Russland HEUTE

Page 1

www.russland-heute.de

RIA NOVOSTI

Politik

Wirtschaft

Porträt

Wie ein Oligarch sich am Kreml die Zähne ausbiss.

Mit Vergünstigungen bei Zoll und Steuern lockt Kaliningrad Investoren. Die Firma Hipp ist dem Ruf gefolgt.

Igor Rasterjajew: ein Mann, eine Seele, ein Akkordeon

SEITE 3

SEITE 4

SEITE 12

DMITRI LEKEI_KOMMERSANT

Ein Projekt von RUSSIA BEYOND THE HEADLINES

Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Rossijskaja Gaseta, Moskau, verantwortlich.

Mittwoch, 5. Oktober 2011

Wo bleibt Tolstojewski?

POINTIERT

Der russische Konjunktiv Alexej Knelz

CHEFREDAKTEUR

M

SERGEI SAWOSTIANOW_RG

September, Internationale Buchmesse Moskau: Ein Besucher vertieft sich in Michail Bulgakows Klassiker „Der Meister und Margarita“.

Kein russisch-deutscher Gipfel, keine Schröder- oder Merkel-Rede vor russischem Publikum ohne Tolstoi und Dostojewski, die Russland der Literatur Europas „geschenkt“ hätte. Lang ist’s her. Die große Neugier, mit der Deutschland nach dem Ende der Sowjetunion nach Osten blickte, ist abgeflaut: Zeitgenös-

sische Autoren werden selten übersetzt, auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober wird kaum ein russischer Titel zu finden sein. Glaubt man der Übersetzerin Christiane Körner, wissen Franzosen und Italiener mehr über russische Literatur als die Menschen hierzulande. „Gibt es in Deutschland ein spezielles Pro-

blem mit Russland und der russischen Literatur, verquickt mit Verbrechen, Schuld und scheinbarer Sühne im 20. Jahrhundert?“, fragt sie. Konstantin Miltschin wirft einen kritischen Blick auf die Schriftsteller seines Landes und kommt zu einem überraschenden Schluss: Die beste russische Literatur

kommt derzeit aus der Schweiz und aus Jerewan. Sachar Prilepin, Autor und Regimekritiker, beklagt den Bedeutungsverlust der Literatur in Russland: „Schreib, was du willst – die Mächtigen scheren sich keinen Deut darum.“ SEITEN 5 BIS 7 UND 10

it seinen sechs Fällen und der Beugung nach Tempus, Numerus und Genus ist Russisch bei Gott keine einfache Sprache. Ein kleiner Trost ist da die fehlende Konjunktivform: Wenn Russen träumen, nehmen sie einfach das Verb im Präteritum und hängen das Partikel „by“ an. Blicken sie in die Zukunft, steigen sie mit „es muss sein, dass“ oder “wünschenswert aber ist” ein und bleiben im Infinitiv. Häufig geraten dabei Gegenwart und Zukunft, das Erreichte und das Geplante, das Gesagte und das Gemeinte – kurzum, das Wort und die Tat durcheinander. Solche Satzkonstrukte twittert etwa Präsident Dmitri Medwedjew fast täglich: Modernisierung, Korruptionsbekämpfung, Entwicklung bestimmen die Agenda. Es tat sich richtig was im präsidialen Miniblog – oder war’s doch nur „täte“? Denn als Wladimir Putin seine Rückkehr in den Kreml ankündigte, begriffen plötzlich viele Russen, warum nur wenige Initiativen Medwedjews konsequent umgesetzt wurden: In seinem Twitt e r h ät t e woh l i m me r de r Konjunktiv gemeint gewesen sein müssen.

REUTERS

„Alte Jungfer“ mit 25 Lenzen Mit 23,5 Jahren geben russische Frauen ihren Männern im Schnitt das Jawort, sieben Jahre früher als in Deutschland. „Das Beste an einer frühen Ehe ist die frühe Scheidung.“ Nicht a l le Russi n nen w ü rden der 27-jährigen Moskauerin Natalja zustimmen. In der Provinz sieht es anders aus: Da ist das Zusammenleben von Mann und Frau ohne Trauschein bis heute nicht gesellschaftsfähig. In Großstädten wie Moskau wandelt sich das Bild allerdings rapide. Frauen, die sich selbst versorgen können, suchen nicht mehr die Sicherheit an der Seite eines Jägers und Sammlers. „In einer durchschnittlichen Großstadtfamilie hat heute eher die Frau die Hosen an“, sagt der Demograf Sergej Sacharow. SEITE 8

WAHLEN 2011/2012

PUTINS RÜCKKEHR MEDWEDJEW RÄUMT DEN KREML OHNE ERKLÄRUNG Endlich besteht Klarheit: Wladimir Putin wird für das Präsidentenamt kandidieren, Dmitri Medwedjew übernimmt seinen Posten als Premierminister. Die liberale Öffentlichkeit fühlt sich von Medwedjew getäuscht: War er also doch nur Platzhalter? Oder setzte das Scheitern des liberalen Parteiprojekts Gerechtes Russland am Ende den Schlussstrich unter seine Karriere als Präsident? Ein Stimmungsbild aus Russland. SEITEN 2 UND 3

Zwischen Krieg und Frieden Dass die einen vom Großen Vaterländischen und die anderen vom Zweiten Weltkrieg sprechen, sind nicht die einzigen Verständdigungsprobleme zwischen Russen und Deutschen, wenn es um die Ereignisse zwischen 1941 und 1945 geht, die für beide Völker so tiefgreifende Folgen hatten. Dieser Tage läuft ein deutscher Film an, der die Perspektiven annähert. „4 Tage im Mai“ spielt auf einer Ostseeinsel in den letzten Kriegstagen. Die Rote Armee besetzt ein Waisenhaus, bald kommt es zu Konflikten, vor allem zwischen einem Jungen und dem russischen Kommandeur. Die ungewöhnliche, klischeefreie Perspektive sorgte auf dem Filmfestival in Locarno für Irritation bei den Kritikern – und große Begeisterung beim Publikum. SEITE 11

INHALT Winterzeit Russland hängt sich selbst ab MEINUNG

SEITE 10

Moskau Die sieben Schwestern Stalins

REISEN

GEOPHOTO

SEITE 9

Alltag Vorlaute Fußballkommentare KURIOSES

SEITE 9


2

Politik

WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU

Alles bleibt beim Alten

ZITATE

Was halten Sie von einer dritten Amtszeit Putins?

WLADIMIR PUTIN STEUERT AUF EINE DRITTE AMTSZEIT ZU. BEFÜRWORTER PREISEN DIE STABILITÄT, GEGNER FÜRCHTEN EIN ENDE DER MODERNISIERUNG

"

2008 haben über 52 Millionen Bürger für Medwedjew gestimmt. Möchte er ihnen nicht erklären, warum er sich plötzlich entschieden hat, seinen Posten zu verlassen?” WLADIMIR WARFOