der USA. Weil die aber dazu technisch kaum in der Lage

Mai 2012, Chicago: Auf ihrem Gipfel gibt die NATO bekannt, dass sie die erste Stufe des Raketenabwehrsystems in Betrieb nimmt.

Russland schlug 2007 als Alternativstandort Aserbaidschan vor, aber Polen und Tschechien liefen dagegen Sturm. sind, scheint es um etwas anderes zu gehen – die Verwirklichung des militärischen Hegemonieanspruchs. Russland und China, vielleicht auch Indien und Pakistan wird damit signalisiert, wo ihre Grenzen sind. Die USA beteuern, das System richte sich nicht gegen Russland. Entkräften können sie den Vorwurf nicht. Amerika müsse sich auch vor einem versehentlichen Abschuss atomarer Raketen schützen, wenn aufgrund mangelnder politischer Stabilität Atomwaffen staatlicher Kontrolle entglitten. Ursprünglich sollte die US-Abwehr durch Radarstationen und bodengestützte Abfangraketen in Polen und Tschechien ausgebaut werden. Als Kompromiss brachte Russland 2007 Aserbaidschan als akzeptablen Alternativstandort ins Spiel – ein Nachbarland des Iran. Dagegen liefen Polen und Tschechien Sturm, und als Obama 2009 die Raketenabwehr der NATO

überantwortete, war Aserbaidschan vom Tisch. Heute soll der Schirm nicht nur die militärische Unverletzlichkeit der territorialen Integrität der USA garantieren, sondern ganz (West-) Europa und die Nato abdecken und in vier Phasen flexibel aufgebaut werden. Dazu sind Systeme von Satelliten, Radarstationen und mobilen Abfangraketen zu Lande und zu Wasser geplant. 2020 soll das System einsatzfähig sein. Die NATO gab auf ihrem Gipfel in Chicago im Mai bekannt, dass Subsysteme der ersten Phase bereits einsatzbereit seien: In der südöstlichen Türkei wurde eine hochmoderne Radaranlage in Betrieb genommen. Die USA haben Überwachungssatelliten im Orbit und atomwaffentragende Kreuzer im Mittelmeer stationiert. Die Bundesrepublik beherbergt im rheinland-pfälzischen Ramstein die Kommandozentrale der Raketenabwehr. Moskau reagierte postwendend auf die Nachrichten aus Chicago: Wenige Tage später testete es eine neue Interkontinentalrakete mit schnellem Antrieb und aktiven atomaren Mehrfachsprengköpfen. Vom Raketenschild soll diese nur schwer zu entdecken sein.

Politologe

Militärs stehen in der Pflicht, von berechneten und geschätzten Rüstungspotenzialen auszugehen. tige Kontrolle durch Monitoring der Raketenstartgeschwindigkeiten erörtern. Da diese hochinteressante Beschäftigung irgendwo auf Madagaskar stattfände, störte sie nicht im Geringsten die Weltpolitik, die sich längst in eine andere Richtung entwickeln würde … Ich will nicht sagen, dass die Beschäftigung mit Rüstungsfragen sinnlos ist. Solange Russland und die USA noch gigantische Atomwaffenarsenale besitzen, mit denen sie einander und die ganze Welt vernichten könnten, lassen sich die in der Epoche der bipolaren nuklearen Konfrontation entwickelten und verfestigten Prinzipien weder abschütteln noch umgehen. Doch mittlerweile wirken sie in einer anderen Dimension, einer Art Parallelwelt. Als der Generalstabschef der russischen Streitkräfte Nikolai Makarow erklärte, Russland könnte einen Schlag gegen Objekte des amerikanischen Raketenabwehrsystems führen, also auch in Europa, hat das für enormen Wirbel gesorgt. Es klingt bedrohlich. Aber was steckt dahinter? Wir haben es mit einem typischen Beispiel für eben jene Parallelwelt zu tun. Allen ist klar, dass es keinerlei Krieg – weder einen atomaren noch einen konventionellen – zwischen Russland und der Nato oder Russland und den USA geben kann. Doch Militärs stehen nun einmal in der Pflicht, nicht nur vom gesunden Menschenverstand auszugehen, sondern von berechneten und geschätzten Rüstungspotenzialen: Nunmehr seit 20 Jahren breitet sich die NATO im russlandnahen Raum aus, und seit zehn Jahren erörtern die Vereinigten Staaten die Implementierung eines strategischen Raketenabwehrsystems unweit der russischen Grenze. Auch die Argumente für dieses

Raketenschild scheinen aus einer anderen Welt zu kommen: Europa müsse vor der Bedrohung durch iranische Raketen geschützt werden. Dabei existieren diese Raketen noch gar nicht, und es ist unklar, weshalb der Iran, der mit seinen Nachbarstaaten – Israel, Saudi-Arabien u. a. – um den Einfluss in der Region konkurriert, seine Raketen, wenn sie denn irgendwann zur Verfügung stünden, ausgerechnet gegen Europa richten sollte. „Ist der Raketenschutzschirm gegen Russland gerichtet?“, fragt Moskau. „Nein“, wehrt Washington ab. „Soll dieser Abwehrschild Amerika vor jeglicher Bedrohung schützen?“ – „Ja!“ – „Wendet er sich damit nicht gegen andere Länder, auch Russland?“ Natürlich tut er das. Das Prinzip der wechselseitigen Vernichtung hat weiterhin seine Gültigkeit, ein anderer Weg zur Ausbalancierung der gewaltigen Rüstungsarsenale ist noch nicht gefunden, also besteht hypothetisch die Möglichkeit, durch einen Schutzschild die Gefahr eines gegnerischen Schlags abzuwehren. Tatsächlich ist die Situation noch vertrackter. Die Amerikaner versichern, die ersten drei Phasen des Raketenabwehrsystems könnten dem Militärarsenal Russlands keinen Schaden zufügen, erst bei der vierten Phase entstünde eine theoretische Gefahr. Aber bis dahin sei es noch weit und es gebe heute keine Garantie, dass sich diese Endstufe technologisch realisieren lasse. Wenn eine solche Möglichkeit nun aber doch bestünde, wie sollen die russischen Generäle heute darauf reagieren? Sollen sie der Entwicklung des Abwehrsystems tatenlos zuschauen, bis es tatsächlich eine Gefahr darstellt, und erst dann Maßnahmen ergreifen? Zu diesem Zeitpunkt wird es bereits zu spät sein. Die amerikanische Seite wird auf

Es diskutiert sich immer leichter über Altbekanntes und Vertrautes als über Neues und Unbekanntes. sämtliche späteren Einwände Russlands erwidern: „Warum wart ihr denn vorher einverstanden, wir haben euch doch in Kenntnis gesetzt?“ Ein gegen eine nicht existierende Bedrohung gerichtetes nicht existierendes Abwehrsystem, das eine in der Praxis nicht realisierbare Gegenreaktion und endlose affektgeladene Debatten nach sich zieht, ist ein Symbol der Hilflosigkeit der internationalen politischen Elite angesichts tatsächlicher Herausforderungen. Es diskutiert sich leichter über Altbekanntes als über Neues und Unbekanntes. Doch die Realität fordert in jedem Fall ihren Tribut, und die Rüstungsexperten werden am Ende vielleicht doch noch auf eine Insel verfrachtet. Fjodor Lukjanow ist Chefredakteur der Zeitschrift Russia in Global Affairs.


Politik

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Regierung Premier Medwedjew erneuert sein Kabinett – aber wichtige Entscheidungen werden woanders getroffen gen zu beeinflussen, besonders die wirtschaftlichen.“ Der einzige neue Minister, dessen Ernennung Unverständnis, bei manchen sogar Ärger hervorruft, ist jener für Kultur. Wladimir Medinskij ist eine der wichtigsten Figuren der Kremlpartei Einiges Russland. Er verdiente in den letzten Jahren Millionen mit populärwissenschaftlichen und patriotischen Büchern über russische Geschichte. Das Magazin Russkij Reporter sieht in seiner Ernennung gar einen „Racheakt“ Putins an der künstlerisch-intellektuellen Elite des Landes: Besonders die war in den vergangenen Monaten gegen ihn auf die Straße gegangen.

Jeder bekommt sein Pöstchen

Drei Viertel von Medwedjews Ministern sind neu. Doch russische Experten bezeichnen die Regierung als „technisch“: Das eigentliche Zentrum der Macht liegt bei Putin im Kreml. Moritz Gathmann Russland heute

Wladimir Putin: „Wie viele neue Gesichter haben wir? Ich denke, die Zusammensetzung hat sich zu 75 Prozent geändert ...“ Dmitri Medwedjew: „Ich habe mal überschlagen, dass drei Viertel der Regierung aus neuen Leuten besteht, die erst seit Kurzem in der Politik sind oder zum ersten Mal der Regierung angehören.“ Diese Bälle warfen sich Präsident Putin und Premierminister Medwedjew Mitte Mai im russischen Fernsehen zu. Ihre Botschaft: alles neu. Wer genauer hinschaut, erkennt allerdings: Die Regierung ist zwar außerordentlich jung, der jüngste Minister (für Telekommu-

nikation) Nikolaj Nikiforow ist gerade einmal 29 Jahre alt, aber nur bedingt neu – sechs der Minister waren zuvor Vizeminister. Hinzu kommt, dass die neuen Minister ausgewiesene Fachleute sind, aber über wenig politische Erfahrung verfügen: Medwedjew hat eine Regierung der Manager um sich versammelt. Russische Experten betonen deshalb das geringe politische Gewicht des neuen Kabinetts: „Das ist keine Regierung für einen Durchbruch, sondern eine technische. Und ich habe große Zweifel, dass sie adäquat auf jene Herausforderungen antworten kann, vor denen Russland heute steht“, ätzte Alexej Kudrin, langjähriger Finanzminister, der im letzten Herbst zurücktreten musste. Als „technisch“ wurden jene Regierungen bezeichnet, die Putin während seiner beiden ersten Amtszeiten dazu dienten, seine strategischen Pläne durchzusetzen.

Umgeben wird Premierminister Medwedjew von sechs Vizepremiers, darunter mehrere Vertraute aus seiner Zeit im Kreml wie der liberale Arkadi Dworkowitsch oder der „Chefideologe“ Wladislaw Surkow. Dass es ihm gelungen ist, einige Positionen mit „seinen“ Leuten zu besetzen, wird als Beleg dafür gewertet, dass Medwedjew immerhin ein gewisses politisches Gewicht hat.

Putin behält die Kontrolle

Die vielleicht wichtigste Auswechslung in der Regierung ist die von Raschid Nurgalijew. Der Innenminister stand mehr als alle anderen in der Kritik, weil immer wieder Korruptionsskandale und Übergriffe von Polizisten öffentlich wurden. Da auch die groß angekündigte Polizeireform nichts Substanzielles geändert hat, wird Nurgalijews Posten nun Wladimir Kolokolzew übernehmen. Dieser war bis dato Polizeichef von

Die neue Machtkonstellation zwischen Kreml und Weißem Haus

itar-tass

Die Macht im Kreml, die Experten im Kabinett Einige politische Schwergewichte wie Außenminister Sergej Lawrow sind auf ihren Posten geblieben.

Moskau und hat es über die letzten Jahre geschafft, selbst unter Oppositionellen ein gewisses Maß an Vertrauen aufzubauen. Einige politische Schwergewichte sind auf ihren Posten geblieben, darunter Außenminister Sergej Lawrow. Dass die Minister für Finanzen und Rüstung nicht ausgewechselt wurden, stärkt Beobachtern zufolge die Position Putins. „Er hat damit die Kontrolle über die machtausübenden Strukturen und den finanziellen Block der Regierung behalten“, erklärt Politologe Igor Bunin. „Diese Leute erlauben es ihm, von innen heraus die wichtigen Regierungsentscheidun-

Eine Besonderheit des politischen Systems in Russland ist es, dass der Präsident mit der Kremlverwaltung über eine Struktur verfügt, die sich formell zwar nur aus Beratern und Assistenten zusammensetzt, aber aufgrund ihrer Nähe zum Präsidenten ein größeres politisches Gewicht als die Minister hat. Putin hat beim Umzug in den Kreml seine engsten Vertrauten mitgenommen: sieben ehemalige Minister, darunter Elwira Nabiullina, vormals Ministerin für wirtschaftliche Entwicklung. Lediglich den unbeliebten Innenminister Nurgalijew hat Putin in den Sicherheitsrat abgeschoben, seine politische Karriere ist damit wohl beendet. Der ehemalige Geheimdienstler Sergej Iwanow, erst vor Kurzem vom Vizepremier zum Leiter der Präsidialverwaltung ernannt, wird hingegen seinen Posten behalten. Nur einige wenige wie der Energieminister Sergej Schmatko sind beim Stühletausch ganz aus dem politischen System ausgeschieden. Dazu gehört auch der ehemalige Vizepremier Igor Setschin. Allerdings ist der enge Putin-Vertraute und graue Eminenz des russischen Öl- und Gassektors nun zum Präsident des staatlichen Ölriesen Rosneft ernannt worden. Rosneft ist zuständig für eines der wichtigsten Projekte der nächsten Jahrzehnte: die Erschließung der Rohstoffe auf dem arktischen Schelf.


Wirtschaft

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Gewerkschaften Russische Automobilarbeiter wollen keine Billiglöhner mehr sein

Mehr als nur 500 Euro am Fließband

einen Streik. Zwei Tage lang legte MPRA die Produktion lahm, dann knickte das Unternehmen ein. Nun wird verhandelt, über einen Forderungskatalog von 100 Punkten, darunter Lohnerhöhungen um 40 Prozent. Derzeit beträgt das Einstiegsgehalt 400 Euro, die höchste Gehaltsstufe für einfache Arbeiter liegt bei 550 Euro. „Die verkaufen ihre Autos hier zu denselben Preisen wie in Europa, also stehen uns auch dieselben Löhne zu“, erklärt der 22-jährige Alexej Nastin, der bei Benteler die Gewerkschaftsgruppe leitet.

Kein Bonus für die Streikenden

pressebild

Streik beim Autozulieferer Benteler in Kaluga – zwei Tage später begannen die Verhandlungen.

Erst Ford, dann Volkswagen, jetzt Benteler: Eine neue, unabhängige Gewerkschaft macht westlichen Autokonzernen zu schaffen, mit Lohnforderungen – und Streiks. Moritz Gathmann Russland Heute

Im Gewerkschaftsbüro in der Stadt Kaluga geht es ruppig zu an diesem Tag im Mai: Eine sechsköpfige Einsatzgruppe aus Polizei und Kreiswehramt steht in dem 20 Quadratmeter kleinen Raum einer Gruppe von Gewerkschaftern gegenüber: Die Ordnungshüter wollen ein Mitglied zum Armeedienst abholen. „Zum Teufel mit euch“, schimpft Dmitrij Koschnjew, als sie versuchen, die Männer mit Gewalt fortzudrängen. Der Versuch scheitert, Minuten später erscheint die Anwältin des jungen Mannes und erklärt den Staatsvertretern, dass sie keine rechtliche Handhabe hätten, weil vor Gericht ein Verfahren über die Wehrfähigkeit des Mannes laufe.

Erster Streik bei Ford

Büroleiter Koschnjew bringt die Attacke mit dem jüngsten Streik in Verbindung: „Die regionalen Eliten fürchten sich davor, dass die Arbeiter sich organisieren.“ Die Geburtsstunde der MPRA,

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jener Gewerkschaft, die für so viel Wirbel sorgt, liegt sechs Jahre zurück: In der Nähe von Sankt Petersburg bestreikte die neu gebildete „Überregionale Gewerkschaft der Beschäftigten in der Automobilindustrie“ damals das Werk des US-Autobauers Ford und erreichte eine Anhebung der Löhne um bis zu 21 Prozent. Es war der erste bedeutende Streik in der neueren russischen Geschichte. Denn die aus der UdSSR übrig gebliebenen Gewerkschaften haben zwar zum Teil mehrere Millionen Mitglieder, gehen aber – wie zu Sowjetzeiten – vor allem sozialen Aufgaben nach. Die MPRA hat sich seitdem ausgebreitet, insbesondere bei westlichen Autobauern. In Kaluga, wo über die letzten Jahre VW, Volvo, Peugeot und Zulieferer wie Benteler Fabriken aufbauten, hat sie über 1300 Mitglieder. Aber warum ist die MPRA vor allem bei westlichen Konzernen aktiv? Nach Meinung von Boris Titow, Chef des Unternehmerverbandes Delowaja Rossija, finden Streiks gerade in transparenten, sozial verantwortungsvollen Unternehmen statt, die um ihr Image besorgt sind: „Die Arbeitsbedingungen sind eigentlich annehmbar, aber man kann sie leichter zu Zugeständnissen bewegen.“

„In neuen Unternehmen ist der Zulauf zu den Gewerkschaften größer, weil die Belegschaft aus jungen, motivierten Mitarbeitern besteht“, erklärt MPRA-Vertreter Koschnjew. Er hat, damals noch Dreher, versucht, in seiner Fabrik in Twer die MPRA zu etablieren. Und erlebte Repressionen, die sich ein westlicher Konzern nicht leisten könnte. Am Ende wurde er entlassen. Beim VW-Zulieferer Benteler läuft es anders: Im November traten die ersten Beschäftigten der MPRA bei, Ende März forderten die Gewerkschafter die Geschäftsführung auf, einen neuen Tarifvertrag auszuhandeln. Benteler ignorierte den Aufruf – und erntete

Benteler will sich zum Streik nicht äußern. Von Mitarbeitern vor Ort hört man allerdings, dass die Firmenleitung den Gegner wohl unterschätzt habe. VW dagegen hat Konsequenzen aus dem Streik bei seinem Zulieferer gezogen: Hier wird seit einigen Wochen mit der MPRA über einen Tarifvertrag verhandelt. Allerdings stehen die Gewerkschafter unter Druck: Benteler strich erst der gesamten Belegschaft den Bonus für März – und zahlte dann jenen, die nicht am Streik teilgenommen hatten, eine doppelte Prämie. Die MPRA hat dagegen Klage eingereicht. Und Benteler-Mitarbeiter Nastin berichtet von Versuchen, einen Keil zwischen Arbeiter und MPRA zu treiben: „Den Arbeitern werden bessere Karriereaussichten versprochen, wenn sie aus der Gewerkschaft austreten.“ Das große Problem von boomenden, aber dünn besiedelten Regionen wie Kaluga ist der Fachkräftemangel. Schon jetzt bringen jeden Tag firmeneigene Kleinbusse Hunderte Mitarbeiter aus weiter entfernt gelegenen Dörfern zum VW-Werk. Die Situation wird sich in den nächsten Jahren noch verschärfen: Der Reifenhersteller Continental etwa baut gerade nahe Kaluga ein neues Werk, in dem 400 neue Stellen geschaffen werden. Denn die Nachfrage nach Autos steigt in Russland weiterhin, und zwar zweistellig. Dieser Trend spielt der MPRA in die Hände: Anfang Juni soll wieder gestreikt werden – und wieder bei Ford.

Viele Mitglieder, wenig Vertrauen

aktuell Piraterie an der Wurzel gepackt

pressebild

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Täglich werden in Russland über Internetplattformen Hunderttausende Gigabytes illegal ausgetauscht. Allein die Filmindustrie verliert jährlich 350 Millionen Euro. Die Softwarefirma Internet Content aus Perm schlug mit „Pirate Pay“ eine effiziente Lösung vor. Anstatt Piraten post factum zu verfolgen, blockiert die Software automatisch verdächtige Uploads über Torrent Tracker. Allerdings ist das Programm nicht eben billig: Bis zu 40 000 Euro kostet die Überwachung eines Films. Dennoch unterstützt Microsoft Pirate Pay mit 75 000 Euro. Internet Content zieht demnächst in den Technologiepark Skolkowo ein.

Schockbilder für Raucher geplant Russland sagt dem Rauchen den Kampf an: Ab 2013 müssen Zigarettenhersteller auf Packungen Bilder abdrucken, die die Folgen des Rauchens zeigen. Derzeit rauchen 44 Millionen, also 39 Prozent aller Russen. Zudem soll die Zigarettensteuer angehoben werden. Heute kostet eine Packung etwa einen Euro.

Abhängigkeit vom Ölpreis steigt Eine neue Welle der Wirtschaftskrise träfe Russland härter als 2008. Die Moscow Higher School of Economics hat berechnet, dass das Land heute stärker abhängig von Rohstoffpreisen ist: War das Budget 2008 bei einem Ölpreis von 60 Dollar ausgeglichen, muss das Barrel Öl 2012 mindestens 105 Dollar kosten.

Russia Beyond the Headlines wächst

Etwa 30 Millionen Russen sind Gewerkschaftsmitglieder. Die meisten Organisationen sind allerdings staatsnahe Überbleibsel aus der Sowjetunion und spielen eine ähnliche Rolle wie damals: Sie verteilen Urlaubsreisen an die Arbeiter und organisieren zu jedem 1. Mai eine Demonstration. Zu Konfrontationen mit den Arbeitgebern sind sie nur selten bereit und spielten auch während der jüngsten

Wirtschaftskrise keine Rolle. Zu Konflikten kam es erst durch spontane Proteste von Arbeitern. Entsprechend gering ist das Vertrauen der Russen in die Gewerkschaften. Neue, unabhängige Organisationen wie die MPRA kämpfen mit gesetzlichen Einschränkungen: Eine Gewerkschaft wird nur dann als Verhandlungspartner akzeptiert, wenn sie mindestens 50 Prozent der Belegschaft hinter sich hat.

Lunchbreak Welche chancen hat der Mittelstand in Russland?

Forum Russian Economic and Financial Forum in Germany

Konferenz 2. Deutsch-russische Logistikkonferenz

Seminar Vertragsrecht im Russlandgeschäft

8. Juni, Hamburg, Geschäftstelle des Ost- und Mitteleuropa vereins

17./18. Juni, München, Marriott Hotel

18./19. Juni, Moskau, Ritz-Carlton Hotel

21. Juni, Düsseldorf, IHK

Hellmut Vollmers, Geschäftsführer des Logistik-Unternehmens Emons Multitransport, spricht über seine Erfahrungen auf dem russischen Markt. Aufgrund der Räumlichkeiten ist die Teilnehmerzahl begrenzt.

Mehrere russische Gouverneure und andere hochrangige Vertreter aus Politik und Wirtschaft erläutern deutschen Interessenten die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in ihrem Land – und wo Chancen zur Zusammenarbeit bestehen.

Russland ist riesig – und bietet für Logistiker nahezu unbegrenzte Möglichkeiten. Russische und deutsche Experten von DHL, der Deutschen Bahn und der Knauf-Gruppe erklären, welche Probleme sich in der Praxis ergeben – und wie sie zu lösen sind.

Wer mit russischen Geschäftspartnern Verträge schließt, muss die besonderen Regeln der Vertragsgestaltung in Russland kennen. Die Veranstaltung richtet sich an Geschäftsführer, Leiter von Rechtsabteilungen, Vertriebsleiter sowie Exportsachbearbeiter.

›› o-m-v.org

›› finas.info

›› bvl.de/13875_1

›› duesseldorf.ihk.de

Die Beilage Russia Beyond the Headlines erscheint nun in 16 Ländern und elf Sprachen. Das sagte Herausgeber Eugene Abov auf dem Partner’s Meeting, zu dem Vertreter der Süddeutschen Zeitung, der Washington Post und weiterer führender Medien im Mai nach Moskau kamen.


Wirtschaft

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City Branding Junge Moskauer verpassen ihrer Heimatstadt ein nettes Gesicht – und ein schönes Markenzeichen

Herzchengrüße aus Moskau Moskau ist teuer, laut und schmutzig? Stimmt – aber wahre Moskauer lieben ihre Stadt trotzdem. Manche so sehr, dass sie mit kreativen Souvenirs gegen das Image ankämpfen.

Ruhe und Schönheit der Straßen und Parks. „Hier gibt es einige Probleme, aber ich liebe Moskau. Es kommt auf die innere Einstellung an. Teilten viele Moskowiter meine Sicht, lebten auch sie wie meine Frau und ich in der schönsten Stadt der Welt.“

kathrin aldenhoff für russland heute

Das Herzchen Moskaus

Alexander Elzesser hat mit seiner Firma Babushkov die Marke „Heart of Moscow“ entwickelt. Moskau hat ein Herz, und das will der junge Moskowiter an Russen wie Touristen weitergeben. Er ist gern in seiner Stadt und möchte, dass auch andere die russische Hauptstadt in ihr Herz schließen. Seine Produktpalette zeichnet das Bild eines idealen Moskaus. Das Herz ist rot-weiß gestreift, die Form der Streifen ahmt das Mus-

ter der Basilius-Zwiebelkuppel nach. Das Symbol ist auch für Touristen einzuordnen, Elzesser kombiniert es mit Produkten, die traditionell mit Russland in Verbindung gebracht werden. Er bietet dicke Wollsocken und Fäustlinge für den Winter an, aber auch T-Shirts, iPhone-Hüllen und sowjetische Modellautos im Zwiebelkuppel-Herzchendesign, die Stil, Qualität und die Liebe zu Moskau in sich vereinen. Elzesser wohnt seit seiner Geburt mitten im Zentrum, ächzt wie alle unter den täglichen Staus, genießt aber im Gegenzug die abendliche

pressebild

Lebenswert und nach außen sympathisch wirken – darum geht es beim City Branding. Die Stadt selbst wird zur Marke, sie bekommt ein Image, und das lässt sich verkaufen, zum Beispiel als Souvenir an Touristen. In Zeiten der Globalisierung treten Städte in einen weltweiten Konkurrenzkampf um zahlungskräftige Reisende, Firmenniederlassungen und pendelnde Geschäftsleute. Eine attraktive, lebendige Stadt zieht junge, intelligente und gut ausgebildete Menschen an, die sie in ihrer Entwicklung voranbringen. Berlin mit seinem Ampelmann, dem Fernsehturm und dem Berliner Bären als Symbol sowie dem lockeren Spruch „Arm, aber sexy“ ist nur ein Beispiel dafür, wie gelungenes Stadtmarketing aussehen kann. München ist die Weltstadt mit Herz, Paris unangefochten die Stadt der Liebe. Moskau dagegen hat noch kein Image und keine eigene Marke, dafür aber einen ziemlich schlechten Ruf: teuer, laut und hektisch. Die Basilius-Kathedrale ist zwar sein Wahrzeichen, aber viele andere Sehenswürdigkeiten, die für Touristen interessant sein könnten, sind weitgehend unbekannt und zu wenig zugänglich gemacht. Von Privatpersonen initiiert, entstehen deshalb gerade verschiedene Marken, die das ändern und Moskau ein positives Image verpassen sollen.

Neuer Sommertrend: Fahrradfahren in Moskau – hier vorbei an der Basilius-Kathedrale, ...

... deren rot-weiß gestreifte Zwiebelkuppel das Herzchen Moskaus ist.

Dass Souvenirs aus Moskau originell und zugleich funktional sein können, hat auch das Stadtkomitee für Tourismus bewiesen: Für rund 120 000 Euro ließ es moderne Andenken entwickeln und produzieren, insgesamt 30 000 Stück: USB-Sticks, umhüllt von Holzmatrjoschkas oder einem Kremlturm in Plastik, Mousepads mit Panoramablick und Kugelschreiber, die sich in Holzlöffeln verstecken. In Geschäften gibt es diese Souvenirs aber nicht zu kaufen – sie sollen auf internationalen Tourismusmessen verteilt werden. Andenken der anderen Art bietet auch die Internetseite Wow Moscow. Das Symbol, das unter anderem auf Tassen, Bettlaken und Baseballkappen gedruckt ist: ein Lächeln. Dass es in Russland nicht immer kalt ist, spricht sich langsam herum – und wenn es gelingt, ein Herz und ein Lächeln als Image der russischen Hauptstadt durchzusetzen, gehören negative Assoziationen vielleicht schon bald der Vergangenheit an. Kathrin Aldenhoff schreibt für die Moskauer Deutsche Zeitung.

Abseits der bekannten Wege: auf nach Kostroma, Pljos und ins Fischerdorf Turka Ein staatliches Förderprogramm soll helfen, abgelegenere Regionen Russlands in attraktive Reiseziele zu verwandeln – durch Marketing und den Ausbau der Infrastruktur. Roger Williams

für russland heute

Von Elchfarmen und Hundeschlittenrennen bis zum Land von Dschingis Khan – die Tourismusagentur Rosturism rückte mit einer Roadshow in Berlin, London und Paris die Regionen Russlands ins Scheinwerferlicht. Während Moskau und Sankt Petersburg sich vor Touristen nicht retten können, sollen nun abgelegene Regionen mit besonderem Lokalkolorit über die nächsten sieben Jahre mit 9,3 Milliarden Euro unterstützt werden. Die Gelder fließen überwiegend in Bauprojekte und Infrastruktur. Eine der acht geförderten Regionen ist Iwanowo mit seiner gleichnamigen Hauptstadt: Etwa 300 Kilometer von Moskau gelegen, ist sie insbesondere all jenen zu empfehlen, die Wassersport betreiben und sich für Ikonen und Kunsthandwerk interessieren. In der Kleinstadt Pljos derselben Region existiert scheinbar noch

lori/legion media

Die Stadt wird zur Marke

Mitbringsel vom Roten Platz

ilija warlamow

Knapp drei Viertel aller Russen leben in Städten, und immer mehr von ihnen machen sich Gedanken, wie sie diese attraktiver gestalten können. Der Blogger Ilja Warlamow alias „zyalt“ entwickelte zum Beispiel ein Zehn-Schritte-Programm für ein „menschliches Moskau“: Der verkehrsüberlasteten Stadt verordnet er Fahrradwege, Bänke zum Ausruhen und eine Innenstadtmaut für Autofahrer – modern und europäisch. Der bekannte Designer Artemij Lebedjew träumt im Livejournal von beleuchteten Fußgängerüberwegen, restaurierten Holzhäusern und Orten, an denen sich die kreative Szene austoben kann – das würde die russischen Städte in seinen Augen viel lebenswerter machen.

Uferpromenade in Kostroma am gleichnahmigen Fluss

die Traumwelt des alten Russlands. Ein neuer Wolgahafen und sechs neue Hotels, ein Ferienkomplex und Freizeitzentren werden hier errichtet. Zu den Attraktionen in der ländlichen Region Kostroma, eine weitere Flussschiffsreise von Moskau entfernt, gehören eine Elchfarm und Hundeschlittenrennen. Kostroma ist zudem für sein Leinen und Filigranarbeiten bekannt – die Hälfte des russischen Schmucks wird hier hergestellt. Weit im Osten, an der Grenze zur Mongolei, liegt die Republik Bur-

jatien am Ostufer des wenig besuchten Baikalsees. Es gibt touristische Bauvorhaben für das Fischerdorf Turka, den Badeort Peski, zwei Kurorte und ein Skigebiet. Bislang wurden rund 100 Millionen Euro investiert, und angesichts der mangelnden Infrastruktur sind Investoren gefordert, sich staatlichen Projekten anzuschließen. Zehn Stunden von London entfernt liegt der Flughafen der Hauptstadt Ulan-Ude. Von hier aus eröffnet sich dem Reisenden eine Vielfalt an Landschaften: die

Taiga, trockene Wüsten und die einsamen Ufer des Baikalsees. Das Tuninskaja-Tal, auch „sibirische Alpen“ genannt, bietet Möglichkeiten zum Wintersport. Burjatien besitzt ein reiches spirituelles Erbe: Schamanen, Buddhisten und Altgläubige finden hier ihre Inspiration. Das Bild der bedeutenden Industrieregion Tatarstan hat sich stark gewandelt, seit verkündet wurde, dass Kasan einer der Gastgeber bei der Fußballweltmeisterschaft im Jahre 2018 sein wird. Russlands „Sporthauptstadt“ liegt 75 Flugminuten von Moskau entfernt. Tatarstan ist das Land von Dschingis Khan, und der Kreml von Kasan mit dem Status UNESCOWeltkulturerbe ist die einzige noch existierende Tatarenfestung Russlands. Die antike Stadt Bolgar, 30 Kilometer entfernt von Kasan, wird von dem Tourismusprogramm ebenso gefördert wie das orthodoxe Kloster der Wolgainselstadt Swijaschsk. Kasan hat auch musikalisch einiges zu bieten: mit einem dem berühmten Sänger gewidmeten Schaljapin-Musikfestival im Februar und dem nach dem großen Tänzer Rudolf Nurejew benannten Ballettfestival im Mai.


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Gesellschaft

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Architektur In dem Innovationsstädtchen bei Moskau soll eine moderne Siedlung für die Wissenschaftler entstehen

Schöner wohnen – nicht nur für Rubelmillionäre Es verging kaum ein Tag, dass Dmitri Medwedjew nicht von Skolkowo schwärmte, das dem Land neue Impulse geben soll. In seiner Architektur scheint es diese Hoffnung zu erfüllen.

Projekt des internationalen Architekurbüros Saltans + Jaeger

Grigori Rewsin

Im August 2010, als das Vorzeigemodernisierungsprojekt Skolkowo noch in seinen Anfängen steckte, erfolgte die erste Ausschreibung für den Generalplan des Innovationszentrums. Das Besondere daran: Es wurden keine russischen Architekten zugelassen. Die hochgestellten Auftraggeber, besonders die aus Regierungskreisen, waren offenbar nicht der Meinung, dass russische Architekten in der Lage wären, irgendetwas qualitativ Hochwertiges abzuliefern. Ganz offensichtlich glaubten sie, dass das Antlitz russischer Städte und Häuser allein von Architekten geprägt sei – und nicht etwa von Politikern wie Jurij Luschkow, dem ehemaligen Bürgermeister Moskaus, der das Stadtbild nachhaltig verschandelte. Die Ausschreibung für den Generalplan gewann die französische Firma AREP, die Stadt Skolkowo wurde zwischen sieben westlichen Kuratoren aufgeteilt.

Russen können’s nicht?

Der russische Architektenverband legte Beschwerde ein – mit Erfolg. Skolkowos City-Manager Wiktor Maslakow schlug vor, für die Bebauung des Innovationszentrums eine Ausschreibung unter Beteiligung russischer Architekten durchzuführen. Und obwohl der Bau des Städtchens eigentlich ein Standardprojekt ist, geschah Merkwürdiges: Aus dem ganzen Land gingen 600 Anträge ein. Das Auswahlverfahren trennte jene, die bereit sind, die russische Architektur zu verändern, sehr schnell von denen, die es als höchste Stufe der Professionalität ansehen, sich in den russischen Baunormen auszukennen – und diese dann als Waffe gegen westliche Architekten einzusetzen. Schritt für Schritt wurden diese Altmeister der Baukunst aussortiert. Ihre Vorschläge unterlagen. Stattdessen drängten selbstbewusste Jungarchitekten vor, deren Entwürfe sich ganz einfach als die besseren erwiesen.

Chance für die jungen Wilden

Mir persönlich gefällt das Projekt der Gruppe DNK: ein rundes Gebäude, in dessen riesigem Innenhof ein ganzer Park versprengelt angeordnet ist – ein lakonischer und gleichzeitig äußerst erlesener Ansatz. Der Architekt Dmitri Busch dagegen legte einen sehr expressiven Vorschlag vor: Seine Gebäude stoßen aneinan-

pressebild (3)

Kommersant-Wlast

Architektur wie Felsen: der Entwurf von Dmitri Busch

der wie Felsen und ergeben dadurch eine recht romantische, ja fast schon gotische Komposition. Sehr charmant ist die CottageSiedlung des Franzosen Antoine Bigou: Die Cottages sind wie eine Schafherde auf der Wiese angeordnet und unterscheiden sich wohltuend von den in Russland üblichen quadratischen Vorortsiedlungen gleicher Couleur. Derart sympathische Vorschläge gibt es viele. Doch das ist nicht des Pudels Kern. Diese geplanten Häuser sehen aus wie die Immobilien von Millionären, sind aber für Wissenschaftler gedacht, also für Menschen, die sich mit einem eher geringen Einkommen begnügen müssen. Die russische Architektur ist aber auf den Bau von avantgardistischen Prachtvillen für jene fünf Prozent der Bevölkerung ausgerichtet, die mehr als 500 000 Dollar im Jahr verdient. Der Rest muss sich mit den Produkten postsowjetischer Bauwirtschaft zufriedengeben, deren Immobilienentwickler in allen Millionenstädten des Landes hässliche Trabantensiedlungen klonen. Skolkowo stellt in diesem Sinne ein einmaliges Experiment dar. Es ist der Versuch, einen neuen Standard für demokratischen Wohnraum zu schaffen – sowohl was die Häuser als auch was die städtebaulichen Normen betrifft. Deshalb hat das Innovationszentrum den Status eines experimentellen städtebaulichen Areals für das Projekt Großmoskau. Es wird also in Zukunft Wirkung im ganzen Land entfalten können – auch wenn heute noch viele Menschen nicht begreifen, welchen Nutzen das Innovationsstädchen bringt und was genau hier eigentlich pro-

duziert werden soll. Aber wenn man sich ansieht, was dort gerade geschieht, kommt weniger Zweifel als die Befürchtung auf, dass dies alles plötzlich wieder beendet wird. Ich weiß nicht, wie es in der Wissenschaft aussieht, in der Bauwirtschaft ist die russische Verwaltungsreform sehr deutlich zu spüren. Grigori Rewsin, Journalist und Architekturexperte, gilt als einer der schärfsten Kritiker der russischen Baukultur. Die ungekürzte Version des Artikels erschien im Magazin Wlast.

So lebt man in Skolkowo nach den Plänen des Büros Ginsburg.

kommentar

Die Käufer sind bewusster geworden Sergei Tchoban

G

architekt

rundsätzlich unterscheidet sich der Städtebau in Russland und Deutschland nicht: Es gibt einen Masterplan, dann einen Bebauungsplan, und es gibt eine Öffentlichkeit, die beteiligt werden möchte – das hat zuletzt der Streit um die als „GazpromTurm“ bekannt gewordene Unternehmenszentrale des Großkonzerns in Sankt Petersburg bewiesen. Ähnlich wie in Deutschland zieht heute auch jenes Büro, das den Wettbewerb gewonnen hat, andere Architekten hinzu, um den Masterplan umsetzen. So haben wir bei der Bebauung des Europaufers in Sankt Petersburg, für

die wir zusammen mit dem Planungsbüro Jewgeni Gerassimow den Wettbewerb gewonnen haben, insgesamt elf ausländische Architekten beteiligt. Skolkowo steht für einen in Russland sehr aktuellen Trend: preisgünstiger Wohnungsbau bei einer gleichzeitig würdigen und zufriedenstellenden Gestaltung – also keine uniformen Wohnsilos, aber auch keine unbezahlbaren Elitewohnungen. Dafür ist Skolkowo sicher ein Paradebeispiel, aber nicht das einzige: Unser Büro nps tchoban voss baut momentan vor den Toren Moskaus Wohnhäuser nach dem gleichen Prinzip. Und das spanische Büro EDDEA hat den Wettbewerb für einen neuen Stadtteil für 150 000 Einwohner im Süden der Stadt gewonnen.

Die meisten Mietshäuser, die heute „von der Stange“ gebaut werden, wurden noch vor der Finanzkrise geplant. Inzwischen hat sich die Lage auf dem Markt geändert: Die Käufer sind bewusster geworden. Sie können wählen und fordern größere Vielfalt, gerade im Wohnungsbau. Gleichzeitig haben auch die Architekten bemerkt, dass sie in der Oberklasse nicht mehr so viel umsetzen können – und orientieren sich seitdem an anderen Bevölkerungsschichten. Nur eines hat sich nicht geändert: Russen haben gerne ihre eigene Wohnung – und wohnen äußerst ungern zur Miete. Sergei Tchoban, geboren 1962 in Leningrad, arbeitet seit 1992 als Architekt in Deutschland.


Gesellschaft

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Umwelt Seit Jahrzehnten kämpft ein russischer Wissenschaftler für das Überleben des Aralsees

Ein Leben gegen das Verschwinden

Die Fische sind zurück: dank des steigenden Wassers und sinkenden Salzgehalts. eastnews

Vom riesigen Aralsee ist kaum etwas übrig: Das Wasser aus seinen Zuflüssen wird für die Baumwollfelder benötigt. Doch Nikolaj Aladin glaubt an die Regeneration des Salzsees.

Der Aralsee – eine Katastrophe in Bildern 1976

1997

2007

aus dem persönlichen Archiv

Christopher Pala

Nikolaj Aladin nähert sich einem rostigen Kutter. Unter dem Rost ist noch der Name des Schiffes zu erkennen: „Otto Schmidt“. Das Brachland ringsum war früher einmal der Boden des Aralsees. Ironischerweise wurde das Forschungsschiff nach dem berühmten russischen Nordpolforscher benannt. Die letzte Fahrt der „Otto Schmidt“ endete 1996 – es war das letzte Schiff, das auf dem See fuhr. „Auf diesem Schiff habe ich an 25 Expeditionen teilgenommen“, erinnert sich der braungebrannte Aladin mit seiner dröhnenden Stimme. Er, Professor am Zoologischen Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften in Sankt Petersburg, der den austrocknenden Salzsee wie seine Westentasche kennt, half dabei, seinen nördlichen Teil wieder nutzbar zu machen.

Verschwiegene Katastrophe

Den Aralsee erblickt er erstmals 1978, als er Urlaub macht in Aralsk, der nördlichsten Hafenstadt. „Als ich ankam“, erinnert sich Aladin, „war der Hafen trocken, das Wasser hatte sich bereits über 30 Kilometer zurückgezogen.“ Der Salzgehalt hatte sich binnen 20 Jahren auf zwei Prozent verdoppelt. Aladin nimmt Proben, führt Messungen durch und beobachtet fortan, wie sich die Fauna an die hereinbrechende Umweltkatastrophe anpasst. Seine Warnrufe und Vorschläge zur Regenerierung des Sees nimmt man in Sankt Petersburg kaum wahr: Die Bewässerung der Baumwollfelder in der Umgebung ist den Sowjetbeamten wichtiger als der zurückgehende Fischfang. Aladins Studien über die entsetzlichen Folgen für die Ökologie und

pressebild

für russland heute

Der einsame Retter des Arals: Nikolaj Aladin vor der „Otto Schmidt“

Der Aral, ehemals viertgrößter Binnensee der Welt, liegt in der Wüste östlich des Kaspischen Meeres. Er wird von den zentralasiatischen Flüssen Syrdarja und Amudarja gespeist. Bis in die 60er-Jahre werden jährlich 50 000 Tonnen Fisch gefangen. Damals begannen die sowjetischen Behörden, das Wasser aus den Flüssen umzuleiten, um Baumwolle für Uniformen und Schießpulver anzubauen. Ihr Kalkül war, der Wert der Baumwolle werde die Einnahmen aus der Fische-

rei um das Hundertfache übertreffen. 1987 ist der Aralsee auf ein Drittel seiner ursprünglichen Größe geschrumpft, sein Salzgehalt hat sich verdreifacht. Es gibt kaum noch Fische, Darmerkrankungen und Kehlkopfkrebs nehmen zu. Heute ist der Aral geteilt. Der nördliche Teil, 3600 Quadratkilometer groß, wurde durch den Bau eines Deiches wieder zum Leben erweckt: Der Salzgehalt ist gesunken, 20 Fischarten weisen wieder eine normale Population auf.

das Leben der Bevölkerung werden nicht beachtet, die Ökokatastrophe wird nach innen wie außen totgeschwiegen: „Im Westen gab es hin und wieder Hinweise, dass der Wasserspiegel des Arals zurückgeht und der Salzgehalt steigt. Dass aber der See austrocknet, darüber hatten wir keine Informationen“, erinnert sich Philip Micklin, Professor für Geografie an der Western Michigan University und führender Aralexperte.

schaften richtet für Aladin ein eigenes Forschungszentrum mit einem Labor für Brackwasser-Hydrobiologie ein. Gerade als Moskau beginnt, nach Wegen zu suchen, um die Katastrophe abzuwenden, bricht die Sowjetunion zusammen. Der Aral, inzwischen auf drei kleinere Seen zusammengeschrumpft, wird durch die usbekisch-kasachische Grenze halbiert. Die russischen Behörden halten sich mit der Finanzierung von Expeditionen ins neue Ausland zurück, auch weil das Geld fehlt. „Beschäftige dich doch mit dem Kaspischen Meer“, wird Aladin erklärt. Er hat keine Wahl – aber den Aral gibt er nicht auf. Als sein Vater stirbt, bleibt ihm nichts anderes übrig, als seine Forschungsvorhaben selbst zu stemmen, indem er zahlungskräftige Touristen auf die Expeditionen mitnimmt. Auf seiner jüngsten Exkursion muss er sich von

Ein Institut für den Aralsee

Aladin finanziert seine Untersuchungen teils aus eigener Tasche. Sein Vater, ein Marineoffizier, steht ihm zur Seite. Auf wissenschaftlichen Konferenzen darf er seine Arbeitsergebnisse zwar ab und zu vortragen – aber nicht veröffentlichen. Erst mit Perestrojka und Glasnost werden sie publik. Und die Akademie der Wissen-

einigen Gästen 200 Euro leihen, damit er seinen Sohn und Assistenten auszahlen und mit der Bahn nach Hause fahren kann. 1993 bringt er einen kasachischen Gouverneur dazu, einen provisorischen Deich zu bauen, der das Wasser aus dem Syrdarja-Fluss im nördlichen Teil des Arals zurückhält. Der Salzgehalt sinkt, einige Fische kehren zurück, aber der Deich bricht immer wieder ein, sobald das Wasser steigt. Schließlich finanziert die Weltbank den Bau eines stabilen, 17 Kilometer langen Erddeichs mit Betonschleusen, der 2005 fertiggestellt wird. Das Projekt soll das Wasser im See speichern und die Feuchtgebiete regenerieren.

Retten, was zu retten ist

Heute, fast sieben Jahre später, ist der Fischbestand im kasachischen Teil des Sees von 3500 auf 18 000 Tonnen gestiegen, sagt der Direktor einer örtlichen Fischerei. Seine Fischer ziehen 6000 Tonnen pro Jahr an Land. In den Dörfern entstehen neue Häuser und eine Schule, kürzlich eröffnete ein Fischverarbeitungsbetrieb in Aralsk, 41 neue Arbeitsplätze wurden geschaffen. „Der erste Staudamm war ein Experiment“, meint Aladin. „Wir wollten beweisen, dass Katastrophen, die durch Menschenhand entstanden sind, auch wieder neutralisiert werden können. Ich bin sehr stolz darauf, dass alles zum

zahlen

13 900

Quadratkilometer betrug die Fläche der verschiedenen Teile des Aralsees im Jahr 2010. Vor 50 Jahren waren es 68 000 Quadratkilometer.

3,4

Millionen Tonnen Baumwolle produzierte Usbekistan 2009. Nach China, Indien und den USA ist es der viertgrößte Baumwollproduzent der Welt.

richtigen Zeitpunkt gebaut worden ist.“ Die kasachische Regierung erwägt die weitere Sanierung des Arals. Zwei Vorgehensweisen werden in Betracht gezogen: eine Erhöhung des Kokaraldeichs, sodass der Wasserpegel um weitere 20 Meter steigt und der See sich von 5900 auf 8590 Quadratkilometer ausdehnt. Oder der Bau eines Kanals im Norden, um mit dem Wasser des Syrdarja Aralsk zurück ans Meer zu bringen. Aladin, der weiterhin jedes Jahr an den Aral reist, fordert die Umsetzung beider Schritte – einen nach dem anderen.


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Das Thema

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Fussball em 2012 Nach dem 3. Platz 2008 stürzte die „Sbornaja“ ab. Dick Advocaat richtete das Team wieder auf

Bei der EM 2008 sorgte Russland mit schnellem, leichtfüßigem Fußball für Furore: Nach Polen und in die Ukraine fährt fast dasselbe Team – nur vier Jahre älter. tino künzel

füR russland heute

Es sind ja nur fünf Spiele bis zum Finale. Warum sollte die russische Nationalmannschaft nicht einfach mal fünf Spiele in Folge gewinnen? Oder zumindest drei bis vier, was auch reichen könnte? Das muss sich Trainer Dick Advocaat gedacht haben, als er Mitte Mai in Moskau vor die Presse trat und verkündete: „Russlands Ziel bei der EM ist das Finale.“ Daran war eigentlich nichts Sensationelles: Was soll sich der EMDritte von 2008 auch anderes vornehmen, als sein damaliges Resultat zu übertreffen? Russland, Elfter der FIFA-Weltrangliste, müsste dazu nicht nur seiner Favoritenrolle in einer Gruppe mit Polen, Griechenland und Tschechien gerecht werden, sondern auch Titelanwärtern wie Deutschland und Spanien auf Augenhöhe begegnen. Dagegen spricht aller-

dings, dass praktisch nichts dafür spricht. Auch nicht der Trainer, der den Russen systematisch das Träumen abgewöhnt hat.

Der nüchterne Advocaat

Der Holländer übernahm den Trainerjob vor zwei Jahren von seinem Landsmann Guus Hiddink. Unter Hiddink hatte Russland ansehnlichen, an guten Tagen gar herzerfrischenden Offensivfußball gespielt. Mit Andrej Arschawin von Zenit St. Petersburg im Mittelfeld wäre die spürbar verjüngte Mannschaft in der letzten EM-2008-Qualifikation zwar fast gescheitert, doch dann schoss Gruppensieger Kroatien am letzten Spieltag England aus der Qualifikation – Russland war dabei. Ein Wunder, jubelten die Russen, die sonst so oft mit dem Schicksal hadern und denen Hiddink fortan als Glücksbringer galt. Bei der EM 2008 steigerte sich die „Sbornaja“ von Spiel zu Spiel und warf im Viertelfinale die hoch gehandelten Holländer aus dem Wettbewerb. Mehr noch: Russland war das bessere Holland – leichtfüßig, trickreich, druckvoll. Die Experten rieben sich die Augen,

Europa feierte die Entdeckung des Turniers. In der Heimat berauschte sich die geschundene postsowjetische Seele an diesem Triumph. Hunderttausende zogen mitten in der Nacht freudetrunken durch die Straßen, in den Großstädten sowieso, aber auch in der tiefsten Provinz. Kommentatoren suchten lange nach historischen Parallelen, viel mehr als Gagarins Weltraumflug fiel ihnen nicht ein. Ein paar Tage später ging das Halbfinale gegen den späteren Europameister Spanien mit 0:3 verloren. Das war ernüchternd, aber nach so viel Glanz und Glorie verzeihlich. Die Mannschaft rappelte sich wieder auf und knüpfte in der WM-Qualifikation an ihre starke Leistung an.

In der Abwärtsspirale

De r We ndepu n k t wa r e i ne 0:1- H e i m n ie de rl a g e g e g e n Deutschland im Herbst 2009. Russland verspielte erst den Gruppensieg und in der Relegation gegen Slowenien die WM-Fahrkarte. Die Euphorie war innerhalb weniger Wochen verflogen. Und plötzlich wurde darüber diskutiert, dass dieser hochbezahlte

getty images/fotobank

letzter Sommer der Generation Arschawin

Sympathieträger Hiddink mehr Zeit in Holland verbrachte als in Russland. Hiddink ging, es kam Advocaat, der 2007 mit Zenit St. Petersburg die russische Meisterschaft und den UEFA-Cup gewonnen hatte. Advocaat versachlichte den Fußball der Russen: Maßstab aller Dinge sei der Einzug in die EM-Endrunde. Diese Mission hat er erfüllt, Russland wurde Gruppenerster vor Irland, Armenien und der Slowakei, ohne freilich zu überzeugen oder zu begeistern. Mit 17 Toren in zehn Spielen schossen die Russen halb so viele Tore wie Deutschland in seiner Gruppe.

Auf Kritik reagierten Trainer und Mannschaft zunehmend dünnhäutig – und verwiesen auf den Erfolg ihres Minimalismus. Wurden die Vorwürfe besonders deftig, wie nach den Testspielpleiten gegen Belgien (0:2) und den Iran (0:1), revanchierten sich die Spieler, indem sie die Medien einfach ignorierten. Statt Optimismus und Enthusiasmus macht sich so vor der Europameisterschaft Katerstimmung breit. „Advocaat erzeugt schon mit seinem Charakter keine positiven Emotionen“, maulte die Nachrichtenagentur RIA Nowosti. Dabei habe die russische Mannschaft einen „emoti-

Interview Kevin Kuranyi Kaum einer kennt den russischen Fußball so gut wie der Stürmer von Dynamo Moskau. Im Interview erklärt Kuranyi, wer zur Geheimwaffe der Russen werden könnte. Herr Kuranyi, was ist den Russen bei der EM zuzutrauen? Eine ganze Menge. Ich erinnere mich noch gut an den Superauftritt von 2008. Da haben sie gezeigt, wie viel Qualität in der Mannschaft steckt. Es folgten eine verpasste WM, ein Trainerwechsel und eine wenig berauschende Leistung bei der EM-Qualifikation, auch wenn man letztlich ungefährdet Gruppenerster wurde. Die können besser spielen und mit diesem Kader auch diesmal wieder für Furore sorgen. Man kennt das ja: Du gewinnst ein Spiel, und plötzlich läuft es rund. Nach der letzten EM sind fünf Nationalspieler nach England und

Deutschland gewechselt. Keiner hat sich dauerhaft bei seinem Klub durchgesetzt. Warum? Ich vermute, dass sie Schwierigkeiten hatten, sich einzuleben. Da kann die Mentalität eine Rolle gespielt haben, die Sprache. Und alle waren es gewohnt, Führungsspieler zu sein, mussten sich dann aber einer ganz anderen Konkurrenz stellen, Tag für Tag. Es fällt auf, dass die Legionäre gerade am Anfang ihre beste Zeit hatten, dann aber den Anschluss verloren. Sind russische Spieler zu schnell mit sich zufrieden? Wenn es so war, dann gibt das allerdings zu denken. Bei Dynamo Moskau habe ich eher die Erfahrung gemacht, dass die Spieler sehr professionell sind. Auch die Jungen wollen lernen, sich verbessern. Wobei sie ab und zu einen Schubs von den Älteren brauchen, weil sie zu locker sind und nach ein, zwei guten Spielen denken: Jetzt läuft es von allein.

für Furore sorgen!“

itar-tass

„Die russische Elf könnte

biografie Beruf: FuSSballspieler Alter: 30 Position: Stürmer

Kevin Kuranyi spielt seit 2010 bei Dynamo Moskau, einem Klub mit Meisterschaftsambitionen, der diese Saison Vierter wurde und sich damit für die Europa League qualifiziert hat. Der frühere Stuttgarter und Schalker hat in Moskau einen Vertrag bis 2015.

Einer der jüngsten Spieler der „Sbornaja“ ist ihr Mannschaftskollege Alexander Kokorin, ein 21-jähriger Stürmer, der bei Dynamo noch nicht zum Stammaufgebot gehört. Überrascht? Im Gegenteil, ich hätte mich gewundert, wenn er nicht dabei wäre. Kokorin hat bewiesen, wie agil er ist, welche Präsenz er auf dem Platz hat. Er könnte eine Art Geheimwaffe für die russische Sbornaja werden. Sie werben wo immer möglich für den russischen Fußball. Sehen Sie eine positive Entwicklung? Auf jeden Fall. In dieser Saison haben mit Zenit St. Petersburg und ZSKA Moskau erstmals zwei russische Mannschaften die Gruppenphase der Champions League überstanden. Und wenn man sich die Spieler anschaut, die aus dem Ausland zurück sind: Die haben es nicht leicht, hier auf die Beine zu kommen. Es herrscht große Konkurrenz in der Liga, das sollte man nicht unterschätzen.

Würde Dynamo Moskau in der Bundesliga spielen – wo würden Sie die Mannschaft in etwa ansiedeln? Auf Platz fünf bis sieben, in einem guten Jahr auch weiter oben. Als ich hier angefangen habe, waren wir taktisch längst nicht so weit wie heute. Es sind alle dauernd nach vorn gerannt. Für mich war das ein Traum, ich habe unglaublich viele Bälle von überall her zugespielt bekommen und musste kaum nach hinten arbeiten. Aber das ging alles auf Kosten der Abwehr. Inzwischen sind wir einen großen Schritt weiter, was das betrifft. Ihre Quote war allerdings mit 13 Toren in 40 Saisoneinsätzen nur mittelprächtig. Stimmt, so wenige Tore habe ich lange nicht mehr gemacht. Aber dafür hatten wir als Mannschaft Erfolg. Das Interview führte Tino Künzel.


Das Thema

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Wie viel wird das russische Team (hier 2010) bei der EM 2012 zu feiern haben?

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Heimspiel 2018 – neue Stadien von Moskau bis Kasan In sechs Jahren ist Russland erstmals Gastgeber der FußballWeltmeisterschaft. Fast 16 Milliarden Euro will das Land in Stadien, Straßen, Schienen und Flughäfen investieren. ilja loktjuschin

Das Finale des Rentnerteams

Russland schickt also nicht nur eine Omi-Band zum Eurovision Song Contest, es fährt auch mit einer Mannschaft kurz vor der Verrentung zur EM. Das ist umso erstaunlicher, als keiner von den Helden der letzten EM seine Leistung gesteigert hat. Vier von fünf Spielern, die ins Ausland wechselten, sind inzwischen nach Russland zurückgekehrt: Andrej Arschawin (31, Arsenal London), Roman Pawljutschenko (30, Tottenham Hotspur), Juri Schirkow (28, FC Chelsea) und Dinijar Biljaletdinow (27, FC Everton) saßen bei ihren englischen Klubs zuletzt nur noch auf der Bank. Pawel Pogrebnjak (28) versucht nach einem Intermezzo beim VfB Stuttgart neuerdings beim FC Fulham sein Glück. Beim Testspiel in Dänemark Ende Februar lag das Durchschnittsalter der russischen Elf bei stolzen 28,8 Jahren (Deutschland: 24,4 Jahre). Vielleicht rafft sich die Generation Arschawin, des Taktgebers zwischen Genie und Wahnsinn, ja doch noch einmal zu einem großen Finale auf. Zumindest zum Finale der eigenen Karriere.

info

Spielplan der russischen Elf 8. Juni, 20.45: Russland-Tschechien (Breslau); 12. Juni, 20.45: PolenRussland (Warschau); 16. Juni, 20.45: Griechenland-Russland (Warschau). Auf Deutschland könnte Russland im Viertelfinale treffen – oder aber im Finale.

Zwischen Wollen und Werden

Rein sportlich liegt das Turnier noch in weiter Ferne, doch Ende 2010 setzten sich die Russen gegen die Kandidaturen von England, Spanien/Portugal und Belgien/ den Niederlanden durch. Russland hatte gelernt: Die schwache Bewerbung für die Fußball-EM 2008

Das neue Stadion in Kasan für insgesamt 45 000 Zuschauer soll 2013 fertiggestellt werden. 2018 werden hier die WM-Spiele ausgetragen.

war gescheitert, Polen und die Ukraine hatten es besser gemacht. In Moskau saß der Stachel tief, und es war nur eine Frage der Zeit zum nächsten Anlauf.

15,8 Milliarden für den Fußball

Das Sportministerium beziffert den Investitionsbedarf für die WM 2018 auf 15,8 Milliarden Euro. Sechs Milliarden fließen in den Straßenbau, drei Milliarden in die Stadien. Seit April inspiziert eine Kommission der FIFA alle potenziellen Spielorte. Deren Zahl wird im September wohl von 13 auf elf reduziert werden. Als gesetzt gelten können Moskau, Sankt Petersburg, Kasan und Sotschi. Im Moskauer Luschniki-Stadion fand 2008 das Champions-LeagueFinale statt, es ist als Schauplatz des Eröffnungs- wie auch des Endspiels vorgesehen. Seine Zuschauerkapazität wird dafür von 78 000

auf 89 000 erhöht, vermutlich durch eine Absenkung des Spielfelds, was Platz schafft für zusätzliche Sitzreihen. 2015 soll der Stadionneubau von Spartak Moskau fertig sein, 2016 der Totalumbau des Dynamo-Stadions. In Sankt Petersburg bekommt Zenit gerade eine neue, 69 000 Zuschauer fassende Arena, in der nach vielen Verzögerungen endlich ab 2014 der Ball rollen soll. Auch in Kasan und Sotschi wird gebaut, in Jekaterinburg könnte das jüngst rekonstruierte Zentralstadion mit mobilen Tribünen für die WM erweitert werden. Alle anderen Stadien sind erst in der Planung. Vor 2018 erwarten Russland noch andere sportliche Großereignisse: die Weltsportspiele der Studenten 2013 in Kasan, die Olympischen Winterspiele 2014 und die Eishockey-WM 2016 in Moskau und Sankt Petersburg.

Kickschuhe – Jugendkult um die „Bootsy“ Vor zehn Jahren fehlte vielen russischen Jugendlichen das Geld fürs richtige Schuhwerk. Heute kaufen selbst die Elfjährigen nur noch Schuhe, die von Messi empfohlen werden. tino künzel

für russland heute

Eine kleine Stadt in Nordrussland, ein kleiner Sportladen und ein kleiner Kunde vor dem Regal mit den Fußballschuhen. Iwan Gajkowitsch ist erst elf, deshalb hat er seine Eltern dabei, „die Brieftasche“, wie er grinsend sagt. Beratung braucht er keine, Iwan weiß genau, was er will. Verkäufer Alexander, 21, kennt das schon: „Die Kinder sehen im Fernsehen, welcher Spieler welche Schuhe trägt. Danach entscheiden sie sich und sind nicht mehr umzustimmen.“ Iwan lässt sich weiße Nockenschuhe von Adidas kaufen, Größe 37. Sie haben pinkfarbene Schnürsenkel und kosten umgerechnet 100 Euro. Sein Vater Alexej, von Beruf Kraftfahrer, sieht darin „kein Problem“. Einmal im Jahr sei ihm die Fußballbegeisterung seines Sohnes eine solche Investition wert. Mitreden bei der Aus-

Tino Künzel

onalen Kick“ bitter nötig, sekundierte die Regierungszeitung Rossijskaja Gaseta. Advocaat leistete sich derweil eine neue Instinktlosigkeit: Sein EMAufgebot stellte er nicht selbst vor, sondern ließ es vom Fußballverband veröffentlichen. Russischen Journalisten stand er an diesem Tag für Nachfragen nicht zur Verfügung, weil er in Holland erklärte, warum er nach der EM Trainer beim PSV Eindhoven wird. Der Kader hat sich im Vergleich zu 2008 nur geringfügig verändert: Mit Ausnahme von Torjäger Alexander Kerschakow und Abräumer Igor Denisow (beide Zenit) setzt Advocaat auf dieselben Leistungsträger wie sein Vorgänger. Das hat auch damit zu tun, dass es trotz hoher Investitionen in Trainingszentren an geeignetem Nachwuchs fehlt.

„Russland wird 2018 Weltmeister“, war das Erste, was die Russen über die Fußball-WM 2018 hörten. So sprach Sergej Fursenko, als er vor zweieinhalb Jahren Präsident des Russischen Fußballverbands werden wollte. Die Mannschaft hatte gerade die Teilnahme an der WM 2010 verpasst, und Bewerber für das Amt gab es genau einen: ihn selbst. Sich so weit aus dem Fenster zu lehnen, wäre also gar nicht nötig gewesen. Der ehemalige Geschäftsführer einer GazpromTochter und Expräsident des aktuellen Fußballmeisters Zenit St. Petersburg führte trotzdem so etwas wie Wahlkampf und schreckte die Öffentlichkeit mit gewagten Thesen auf. Er sagte nicht „wir wollen“, sondern „wir werden“, und hielt Skeptikern entgegen, wer sich keine unmöglichen Ziele setze, der werde selbst die möglichen nicht erreichen. Dass Fursenko für sein Mantra vom Weltmeistertitel 2018 eher belächelt wird, ist ihm egal – er wiederholt den Satz regelmäßig.

itar-tass

russland heute

Schwarz-weiß war gestern: die zwei Nachwuchsfußballer Iwan Gajkowitsch und Pawel Gretschichen mit ihren bunten Fußballtretern

wahl kann er nicht: „Da verstehen die Jungs viel mehr davon, die informieren sich im Internet und tauschen sich aus.“ Das russische soziale Netzwerk vk.com mit seinen 100 Millionen Usern ist der virtuelle Treffpunkt für diesen Austausch – und der Nährboden für einen bisher beispiellosen Kult um das Schuhwerk. Zwischen Schule und Training werden Fotos der angesag-

testen, farbenfrohesten Modelle gepostet und Grundsatzfragen erörtert wie: F50, T90 oder doch lieber CTR360? Oft nehmen die „Bootsy“, wie Fußballstiefel auf Anglorussisch heißen, sogar die Stelle des eigenen Profilbildes ein. Aus dem Alter sei er mittlerweile raus, sagt der Elfjährige Iwan lächelnd. Für ihn zählen die praktischen Eigenschaften der Schuhe. „Leicht müs-

sen sie sein“ und von Leo Messi empfohlen, seinem Idol vom FC Barcelona. Dort würde der Fünftklässler irgendwann gern spielen. Begabt sei er ja, führt den Ball eng am Fuß, schießt mit links wie rechts. In der Auswahl seines russischen Oblast, größer als Deutschland, lobt man sein Talent. Aber Barcelona? Sosnogorsk, Iwans Provinzstadt mit ihren 28 000 Einwohnern, ist von Moskau eine Tagesreise mit dem Zug entfernt. Der Sport verringert zumindest die gefühlte Distanz ein wenig. In den letzten fünf Jahren wurden zwei Sporthallen, eine Eishalle und mehrere Kunstrasenplätze eröffnet. Auch die Kaufkraft steigt. Nachwuchstrainer Denis Kulikow, 37, erzählt, dass ihm der Markenhunger allerdings schon wieder zu weit gehe: „Die lassen sich von der Werbung den Kopf verdrehen.“ Die Sportartikelhersteller machen glänzende Geschäfte, allen voran Adidas. „Russland und die GUS ist unser drittgrößter Markt nach den USA und China“, sagt Firmensprecher Jan Runau. 2012 erwartet Adidas dort erstmals mehr als eine Milliarde Euro Umsatz.


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Feuilleton

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im gespräch

Von den Wickingern bis zum Fall der Berliner Mauer peter brinkmann

für russland heute

Was hat eine Stiftung, die sich mit Preußen beschäftigt, eigentlich mit Russland zu tun? Wir haben langjährige Kulturbeziehungen zu Russland. Und natürlich verbinden uns auch die kriegsbedingt nach Russland verbrachten Kulturgüter. Das Beutekunstproblem muss eines Tages politisch gelöst werden. Unabhängig davon arbeiten wir auf der Fachebene zusammen, indem wir gemeinsame Ausstellungen oder Forschungsprojekte organisieren. Wie haben sich die Beziehungen zwischen Russen und Deutschen kunsthistorisch entwickelt? Die neue Ausstellung soll deutlich machen, wie sich die Beziehungen zwischen Deutschen und Russen seit 1000 Jahren entwickelt haben. Unsere gemeinsame Geschichte beginnt im 10. Jahrhundert, als sich das Ottonische Reich aus dem Karolinger Reich gelöst hatte und im Osten die Herrschaft der Kiewer Rus als Grundlage des späteren Russlands entstanden war. Es beginnt also mit der Herausbildung der europäischen Staatenwelt an der Schwelle zum Hochmittelalter. Mit vielen Gemeinsamkeiten oder mehr Unterschieden? Es gibt viele Gemeinsamkeiten, obwohl Russland und Deutschland nicht immer direkte Nachbarn waren. Die Beziehungen waren auch konfliktgeladen, wobei sie mit dem Zweiten Weltkrieg ihren absoluten Tiefpunkt erreicht hatten. Aber das Interesse an Geschichte und Kultur des jeweils anderen ist seit jeher ausgeprägt und mischt sich mit einer gegenseitigen Anziehung. Zum Beispiel? Nehmen Sie Peter den Großen. Für Russland war er in seiner Zeit

der große Türöffner nach Westen. Geopolitisch blickt Russland heute nach Westen wie nach Osten: Kulturell fühlt man sich als Teil Europas, dennoch ist Asien lebenswichtig, ohne dass sich Russland dadurch aber von Europa abwenden würde. Ist es dann eher eine Kunst- als eine historische Ausstellung? Es geht um einen riesigen Zeitraum. Die Ausstellung soll im besten humboldtschen Sinne erfreuen und belehren und dabei russische Spuren in der deutschen Geschichte und deutsche Spuren in der russischen erklären. Es beginnt mit den Wikingern, dann folgen die Hanse und deren Handelsbeziehungen bis Nowgorod, die deutsche Vorstadt in Moskau, deutsche Wissenschaftler im Sankt Petersburg Peters des Großen, die dynastischen Verbindungen des 19. Jahrhunderts oder der Beitrag russischer Künstler bei der Ausgestaltung der Moderne. Für jede Epoche haben wir Fallbeispiele. Aus den verheerenden Ereignissen im Zweiten Weltkrieg erwächst für uns die besondere Verpflichtung, eine friedliche Zukunft gemeinsam zu gestalten. Das empfinden die Deutschen ebenso wie die Russen. Es ist deswegen keine Kunstausstellung im herkömmlichen Sinne und auch keine rein historische.Es ist beides, und das ist das Neue. Sie wollen also die Geschichte zwischen Russen und Deutschen mit wichtigen Ereignissen erklären. Welche wären das? Einige nenne ich gerne: den deutsch-russischen Handel im Hochmittelalter und in der Hansezeit mit dem deutschen Kontor in Nowgorod; die Bronzetür im Dom zu Nowgorod, ein Werk Magdeburger Bronzegießer; den Nowgoroder Bischofspalast aus dem 14. Jahrhundert norddeutscher Baumeister; Deutsche in Moskau im 16. und 17. Jahrhundert – Buchdrucker, Handwerker und Kaufleute; Katharina die Große, übrigens eine Deutsche, ihren Erwerb deutscher Kunstsammlungen und die Anwerbung der ersten deutschen Siedler. Nicht zu vergessen

Informationen

Eine Stiftung für Preußens Kultur Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, gegründet 1957, gehört heute zu den größten Kultureinrichtungen weltweit. Sie wird zu 75 Prozent vom Bund, zu 25 Prozent von den Ländern getragen. Ihre Hauptaufgabe bestand zunächst darin, die Kulturgüter des ehemaligen Staates Preußen zu erhalten und zu pflegen. Seit der Wende bemüht sich die Stiftung um die Zusammenführung bislang getrennter Sammlungen. Zur Stiftung gehören unter anderem die Museumsinsel und die Staatsbibliothek in Berlin. Bei der jetzigen Ausstellung ist auf deutscher Seite das zur Stiftung gehörende Museum für Vor- und Frühgeschichte federführend, auf russischer Seite das Staatliche Historische Museum in Moskau.

Deutsche Regentin: das Bildnis Katharinas II. von Fedor Rokotov (o.); Goldarmband von Andrej Bogoljubskij (r.)

die Russlandbegeisterung in Preußen, ausgedrückt durch die Kolonie Alexandrowka in Potsdam und Russlandreminiszenzen in der Architektur jener Zeit. Und im Süden Baden-Baden und andere Kurorte als Zielpunkt russischer Reisender. Aber dann kam der Krieg. Ja. Der Zweite Weltkrieg war der große Konflikt. Wir gehen auch darauf ein, bearbeiten dieses bis heute prägende Ereignis dabei besonders eindrucksvoll. Die Ausstellung endet dann mit dem Mauerfall 1989 und dem Beginn einer neuen Epoche in den bilateralen Beziehungen.

Was ist Ihr „liebstes Kind“ in der Ausstellung? Als Anhänger der Moderne gefallen mir die russischen Künstler

Sie haben selbst länger in Russland gelebt, wie kam es dazu? Ich bin Archäologe und seit nun 18 Jahren bei Ausgrabungen in Russland beteiligt, besonders in Sibirien. Ich lese und spreche ganz gut Russisch. Sonst ginge das auch nicht.

Ural Youth Symphony Orchestra

Internationales Tanzfest: Tanz im August

8. August, Berlin, konzerthaus am Gendarmenmarkt, 20 Uhr

10.-25. August, Berlin, Theater Hebbel am Ufer

Seit 1997 versuchen führende deutsche und russische Historiker in der „Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen“ einen Zugang zu strittigen Themen der gemeinsamen Geschichte zu finden. Dieses Mal geht es um die deutsch-russischen Kulturbeziehungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Eines der besten russischen Jugendorchester Russlands reist aus Jekaterinburg nach Berlin und vertritt auf dem Festival „Young Euro Classic“ Russland. Unter der Leitung des Dirigenten Enkhbaatar Baatarjav präsentiert das Orchester Werke von Peter Tschaikowsky, Nikolai Rimsky-Korsakow, Dmitri Schostakowitsch und eine Uraufführung: In „Lux Aeterna“ von Olga Viktorowa wird das Phänomen des Lichts musikalisch umgesetzt.

Im Juli lädt das Moskauer Tanzstudio TsEKH (sprich: Zech) Tänzer und Ensembles aus ganz Russland zu einer „Sommerschule“ ein. TsEKH existiert seit zehn Jahren und gilt in Russland als wichtigste Institution für zeitgenössischen Tanz. Im Anschluss an die „Sommerschule“ präsentiert sich eine Auswahl der Tänzer auf dem Berliner Festival „Tanz im August“ im Theater Hebbel am Ufer sowie Ende August im Tanzhaus NRW in Düsseldorf.

›› hsu-hh.de

›› young-euro-classic.de

›› tanzimaugust.de

4.-8. Juli, Hamburg, Helmut-SchmidtUniversität

Im Juni beginnt in Deutschland das Russlandjahr und in Russland das Deutschlandjahr. Die Organisation obliegt dem Goethe-Institut und dem Ministerium für Kultur der Russischen Föderation für jeweils das andere Land. In Russland wird der Schwerpunkt 2012 in Moskau und Sankt Petersburg liegen, ab 2013 in den Regionen. Was in Deutschland los ist, lesen Sie im Veranstaltungskalender und in den kommenden Ausgaben.

Wo und wann wird die Ausstellung gezeigt? Ab dem 20. Juni im Historischen Museum in Moskau und ab dem 6. Oktober im Neuen Museum in Berlin.

Gibt es im Rahmen des Deutschlandjahres noch weitere Projekte in Russland, an denen die Stiftung Preußischer Kulturbesitz beteiligt ist? Ja, z. B. eine Ausstellung zu Joseph Beuys in Moskau. Daran wirkt unser Museum für zeitgenössische Kunst im Hamburger Bahnhof mit.

SpeziaL Das Russlandjahr in Deutschland Jahrestagung der deutsch-russischen Historikerkommission

Zwei Nationen tauschen sich aus

des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts am besten. Das ist ja auch eine Zeit ganz besonders fruchtbarer Beziehungen zwischen Russland und Deutschland.

pressebild (3)

Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, über die Höhen und Tiefen der deutsch-russischen Geschichte: ein Ausstellung in Moskau und Berlin.


Feuilleton

RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU

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LESENSWERT

Deutsch-Russische Festtage Berliner Begegnungen bei Wodka und Currywurst

Feiern auf der Trabrennbahn

Tschechow dramatisch

Es gibt die französischen, die amerikanischen – und seit 2007 auch die Deutsch-Russischen Festtage. Drei Tage lang wird in Ostberlin auf „Druschba“ und „Freundschaft“ angestoßen. ARIANE MANN

FÜR RUSSLAND HEUTE

Russen in Lichtenberg

Die Verbundenheit ist besonders im Berliner Bezirk Lichtenberg zu spüren, wo deutsch-russische Vergangenheit, aber auch die Gegenwart eng verflochten sind. Das Deutsch-Russische Museum mit dem historischen Kapitulationssaal hat hier seinen Sitz ebenso wie die Russisch-Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats. Von der Kita über Grundschule und Gymnasium bis zur Hochschule, überall kann man hier die russische Sprache lernen. Die Bildungseinrichtungen haben sich dazu in einem bilingualen Lichtenberger Netzwerk zusammengeschlossen und präsentieren ihre Erfolge auf dem Volksfest. Früher, als hier noch die sowjetischen Streitkräfte stationiert waren, gab es Freundschaftsfeste. Die heutigen Festtage sehen sich allerdings nicht als Fortsetzung. Und doch setzen sich manche Freundschaften fort, andere entstehen neu. Das bestätigen auch Lisa und Veronika. Sie kamen mit ihren Eltern vor 15 Jahren nach Deutschland, gingen in Berlin zur Schule und studierten Betriebswirtschaft und Modedesign. „Auf der Trabrennbahn in Karlshorst konnten wir nicht nur populäre Rockmusik live erleben, wir haben auch andere Jugendliche mit ähnlicher Geschichte getroffen und fühlten

Die Höhepunkte Eine Terminauswahl der DeutschRussischen Festtage: MUSIK 8. Juni, 19 Uhr, Eröffnungskonzert mit Pelageya, City, Dirk Zöllner und dem Trio BRAVO+ TANZ 9. Juni, 22 Uhr, Russendisko „Russkij Variant“ – russische Beats für junge Herzen FILM 10. Juni, 14-18 Uhr, 100 Jahre russische Animation, Dokus, Kurzfilme

Früher, als hier die sowjetischen Streitkräfte stationiert waren, gab es auf der Trabrennbahn Freundschaftsfeste. uns gleich heimisch.“ Die zweite Generation der Einwanderer hat einen deutschen Pass, fühlt sich aber mit der Heimat der Vorfahren nach wie vor sehr verbunden. Heute stehen die beiden jungen Frauen nicht nur hinter den Verkaufsständen, sondern gehören zu den aktiven Mitgestaltern. Mit ihren Ideen, ihrer Zweisprachigkeit und vor allem ihrem emotionalen Engagement bereichern sie die Festtage und sind wichtige und verlässliche Partner der Veranstalter. Ohne sie gäbe es so man-

ITAR-TASS

Wenn auf der Trabrennbahn Karlshorst überwiegend russische Klänge zu hören sind, neben Currywurst und Bier auch Pelmeni, Schaschlik, Kaviar, Kwas und Wodka angeboten werden, im nachgebauten Kreml deutsche und russische Autoren lesen, am „Arbat“ Bernsteinketten aus Kaliningrad verkauft werden und russische Folklore und deutsche Rockmusik sich auf einer Bühne vereinen – dann ist man vermutlich bei den Deutsch-Russischen Festtagen gelandet. Zum sechsten Mal begegnen sich vom 8. bis zum 10. Juni hier zwei Nationen, die viel miteinander verbindet.

Russische Stimme: Pelageya begeistert mit ihrem kraftvollen Gesang.

che Band nicht, die Gäste zu den Festtagen lockt. In diesem Jahr kommen mit BI-2 und Nogu Svelo zwei bekannte russische Rockgruppen nach Berlin.

„Kalinka und „Katjuscha“

Die Veranstalter sind russlandbegeisterte Berliner. Im Jahr 2005 wurde die Idee zu einem derartigen Volksfest geboren. Denn obwohl Berlin als das Tor zu Osteuropa gilt, fehlte Vergleichbares zu den alljährlichen amerikanischen und französischen Festwochen. Aus der Idee wurde ein Konzept und im Dezember 2005 der gemeinnützige Verein Deutsch-Russische Festtage e.V., der seitdem in ehrenamtlichem Engagement und mit fi nanzieller Unterstützung von Gazprom Germania und anderen Unternehmen die Festtage organisiert. Kamen zu den ersten Festtagen im Juni 2007 50 000 Besucher, sind es inzwischen 150 000. Nicht nur viele Berliner und die hiesige russischsprachige Community haben das Fest angenommen. Die Gäste stammen aus verschiedenen Teilen Deutschlands, manche planen ihre Berlinreise aus München oder Stuttgart bewusst zu dem Event. In diesem Jahr sind die Festtage Bestandteil des Russ-

landjahres in Deutschland, das im Juni beginnt. „Wir zeigen, dass das heutige Russland ein interessanter Markt ist, junge Menschen mit Russischkenntnissen gute Berufschancen haben, aber auch Kultur und Tourismus einiges zu bieten haben“, sagt Veranstalter Steffen Schwarz. Neben dem bewährten Literaturzelt, dem Jazzfestival und einem Boxturnier gibt es dieses Mal Theateraufführungen in deutscher und russischer Sprache und ein Filmfest. Und auch wenn das moderne Russland im Fokus steht – ohne Folklore würde die russische Seele fehlen. Wird auf der Bühne „Kalinka“ oder „Katjuscha“ angestimmt, singen die Zuhörer auf dem grünen Rasen und den Besuchertribünen mit, tanzen und klatschen – von den Großeltern bis zu den Enkeln, ob an Wolga, Moskwa oder Spree geboren. Und die russischen Teenager mögen noch so cool sein – wenn „Podmoskownyje Wetschera“ gesungen wird, gehen sie versonnen oder leidenschaftlich mit. Zum Eröffnungskonzert am 8. Juni wird die stimmgewaltige Folkrocksängerin Pelageya erwartet. Weitere Informationen auf www.drf-berlin.de

SPEZIAL DAS RUSSLANDJAHR IN DEUTSCHLAND USEDOMER MUSIKFESTIVAL 15. SEPTEMBER-7. OKTOBER, USEDOM

Über die Ostsee sind Russland und Deutschland bis heute verbunden. Jahrhundertelang waren sie direkte Nachbarn, und die gemeinsame Geschichte ist das Thema des Musikfestivals 2012. Erstmals hat das Festival ein „Orchestra in Residence“ eingeladen: das Akademische Sinfonieorchester Nowosibirsk unter der Leitung von Thomas Sanderling. Nach 19 Jahren kehrt auch Kurt Masur zum Festival zurück und dirigiert unter anderem Modest Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“. › usedomer-musikfestival.de

„RUSSEN UND DEUTSCHE. 1000 JAHRE KUNST, GESCHICHTE UND KULTUR“ 6. OKTOBER-13. JANUAR, BERLIN, NEUES MUSEUM

Erstmals widmet sich eine Ausstellung der langen, wechselvollen gemeinsamen Geschichte von Deutschen und Russen: von ersten Kontakten über den intensiven dynastischen Austausch in der Neuzeit, die Katastrophen im 20. Jahrhundert bis zum Neubeginn. Ab Juni ist die Ausstellung im Museum für Geschichte in Moskau zu sehen, dann kommt sie nach Berlin. › neues.museum.de

„ZWISCHEN ORIENT UND OKZIDENT. DIE KUNSTSCHÄTZE DES KREML VON IWAN DEM SCHRECKLICHEN BIS ZU PETER DEM GROSSEN“

VÄTERCHEN FROST AUF DEUTSCHLANDTOURNEE DEZEMBER, PEINE

Die Rüstkammer des Moskauer Kreml bringt ihre Schätze für einige Monate ins Dresdener Residenzschloss: Mehr als 160 Meisterwerke aus den KremlMuseen veranschaulichen, wie der Zarenhof mit Prunk seine Macht inszenierte. Im Mittelpunkt steht dabei die Bedeutung des Kreml als Schnittstelle westlicher und östlicher Kultur.

„Väterchen Frost“, auf Russisch „Djed Maros“, ist die russische Version des Weihnachtsmannes. Meist tritt er rund um Neujahr in Begleitung einer bezaubernden „Snegurotschka“ auf. Vor einigen Jahren erklärte sich die im russischen Norden gelegene Stadt Weliki Ustjug ganz selbstbewusst zur Heimat des Djed Maros – und eröffnete im letzten Jahr gar eine Ständige Vertretung in der Stadt Peine. Dort wird er nun kurz vor Weihnachten seine Deutschlandtournee starten.

› skd.museum.de

› peinemarketing.com

AB 6. NOVEMBER, DRESDEN, RESIDENZSCHLOSS

Eine Warnung vorweg: Wer sich für das Leben von Anton Tschechow interessiert, sollte lieber die 1997 auf Englisch erschienene Biografie von Donald Rayfield lesen. „Tschechow oder die Geburt des modernen Theaters“ dagegen ist ein Buch über die Anfangsjahre des Moskauer Künstlerischen Theaters unter Wladimir Nemirowitsch-Dantschenko und Konstantin Stanislawski, über die Impulse und Handlungen, die 1897 zu seiner Gründung führten. Und doch ist es auch ein Buch über Tschechow, der diesem Theater mit seinen Stücken zum Durchbruch verhalf und es zum legendären Tschechow-Theater werden ließ. Der Stanislawski-Forscher und Übersetzer Dieter Hoffmeier stellte Erinnerungen der beiden Theatergründer zusammen, endlich nun auf Deutsch. Man erfährt viel über das damalige kulturelle und soziale Leben Russlands, über das alte Theater mit seinen Schablonen, Grobheiten und Rührseligkeiten. Der Kampf gegen die staatliche Zensur und die orthodoxe Kirche, die Stücke von Wilde und Hauptmann verbot, entlarvt verknöchertes Denken, treibt das junge Theater fast in den Bankrott. Erstaunlich modern erscheint vor diesem Hintergrund der ästhetische und wirtschaftliche Entwurf des neuen Theaters. Dann betritt Tschechow mit seiner Kunst der leisen Halbtöne die Bühne, zwei Jahre nach dem Skandal um sein Stück „Die Möwe“, als er tief verletzt nie mehr für das Theater schreiben wollte. Die Moskauer Premiere der „Möwe“ wird zu einer nervenaufreibenden Zitterpartie. Stanislawski will vor Angst seinen Namen vom Plakat streichen lassen, Tschechows Schwester Maria will die Premiere verhindern … und es kommt zum umjubelten Erfolg, später zur Ausbreitung eines tschechowschen Weltgefühls im Theater. Gebannt und oft amüsiert folgt man als Leser dem Geschehen. Konstantin Stanislawski, Wladimir NemirowitschDantschenko: „Tschechow oder die Geburt des modernen Theaters“. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Dieter Hoffmeier, Alexander Verlag Berlin, 360 Seiten, 24,99 Euro

Ruth Wyneken


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Feuilleton

www.russland-heute.de Russland Heute Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau

Lebensläufe Im Zarenreich legte Heinrich Schliemann den Grundstein für seinen Reichtum

Neubukow, Sankt Petersburg, Troja Vor 140 Jahren entdeckte der deutsche Abenteurer und Archäologe Heinrich Schliemann das verloren geglaubte Troja. Seine Ausgrabungen finanzierte er durch Geschäfte in Russland. manfred flügge

Andere träumten von ihrem Glück in Amerika, Heinrich Schliemann machte es in Russland. Sein Weg führte ihn über Amsterdam, wo der Mecklenburger mit 21 Jahren buchstäblich strandete. Angeblich war sein Schiff, das ihn nach Südamerika bringen sollte, vor der holländischen Küste zu Bruch gegangen. Aber vielleicht kam der Sohn eines protestantischen Pfarrers auch ganz normal mit der Postkutsche an. Mit der Wahrheit nahm er es nie so genau. Nach drei Hungerjahren erhielt er 1844 eine Anstellung bei B. H. Schröder & Co., einer Firma, die mit Indigo handelte, jenem Farbstoff, der zum Einfärben von Uniformen diente und meist aus Asien importiert wurde. Schliemann lernte Englisch und durfte im Korrespondenzbüro arbeiten.

vostock-photo

für russland heute

Ausgrabungen in Troja: 1873 erklärte Schliemann, die Überreste der antiken Stadt gefunden zu haben.

Der Weltmann aus dem Dorf

Indigo war ein vorzügliches Geschäft. Die Preise waren stabil, und bis dieser Farbstoff synthetisch hergestellt werden konnte, sollten noch Jahrzehnte vergehen. Kaum in Russland etabliert, machte Schliemann Reisen durch Westeuropa, besuchte Hamburg, Lübeck, Paris und London. Er informierte sich über technische Fortschritte, neue Maschinen und

kulturkalender

erfahren sie mehr über russische kultur auf

russland-heute.de

Deutscher, Russe, Amerikaner und Grieche

DPA/vostock-photo

Als B. H. Schröder & Co. auf dem russischen Markt Fuß fassen wollte, sah Schliemann seine Chance: Nach eigener Methode lernte er in nur wenigen Wochen so gut Russisch, dass er im Januar 1846 als Firmenvertreter in die damalige Hauptstadt Sankt Petersburg geschickt wurde. Sogleich streckte er seine Fühler aus: Er verschaffte sich einen Eindruck von Gesellschaft, politischer Situation und Geschäftsmöglichkeiten, sah sich in dem großen Land um und reiste mit dem Pferdeschlitten nach Moskau. Schon im Februar 1847 beantragte er die russische Staatsbürgerschaft, gründete seine eigene Firma, wurde als Kaufmann der Zweiten Gilde in Sankt Petersburg registriert und eröffnete ein Kontor im großen Handelshof am Newski-Prospekt. Ein Jahr später hatte er 6000 Silberrubel verdient und konnte sich eine große Wohnung mit Bediensteten leisten.

bridgeman art/fotodom

Indigo für Russland

nannt, wohnte jedoch meist in Paris, wo ihm mehrere Häuser gehörten. Gleichwohl wurde ihm und seiner Familie in Sankt Petersburg die erbliche Ehrenbürgerschaft zugestanden, der höchste Rang, den ein Nichtadliger in Russland erreichen konnte. Die Lektüre von Iwan Gontscharows Reisebuch „Die Fregatte Pallas“ verstärkte sein Fernweh. Und so machte er 1865 eine Weltreise, die ihn nach China, Japan und Kalifornien führte. Im März 1869 erwarb er in New York die amerikanische Staatsbürgerschaft. Gekaufte Zeugen beschworen, dass er schon fünf Jahre im Lande lebe, dabei waren es nur wenige Wochen. Kurz darauf ließ er sich im Bundesstaat Indiana von seiner russischen Frau (die zu Hause geblieben war) scheiden. Wie die meisten seiner Probleme regelte er auch dies mit Geld. Bei seinem letzten Besuch in Sankt Petersburg hatte seine Frau ihn verhaften lassen wollen, aber Schliemann konnte auf abenteuerliche Weise aus seinem Haus und aus Russland fliehen. Inzwischen hatte er eine neue Leidenschaft entdeckt: Troja.

Reicher Abenteurer: Schliemann liebte Gold und Ruhm. Links eine von ihm ausgegrabene mykenische Totenmaske, rechts Schliemann mit seiner erstern Frau Jekaterina aus Sank Petersburg

Kommunikationsmittel und besuchte stets die großen Museen der Städte. Diese rastlosen Reisen prägten sein Leben in einer Zeit, in der Eisenbahnstrecken erst ausgebaut wurden und die Dampfschifffahrt noch in ihren Anfängen steckte. Bald handelte Schliemann auch mit Salpeter, Holz, Kaffee, Wein und Papier, informierte sich über Goldfunde in Amerika und Australien und führte eine weltweite Korrespondenz. Der Mann, der aus dem winzigen Dorf Neubukow stammte, dachte und handelte weltmännisch, Basis all seiner Unternehmungen blieb Sankt Petersburg. Als Schliemann im Jahr 1864 all seine Geschäfte liquidierte, galt er als einer der reichsten Männer Europas, sein Vermögen betrug an die zehn Millionen Goldmark. Dabei hatte er vor allem vom

Konzert Mumij Troll 15. Juni, Hamburg, Dock’s Club

Krimkrieg zwischen 1853 und 1856 profitiert. Er lieferte ein Drittel des von der zaristischen Armee verschossenen Pulvers sowie das gesamte Indigo, mit dem die Uniformen eingefärbt wurden. Er war ein erfolgreicher Spekulant, weil er unermüdlich und immer gut informiert war. Und er hatte Glück: Bei einem Brand im Hafen von Memel wurden allein seine Kaffeelieferungen verschont, was den Preis seiner Vorräte ins Unermessliche steigerte.

Scheidung aus der Ferne

Privat sah sein Leben weniger glücklich aus. 1852 heiratete er die Kaufmannstochter Jekaterina Lyschina in der Petersburger Isaakskathedrale, die 15 Jahre lang seine Frau blieb und ihm drei Kinder schenkte. Schliemann war eine hektische, getriebene Persön-

Preis Verleihung des n-ostReportagepreises

Nach nur einem Jahr in Russland konnte sich Schliemann eine große Wohnung mit Bediensteten leisten. lichkeit – seine Frau liebte Komfort und Ruhe. Vor allem wollte sie ihre geliebte Heimat nicht verlassen, während Schliemann erwog, nach Dresden oder Paris umzusiedeln. Seit etwa 1860 ließ ihn der Gedanke nicht mehr los, die Geschäfte aufzugeben und sein Leben zu verändern. Zudem hatte er immer wieder Streit mit seiner Frau. Ablenkung fand er in ausgiebigen Reisen in seine Heimat, in die Ägäis und den Orient. 1861 wurde er auf drei Jahre zum Handelsrichter in Sankt Petersburg er-

Konzert BriZ/Unty Murugana 16. Juni, Stuttgart, Club Zentral

15. Juni, Berlin, Grüner Salon

Die Band um Sänger Ilja Lagutenko landet mit dem Schiff „Sedow“ im Hamburger Hafen und rockt den Club: Mumij Troll aus Wladiwostok sind seit zwei Jahrzehnten die innovativste Rockband des Landes. 2009 versuchten sie den Durchbruch in den USA mit einem englischsprachigen Album. ›› docks.de

Um Ausgräber in Kleinasien zu werden, stellte der „Amerikaner“ Schliemann sein ganzes Leben auf den Kopf: Er heiratete die 17-jährige Sophia Engastroménos in Athen, wo er eine fantastische Villa bewohnte. Und er grub den Hügel aus, auf dem vielleicht einmal das mythische Troja gelegen hatte (die entsprechenden Informationen hatte er einem englischen Gelehrten abgekauft). In dem Maße, in dem er als TrojaAusgräber weltweiten Ruhm erwarb, verklärte er sein eigenes Leben ins Legendenhafte – das war Schliemanns Paradoxon. Es gehört zu den Pointen dieses erstaunlichen Lebens, das 1890 in Neapel endete, dass die Schätze, die er dank seines in Russland erworbenen Reichtums ausgraben und nach Deutschland bringen konnte, 1945 in das PuschkinMuseum in Moskau gelangten, was man aber erst seit wenigen Jahren weiß. Nun wird darüber verhandelt, ob und wie die TrojaSchätze wieder nach Berlin zurückkehren können. Aber das ist eine andere deutsch-russische Geschichte. Manfred Flügge lebt als Schriftsteller in Berlin. Er schrieb mehrere Romane, Theaterstücke und Biografien, darunter eine über Heinrich Schliemann.

Literatur Russland-Woche an der Universität Regensburg 25.-30. Juni, Regensburg

Das Journalistennetzwerk n-ost hat es sich zur Aufgabe gemacht, Europas Osten abseits der ausgetretenen Pfade zu erkunden. An diesem Abend werden die besten Reportagen des letzten Jahres in den drei Kategorien Text, Radio und Foto vergeben.

Zwei junge Bands präsentieren sich in Stuttgart: BriZ vereint vier Musiker aus Russland, Kirgistan, England und Syrien mit russischem Funkrock. Unty Murugana umspielt mit Ethnojazz die Gesänge der stimmgewaltigen Margarita Kirchmeier, deren Songs teilweise auf russischen Volksliedern basieren.

Die Woche umfasst die Teile „Junge russische Literatur“ und „Deutsche in Moskau: 1812“. Dazu gibt es einen Übersetzerworkshop mit Christiane Körner und dem Erzähler Denis Osokin. Gezeigt wird der Film „Goldammern“ nach Osokins Drehbuch.

›› n-ost.org

›› club-zentral.de

›› uni-regensburg.de


Meinung

Russland Heute www.russland-heute.de Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau

medwedjews karussell Georgi Bowt

politologe

W

ären wir im Jahr 2008 und nicht 2012 – und wäre Dmitri Medwedjew zum Premierminister ernannt worden, ohne zuvor Präsident gewesen zu sein –, hätte seine neue Regierung vermutlich einen besseren Eindruck hinterlassen. Man mag einwenden, dass die neue Regierung ohne das Putin-Gespann Igor Setschin und Wiktor Subkow zum Liberalen tendiert. Selbst Igor Schuwalow, der einzige Vizepremier aus der alten Regierung, der sich die Verbesserung des Investitionsklimas auf die Fahnen geschrieben hat, gilt als liberaler Vordenker. Medwedjews Präsidentenagenda machte den Bürgern Hoffnung, dass politische Veränderungen, Reformen, Modernisierung und das Ende der Korruption anstünden – durch neue Gesichter in der Verwaltung. Diese Hoffnungen konnte er während seiner vier Jahre als Präsident nicht erfüllen. Deshalb gibt auch Medwedjews von Putin genehmigte Regierung wenig Grund zur Hoffnung: Wunder erwartet von dieser Regierung niemand, und selbst das Wörtchen Modernisierung ist aus der Mode gekommen. Als Medwedjew im Mai sein Kabinett vorstellte, betonte er, dass drei Viertel der Posten neu besetzt wurden. Formal hat er recht, inhaltlich sind alle Beamte, von drei Positionen einmal abgesehen, entweder frühere Vizeminister oder Leute vom Kreml.

Letzten Endes ist klar, dass die Entscheidungen weiterhin von Putin und seiner Mannschaft getroffen werden. Unter den Ministern, die unmittelbar dem Präsidenten unterstehen, gibt es nur wenige neue Gesichter. So ersetzte der Expolizeichef Moskaus Wladimir Kolokoltsew den in Ungnade gefallenen Innenminister Rasсhid Nurgalijew. Anatolij Serdjukow, der nicht weniger unbeliebte Verteidigungsminister, behielt jedoch seinen Posten, weil Putin ihn für den besten Kandidaten hält, um die Armee neu auszurüsten und zu modernisieren.

Viele Bürger sind begeistert, dass die neue Gesundheitsministerin Weronika Skwortsowa eine Medizinerin in fünfter Generation ist – im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin Tatjana Golikowa. Skwortsowa war jedoch ihre Stellvertreterin, und somit dürfte sie den eingeschlagenen Kurs beibehalten. Die Ablösung der Landwirtschaftsministerin Jelena Skrynnik erscheint ebenfalls suspekt: Sie hat gute Arbeit geleistet, die russische Landwirtschaft boomt. Skrynnik ist eine starke Persönlichkeit und scheute nicht vor offenen Worten zurück, selbst nicht gegenüber Putin. Offensichtlich hatte Medwedjew für eine solche Person in seinem Kabinett keinen Platz. Professionalität hat in den Regierungen Russlands gegenüber Gehorsam häufig das Nachsehen.

Putin bestand darauf, dass der Finanzminister Anton Siluanow, der vor Kurzem Alexej Kudrin auf diesem Posten ersetzte, diese Position auch beibehält. Somit wird dieses Ministerium unter strengen Staatsfittichen stehen. Der ehemalige Präsidentenberater für Wirtschaft, Arkadi Dworkowitsch, ist Vizepremier geworden. Doch wird er in dieser Rolle erreichen können, was er auf seinem früheren Posten vergeblich versucht hat? Und hat sich das Investitionsklima in Russland in den letzten vier Jahren, in denen Schuwalow als Vizepremier im Amt war, tatsächlich verbessert? Der neue Minister für Wirtschaftsentwicklung Andrej Beloussow war auch schon vorher im Ministerium und legte zum Teil progressive Wirtschaftsideen vor. Sein Manko ist nur, dass keine von ihnen umgesetzt wurde. Vielleicht finden diese neuen Ideen ihren Ausdruck in Medwedjews „transparenter“ Innenpolitik. Falls nicht, würden sie das Volk bei Laune halten, jetzt, wo es ein eigenes Ministerium für transparente Politik – offiziell „offene Regierung“ – gibt. Das heißt wohl, dass der Regierungs-PR nun deutlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird als vorher. PR hin oder her, am Ende ist klar, dass die wichtigen Entscheidungen weiterhin von Putin und seiner Mannschaft getroffen werden, und nicht in Medwedjews Kabinett. Georgi Bowt ist Politologe und schreibt für The Moscow Times, wo die ungekürzte Fassung dieses Beitrags erschien.

gastbeitrag

Was sich die Wirtschaft vom deutschlandjahr erwartet Rainer Lindner

ost-ausschuss der deutschen wirtschaft

U

nter dem Motto „Deutschland und Russland – geme i n sa m d ie Zu k u n f t gestalten“ findet von Juni 2012 bis Juni 2013 ein Deutschlandjahr in Russland statt, das die Bundesrepublik mit ihrer international renommierten Kultur und einer leistungsfähigen und zukunftsorientierten Wirtschaft präsentiert. Die deutsche Wirtschaft wird ihr Engagement insbesondere den urbanen Herausforderungen widmen und sich auf das Thema „Future Solutions“ konzentrieren: Zunehmende Herausforderungen durch Urbanisierung, Klima- und demografischen Wandel zwingen

Metropolen dazu, ihre Infrastrukturen leistungsfähiger zu machen. Wichtige Elemente sind hier nachhaltige Lösungen für Gebäude, Energie- und Wasserversorgung, Verkehr, Sicherheit und Gesundheitswesen. Gefragt sind aber auch Lösungen sozialer Themen, wie die Folgen des demografischen Wandels oder soziale Transformationsprozesse durch Migration und Mobilität. Gerade Russland steht hier vor enormen Herausforderungen, die nicht zuletzt dem innovativen deutschen Mittelstand neue Geschäftsfelder eröffnen. Geografische Schwerpunkte des Deutschlandjahres werden neben den beiden Zentren Moskau und Sankt Petersburg auch die aufstrebenden regionalen Wirtschaftszentren Jekaterinburg und

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Nowosibirsk sein. Darüber hinaus finden in ganz Russland Veranstaltungen statt, die sich an alle Bevölkerungsschichten richten. Das Deutschlandjahr wird Mitte Juni eröffnet. Kulturelle Höhe-

Schwerpunkte des Deutschlandjahres werden auch die aufstrebenden regionalen Wirtschaftszentren sein. punkte sind dabei die Installation eines aus 1023 Puzzleteilen bestehenden Selbstporträts von Albrecht Dürer auf dem Roten Platz und die Eröffnung der groß angelegten Ausstellung „1000

Jahre Deutsche und Russen gemeinsam“ im Historischen Museum in Moskau. Die Ausstellung zeigt eindrucksvoll die lange gemeinsame Geschichte beider Länder, die von enger Zusammenarbeit, aber immer wieder auch von Zerwürfnissen geprägt ist. Heute nennen Russen, wenn man sie nach dem wichtigsten ausländischen Partner fragt, an erster Stelle Deutschland – trotz zweier Weltkriege und eines Kalten Krieges, die die Beziehungen über Jahrzehnte belasteten. Das im Juni mit deutscher Beteiligung anstehende St. Petersburg International Economic Forum, das zeitgleich beginnende Deutschlandjahr in Russland und das Russlandjahr in Deutschland sind gute Anlässe für vertiefte deutschrussische Debatten und natürlich neue Freundschaften. Prof. Dr. Rainer Lindner ist Geschäftsführer des OstAusschusses der Deutschen Wirtschaft.

Russland Heute: Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint als Beilage in der Süddeutschen Zeitung. Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond The Headlines, Moskau, verantwortlich. Rossijskaja Gaseta Verlag, Ul. Prawdy 24 Str. 4, 125993 Moskau, Russische Föderation Tel. +7 495 775-3114 Fax +7 495 988-9213 E-mail redaktion@russland-heute.de Herausgeber: Jewgenij Abow; Chefredakteur deutsche Ausgabe: Alexej Knelz; Gastredakteur: Moritz Gathmann; Webredakteur: Makar Butkow; Redaktionsassistenz: Jekaterina Iwanowa; Anzeigen: Julia Golikova, Gesamtanzeigenleiterin, +7 495 775-3114;

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reflektiert

Die Botschaft der Popkultur Der Ulenspiegel

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Zeitzeuge

uch wer den USA kritisch gegenübersteht: Irgendetwas an Amerika liebt jeder. Seien es Elvis oder Bruce Springsteen, Charlie Chaplin oder Raumschiff Enterprise. Wer Micky Maus verachtet, schätzt vielleicht Fritz the Cat. Die Populärkultur war immer die beste Botschafterin der USA. Der Imagegewinn, den die Popindustrie liefert, kann gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Massenkultur erreicht viele, Hochkultur nur wenige. Natürlich schmiedet kein Außenpolitiker seine Allianzen auf der Grundlage von Popsongs, aber die Sympathie, die ein Land genießt, macht es ihm leichter, seine Meinung zu vertreten. Da hat es Russland schwer: Tolstoi, Dostojewski oder „Schwanensee“ sind so sehr Hochkultur, dass sich viele nicht herantrauen. Leichtere Kost ist den meisten Deutschen unbekannt, abgesehen von Unterhaltungskünstlern wie dem Clown Oleg Popow. Botschafterinnen des Pop waren auch die Gören von t.A.T.u. Nicht, weil ihre Musik so bemerkenswert wäre. Aber sie haben ein Klischee gebrochen: Punkige Pseudolesben aus Moskau erwartet man nicht. Schon eher Kosakenchöre oder Operndiven. Apropos Operndiven: Auch Anna Netrebko wird man ohne Weiteres als eine Botschafterin des Pop bezeichnen können. Weitere Beispiele fallen mir leider nicht ein – dabei gibt es in Russland mehr Popkultur, als die meisten ahnen. Russische Bands touren durchs Land und spielen vor Emigranten. Sowjetische Trickfilme brauchen den Vergleich mit Disney nicht zu scheuen, das DDR-Fernsehen hat vieles synchronisiert. Und umgekehrt? Welche Botschafter des Pop vertreten die deutsche Kultur in Russland? Goethe, Hegel und die „Goldberg-Variationen“? Da wären auch noch die Wiedergänger von Trash-Kultbands wie Boney M. oder Dschingis Khan. Thomas Anders, in Deutschland zurecht vergessene Hälfte von Modern Talking, erlebt in Moskau seinen dritten oder vierten Frühling und singt ab und zu für Oligarchen. Wohlmeinende Eltern Deutsch lernender Kinder empfehlen die Texte von Rammstein. Der Imagegewinn, den die Popindustrie liefert, kann gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Der Autor ist Experte für russisch-deutsche Spiegelungen.

Produktion: Milla Domogatskaja, Produktionsleitung; Layout: Maria Oschepkowa; Bildbearbeitung: Andrej Sajzew; Proofreading: Dr. Barbara Münch-Kienast Druck: Süddeutscher Verlag Zeitungsdruck GmbH, Zamdorferstraße 40, 81677 München; Verantwortlich für den Inhalt: Alexej Knelz, Schützenweg 9, 88045 Friedrichshafen Copyright © FGU Rossijskaja Gaseta, 2012. Alle Rechte vorbehalten Aufsichtsratsvorsitzender: Alexander Gorbenko; Geschäftsführer: Pawel Negojza; Chefredakteur: Wladislaw Fronin Alle in Russland HEUTE veröffentlichten Inhalte sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion


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Reisen

www.russland-heute.de Russland Heute Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau

Geschichte Die „Sedow“ umrundet die Welt und verkündet dabei die gute Nachricht von der russischen Staatlichkeit

Mit vier Masten und hundert Leichtmatrosen um die Welt Einst hieß sie „Magdalene Vinnen II“ und fuhr unter deutscher Flagge. Dann kam der Krieg. Heute sind Deutsche als aktive Passagiere auf der „Sedow“ gern gesehen.

zu fahren: „Ich muss mich daran gewöhnen, damit es später nicht mehr so schlimm ist.“ Schließlich will er einmal Kapitän werden. So wie Nikolai Sorschenko. Fast sein ganzes Leben ist er nun schon auf See – und seit eineinhalb Jahren Kapitän der „Sedow“. Mit einem anderen Schiff hat er bereits zweimal die Welt umrundet. Diese Erfahrungen wird er in den nächsten 426 Tagen an Bord einbringen. Was nach einer langen Zeit klingt, sieht Kapitän Soroschenko nüchtern. „Emotionen habe ich schon seit 20 Jahren nicht mehr“, erklärt er. Wenn er auf See sei, habe das wenig mit Gefühl, sondern eher mit Arbeit zu tun. Man müsse jahrelang hart arbeiten, um Kapitän zu werden. Und wenn es schließ-

Pauline Tillmann

für Russland Heute

Disziplin statt Heimweh

Dabei sein!

zahlen

117,5

240

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lang ist die „Sedow“ und damit weltweit die Nr. 2.

Besatzung finden Platz auf der „Sedow“.

etwa 33 km/h, fährt sie unter vollen Segeln.

Meter

Mann

Knoten,

Deutsches Schiff unter russischer Flagge Die „Sedow“ lief 1921 auf der Kieler Germaniawerft vom Stapel, damals unter dem Namen „Magdalene Vinnen II“. In den folgenden Jahren war der Viermaster vor allem als Frachtschiff unterwegs, ab 1936 unter dem Namen „Kommodore Johnsen“. 1937 entging sie in schwerer See vor den Azoren nur knapp dem Untergang. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging das Schiff als Teil der deutschen Reparationszahlungen an die Sowjetunion und wurde 1946 in Gedenken an den russischen Polarforscher Georgi Sedow umbenannt. Von 1967 bis 1982 fuhr die „Sedow“ nicht mehr aufs Meer

und verfiel. Erst Anfang der 1980erJahre wurde sie generalüberholt und konnte schon 1982 zum 793. Hamburger Hafengeburtstag in der Hansestadt einlaufen: Bei dieser Gelegenheit besuchte der ehemalige Kapitän Gottfried Clausen das Schiff und wurde trotz aller damaliger politischer Zerwürfnisse von Kapitän Prewoztschikow herzlich empfangen. Heute gehört die „Sedow“ der Technischen Universität Murmansk und dient als Schulschiff, auf dem junge Matrosen und Kadetten ausgebildet werden. Interessierte können als aktiver Teil der Besatzung mitsegeln.

Das „schwimmende Museum“ ist auch in Deutschland zu Gast, unter anderem am 16. Juni bei der Kieler Woche. Und das Beste: Auch Touristen können auf der „Sedow“ mitsegeln – als aktive Mitglieder. Freie Plätze gibt es unter anderem noch für die Strecke Brest-Casablanca (920 Euro) und Valparaiso-Callao (1010 Euro).Mehr Informationen sind auf der deutschsprachigen Seite zu finden: www.sts-sedov.info

Rocker an Bord!

Die wechselhafte Geschichte der „Sedow“ zieht aber nicht nur Mumij Troll, sondern auch sogenannte „Trainees“ an. Menschen, die ausprobieren wollen, wie es ist, mit so einem traditionsreichen Segelschiff in See zu stechen. Die meisten kommen aus Deutschland. „Einige haben daraus eine Tradition gemacht und fahren bei uns seit 20 Jahren mit“, erklärt der Kapitän. Sie genießen wohl vor allem die Gemeinschaft und nicht selten auch die Disziplin. „Es muss an Bord diszipliniert zugehen, ansonsten würde das totale Chaos ausbrechen“, meint der Student Stepan Grekow. Aber hart sei es auch. Vor allem, wenn er morgens um sechs Uhr aufstehen und die Wache am Steuerruder übernehmen soll. Sein Vater war Steuermann und hat ihn schon früh für das Meer begeistern können. Heute sagt Stepan: „Wasser ist mein Element. Im und auf dem Wasser fühle ich mich wohler als an Land.“ Nach drei intensiven Monaten auf der „Sedow“ geht es für ihn mit dem Flugzeug von Casablanca nach Moskau und dann weiter mit dem Zug Richtung Murmansk, zurück zur Familie.

interview

Kapitän Nikolai Sorschenko Wann war Ihnen klar, dass Sie Kapitän werden wollen? Ich wusste schon als Jugendlicher, dass ich zur See fahren möchte. Aber ich wuchs in der Nähe von Nowosibirsk auf, wo es kein Meer gibt. Also ging ich nach Wladiwostok und habe dort meinen Marineabschluss gemacht. Danach war ich 20 Jahre lang Kapitän des Segelschiffs „Pallada“.

Was ist für Sie der emotionalste Moment bei der Seefahrt? Wenn man in einen Hafen einläuft und wenn man ausläuft. Wenn man

einläuft und die Familie auf einen wartet, dann dominiert Erleichterung. Ebenso freut man sich, wenn man ein neues Abenteuer vor sich hat.

Gibt es auch Seefrauen?

Das Leben auf See ist nichts für Frauen: Sie können das physisch nicht leisten, es ist ungeheuer anstrengend. In der Natur der Frau liegt es, sich um Kinder zu kümmern und das Haus zu hüten. Deshalb gibt es auf dem Schiff kaum Frauen. In der Küche stehen zwei Männer und eine Frau. Rund um die Uhr kochen sie, Tag für Tag.

alamy/legion media

Das würde gar nicht passen zum historischen Hintergrund, dem die Weltumseglung gewidmet ist: 1150 Jahre ist es her, dass die Kiewer Rus gegründet wurde, der Vorläuferstaat des heutigen Russlands. Die „Sedow“ soll also die Botschaft von der russischen Staatlichkeit in die Welt tragen. Einige Tage zuvor kann man die Matrosen dabei beobachten, wie sie den Boden schleifen, die Fassade streichen und die bronzefarbenen Haltegriffe schmirgeln. Einer von ihnen ist der 18-jährige Stepan Grekow. Er ist im zweiten Semester und mit einigen Studienkollegen insgesamt drei Monate an Bord. „Ich liebe das Meer“, sagt er. Obwohl ihn das Heimweh plagt, hat er immer davon geträumt, zur See

info

photoxpress

Es ist später Samstagabend, als die „Sedow“ an diesem 19. Mai langsam zwischen dem Englischen und dem Leutnant-Schmidt-Kai hinausmanövriert. Am Ufer stehen mehrere Hundert Petersburger und winken dem Schiff mit den markanten vier roten Masten hinterher: 14 Monate lang wird die „Sedow“, das mit 118 Metern Länge zweitgrößte Segelschiff, nun um die Welt segeln und dabei 45 000 Seemeilen, also etwa 83 000 Kilometer zurücklegen. Zum Auslaufen spielt ein Orchester russische Märsche, der Petersburger Gouverneur Georgi Poltawschenko wünscht den Seeleuten traditionell „Sieben Fuß unter dem Kiel!“. Die „Sedow“ wird weitgehend die Route wiederholen, die Adam Johann Baron von Krusenstern 1803 bei der ersten Weltumrundung unter russischer Flagge einschlug: über Kiel und Casablanca nach Brasilien, dann ins chilenische Valparaiso und von dort nach Wladiwostok. Über Shanghai und Mauritius geht es um das Kap der guten Hoffnung wieder zurück nach Sankt Petersburg. Nur die amerikanischen Häfen darf das Schiff nicht anlaufen, weil es einen ungeklärten Eigentumsstreit mit den Amerikanern gibt – das Schiff könnte konfisziert werden.

lich so weit sei, müsse man am Ball bleiben. Das halte einen fit. Genauso wie die Studenten, die das Segelschiff bevölkern. An Bord ist neben 100 Matrosen dieses Mal auch eine bekannte russische Rockgruppe: Mumij Troll haben ihren Spielplan für einige Wochen der Reiseroute angepasst und werden während der Fahrt ein neues Album aufnehmen. Schon im vergangenen Jahr hat die Band aus Wladiwostok Konzerte auf Schiffen gegeben und sieht die Expedition nun als logische Fortsetzung. Die Vorliebe fürs Meer schlägt sich auch in vielen ihrer Lieder nieder. „Dass diese Band mitkommt, ist ein besonderer Glücksfall“, sagt Kapitän Nikolai Soroschenko.

photoxpress

reuters/vostock-photo

Junge Kadetten auf dem Segelschulschiff „Sedow“

118 Meter misst die „Sedow“ und ist damit ...

... das zweitlängste Segelschiff der Welt.


Reisen

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FOCUSPICTURES

Sankt Petersburg Nicht ganz legal, aber sehr beeindruckend: eine Führung über den Dächern der Stadt

Verweile doch, du bist so schön

Während der Weißen Nächte im Juni bevölkern Scharen von Touristen die Straßen Sankt Petersburgs. Aber einige stehen drüber – und schauen sich die Stadt von den Dächern aus an.

nehmigt. Man klettert auf eigene Gefahr und trägt damit auch das Risiko, falls etwas passieren sollte. Bislang ist der Anführer der Gruppe, Dimitri Miroslawski – kurz Dima – aber immer davongekommen. Keine Verwarnung, kein Bußgeld, kein Unfall. In diesem Jahr hat er schon mehr als 300 Menschen Sankt Petersburg von oben gezeigt. Damit angefangen hat Dima im Sommer 2011, Dächer haben schon seit seiner Kindheit eine große Faszination auf ihn ausgeübt. Zum Studium kam er aus Kasan nach Sankt Petersburg, weil er die Schönheit der Stadt bewunderte. Heute bekräftigt der 23-Jährige: „Von oben sieht alles sogar noch schöner aus!“ Auf den ersten Blick wirkt Dima wie ein schmächtiger Schuljunge, doch unter seiner bescheidenen Erscheinung versteckt sich eine gute Portion Selbstbewusstsein. Kein Wunder, schließlich turnt Dima mit traumwand-

PAULINE TILLMANN

FÜR RUSSLAND HEUTE

Dima geht voraus. Leise führt er die Gruppe durch einen Hinterhof. Vor der Tür angekommen, zieht er vorsichtig einen Schlüssel aus seiner rechten Hosentasche. Die sechs, die ihm folgen, werfen sich verschwörerische Blicke zu. Ein Fiepen, die Tür klickt auf, die Gruppe schleicht durchs Treppenhaus. Die Handytaschenlampe beleuchtet den Weg über Holzbalken zu einer Fensterluke. Dann ist es geschafft: Es öffnet sich ein fantastischer Blick auf die Dächer von Sankt Petersburg. Offiziell gibt es die Dächertouren für Touristen nicht, geschweige denn, sie wären von der Stadt ge-

lerischer Sicherheit über die Dächer. Und fühlt sich frei. So geht es auch Anastasia Nikitina. Die 21-Jährige studiert Medizintechnik in Moskau und reist mindestens einmal im Jahr in die „Stadt ihrer Träume“. Mit ihrer Freundin Olga hat sie sich Dima angeschlossen, den Kontakt zu ihm knüpfte sie auf Vkontakte, dem russischen Facebook-Pendant. Anastasia nutzt die ungewohnte Aussicht für Fotos. Es stört sie gar nicht, dass fast alle Dächer mit Rost überzogen sind: „Das ist ein morbider Anblick, klar. Aber gleichzeitig sieht man die goldenen Kuppeln der Kirchen. Die Gegensätze gefallen mir!“

Der zusätzliche Kick

Das erste Dach der Gruppe liegt im Stadtzentrum an der Fontanka. Direkt gegenüber befindet sich der Zirkus, in der Ferne erkennt man die Isaakskathedrale, rechts schweift der Blick über das apri-

cotfarbene Michael-Schloss. Es ist windig, deshalb trauen sich die beiden Moskauerinnen nicht an den Rand des Daches. Angst habe sie keine, aber man müsse aufpassen, nicht weggeweht zu werden, meint Anastasia lächelnd und fügt hinzu: „Dass wir hier heimlich sind, gibt einen zusätzlichen Kick.“ Am schönsten ist es – da sind sich alle einig –, wenn man einfach nur dasitzt und die Atmosphäre auf sich wirken lässt. „Während der Weißen Nächte strahlt die Stadt eine ganz besondere Ruhe aus“, erklärt Dima, „und dieses Gefühl, wenn man von hoch oben auf das glitzernde Wasser blickt, ist kaum in Worte zu fassen.“ Die Weißen Nächte, also Mitte Juni bis Mitte Juli, sind die beste Zeit für Dima – da hört sein Handy gar nicht mehr auf zu klingeln. Die größte Gruppe, die er je auf ein Dach geführt hat, bestand aus 30 Touristen, darunter Schüler,

Studenten und eine Familie mit Kindern. Normalerweise nehmen an einer Tour sechs bis acht teil. Heute ist eine junge Frau dabei, die Geburtstag hat und in ihrer Hand fünf bunte Luftballons hält. Der Wind zerrt an ihnen, als versuche er, sie ihr zu entreißen. Aber sie schlägt sich tapfer. Genauso wie Anastasia Nikitina und ihre Begleiterin: „Es ist kalt“, sagt sie, „und meine Finger schmerzen. Aber ich fühle mich frei, so frei wie ein Vogel. Das ist der Wahnsinn! Und die Stadt sieht von hier oben völlig anders aus, der Blick ist unverstellt!“

Von Sushi zu Dächertouren

Früher hatte Dima in einem Sushirestaurant einen Studentenjob und mixte Cocktails. Seit Mai widmet er sich ausschließlich den Dächertouren. Pro Person verlangt er 500 Rubel, umgerechnet 13 Euro, da käme schon etwas zusammen, dabei verlange er weniger als andere. Tagsüber streift Dima zu Fuß durchs Zentrum und sucht nach neuen Objekten. Wenn er ein geeignetes Dach gefunden hat, versucht er, es irgendwie zu erklimmen. Und wenn ihm dann noch die Aussicht gefällt, lässt er sich den Eingangsschlüssel nachmachen. Schwarz natürlich. Bislang hat es immer geklappt. Auch dieses Mal ist er ohne Verwarnung davongekommen, ringsum strahlende Gesichter. Zum Abschied sagt die 21-jährige Anastasia: „Ich komme ganz bestimmt wieder zu den Weißen Nächten im nächsten Jahr – und lasse die Stadt vom Dach aus auf mich wirken.“ Frei nach Goethes Faust: Augenblick verweile doch, du bist so schön!

Anreise Direktflüge gibt es u. a. ab München, Stuttgart und Berlin – oder man nimmt die Fähre ab Lübeck (www.finnlines.com).

Unterkunft Mondän und zentral – Grand Hotel Europe (www.grandhoteleurope.com). Ansonsten wimmelt es von günstigen Hostels.

Essen & Trinken

Entdecken Sie Russland von einer neuen Seite

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Sankt Petersburg von oben

Für Heimatverbundene – das Schwabski Domik (Schwäbisches Häuschen, www. schwabski.ru), köstliche russische Piroggen bei „Stolle“ (www.stolle.ru).

In Moskau wird ihnen das keiner glauben: Anastasia und Olga.

Buntes Russland: Das Bild des Tages auf Facebook

www.facebook.com/ RusslandHeute

Pauline Tillmann berichtet als freie Journalistin aus Sankt Petersburg.

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Porträt

WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU

Musik Vier Newcomer aus Moskau singen als Pompeya für die russische Generation Golf über Liebe

Süße Klänge aus dem Steak House Ihre Lieder sind in englischer Sprache, ihre Videos geben Rätsel auf. Pompeya erobert damit ein junges, hippes Publikum, das auf der Suche nach sich selbst ist.

PROFIL

Die Band

Die vier jungen Musiker aus Moskau kommen aus der neuen russischen Mittelschicht und singen auf Englisch zu süß-melancholischen Klängen – einer Mischung aus den Stilrichtungen Pop und New Wave, die sie selber „Steak House“ tauften. In ihren Songs geht es um die einfachen Dinge des Lebens.

NAME: POMPEYA GEGRÜNDET: 2006

ALEXEJ KNELZ

RUSSLAND HEUTE

MUSIKSTIL: STEAK HOUSE

Es ist ziemlich kühl im Gorki-Park an diesem Tag im Mai: Newcomer-Bands aus ganz Russland stehen auf der Bühne neben dem Fluss Moskwa, um auf dem Rockfestival im Herzen Moskaus endlich mal vor einem breiteren Publikum zu spielen. Doch es ist zu kalt. Gerade einmal 300 Zuschauer tummeln sich auf dem Rasen. Die vier jungen Musiker von Pompeya sind als Letzte dran. Daniil Brod (Leadgitarre, Gesang), Denis Agafonow (Bass), Sascha Lipski (Keyboard) und Nairi Simonian (Drums), alle Mitte 20, betreten lässig die Bühne. Bei den 300 Zuhörern kommt Jubel auf: Denn seit Pompeya im letzten Jahr ihr erstes Album „Tropical“ kostenlos ins Internet stellte‚ sind sie eigentlich keine wirklichen Newcomer mehr, sondern landesweit bekannt.

Pompeya – das sind (v. l. n. r.) Nairi Simonian (Drums), Denis Agafonow (Bass), Sascha Lipski (Keyboard) und Daniil Brod (Leadgitarre, Gesang).

Kostenlose Vermarktung

„Heute ist es sinnlos, Geld durch Plattenverkauf verdienen zu wollen“, erklärt Simonian: „Der Erste, der das Album kauft, stellt es sofort ins Netz, damit es die anderen kostenlos herunterladen können.“ Die vier Musiker folgen dem Konzept der 1950er, als die Bands

Style: Hipster, Moskauer Typ

Leadsänger Brod ist inspiriert von der russischen Rock-Ikone Wiktor Zoj und der USBand Foster the People.

ALEKSANDR RESCHITILOW

Die Alben Ihr erstes Machwerk „Tropical“ spielten Pompeya in einem Moskauer Studio ein. Für das neue Album „Foursome“ reisten sie für vier Wochen nach Los Angeles. Beide Platten stellen die Musiker im Internet kostenlos zum Download zur Verfügung.

Ihre Musik ist so, wie man sie von einer russischen Band nicht erwarten würde: die Texte sind auf Englisch, der Sound lieblich, süßlich, locker, mit viel Bass und hohem Ohrwurmpotenzial. „In unseren Liedern geht es um Liebe und Einsamkeit, um das Auf und Ab im Leben, um die Schönheit und das Schreckliche in unserem Alltag und um die gefühlvolle Seele, die in dieser Welt leidet“, erklärt Daniil Brod, dessen einfühlsamer Bariton unter die Haut geht. „Put the lights on / This is my home / Place, where I own / Memories of you, dear“, heißt es im Refrain des Ohrwurms „90“, in dem eine verlorene Liebe besungen wird und den die hippen Moskauer im Gorki-Park gleich mitsingen. Es ist die neue russische Generation Golf, die in Pompeya endlich

PRESSEBILD

Seele russisch, Texte englisch

Hören und herunterladen auf www.russland-heute.de

ihre ideale Band gefunden hat, fernab von Dramatik, hartem Beat oder politischen Texten, eine Generation, die lieber auf süßlichmelancholische Soft-Pop-Klänge tanzt. „Vorsicht“, warnte Brod jüngst ironisch in einem Interview, „auf unsere Konzerte kommen ausschließlich Hipster, wenn ein Nicht-Hipster erscheint, wird er kontaminiert.“ Tatsächlich ist die Klientel auf dem zu Matsch getanzten Rasen zwischen 18 und maximal 25 Jahren alt. Der typische Moskauer Hipster unterscheidet sich kaum

vom deutschen: enge, gern bunte Jeans, 80er-Jahre-Turnschuhe, dekadente Oberteile, modische Sonnenbrille. Doch es ist nicht das Hippe und auch nicht das Modische, was die vier Jungs ansprechen, sondern eher das Altbekannte: „Ihre Musik ist wie die Liebe“, heißt der Kommentar zu einem der immer extravaganten Pompeya-Musikvideos auf YouTube. „Ja, absolut zauberhaft, geht direkt unter die Haut“, stimmt ein anderer zu, „was ist das für Musik, was sind ihre Wurzeln?“

PRESSEBILD

Ihr Auftreten: cooles Laissez-faire. Der hagere Lipski schlendert gemächlich zum Keyboard, ohne sich groß umzuschauen, der kräftigere Simonian setzt sich gelassen an die Drums, der lange Agafonow taucht aus dem BackstageBereich mit umgehängtem Bass auf, der unrasierte Brod steht im Parka da, die blonden Haare hängen ihm ins Gesicht. „Könnte man mich vielleicht auf dem großen Fernseher da zeigen?“, bittet er höflich. Die gigantische LEDWand hinter den Musikern leuchtet auf – Brod in Großaufnahme. Die Musiker legen los mit „Slow“, einer basslastigen New-WaveNummer vom aktuellen Album „Foursome“.

Funk will heute aber niemand mehr hören, irgendwann hatte ich selbst genug und wollte Neues ausprobieren.“ Die Einflüsse flicht er elegant in die Pompeya-Musik ein: melodische Keyboard-Passagen zu rabenschwarzen Beats und präzisen Riffs, wie sie auf „The Wall“ von Pink Floyd zu hören sind. Mit der eigenen Zuordnung tun sich die vier Jungs schwer: „New Wave, Indie Pop, Girlie Rock oder House – Musikjournalisten wollen uns immer in irgendein Genre stecken. Am häufigsten vergleichen sie uns mit The Cure. Aber ist das denn so wichtig?“, philosophiert Brod. „Wir sind vier Individuen, und jeder von uns trägt seine Energie und Liebe bei“, sagt er. „Und was hinten rauskommt, das ist Pompeya.“ Also erfand er einen eigenen Begriff: „Wir sagen einfach, wir spielen Steak House, dann haben alle ihre Ruhe.“

„Von allem ein wenig: Jeder von uns wirkt an den Songs mit und jeder bringt sein eigenes musikalisches Gepäck mit“, sagt Bandgründer Nairi Simonian nach dem Konzert im Backstage-Zelt zu Bier und Crackern. Das musikalische Gerüst kreieren sie gemeinsam beim Proben, den Gesang und die Texte steuert Brod bei, der sich von der russischen Rock-Ikone Wiktor Zoj und der US-Band Foster the People inspiriert sieht. Sascha Lipski, der hagere Keyboarder, spielte vor Pompeya tiefschwarzen Funk. „Den puren

ihre Brötchen über Live-Konzerte verdienten. Sie stellten ihr erstes Album „Tropical“, das sie auf eigene Rechnung einspielten, kostenlos ins Netz und machten damit Werbung für sich. „Drei Monate haben wir gebrütet!“, erinnert sich Bassist Denis Agafonow, „immer und immer wieder spielten wir alles neu ein, damit es perfekt ist. Dadurch ist der Sound ein wenig geleckt.“ Nicht so ihr neuestes Album „Foursome“, das sie Anfang April in Moskau vorstellten: „Wir waren weniger perfektionistisch. Das Album klingt nun rauer, kantiger, aber gleichzeitig erwachsener“, sagt Agafonow. Die Platte spielten sie in vier Wochen ein – in Los Angeles. Und boten sie wieder kostenfrei zum Download an: „Wir wollen eine große Fangemeinde aufbauen, die auf unsere Konzerte geht. Nur so kann man heute als Musiker noch erfolgreich sein“, erklärt BandManager Valentin. Das haben sie schon erreicht. Keine Stunde später, beim Rausschmeißer „Power“, steigen beim langgezogenen „Ooooh!“ im Gorki-Park trotz Kälte 3000 Leute ein, die Augen leuchtend, die Gesichter jung, freundlich und offen – eine neue Generation, die eine neue Generation hört.

Thema des Monats – Die Russlanddeutschen Warum sie für Russen „Deutsche“ und für Deutsche „Russen“ sind

4. Juli 2012


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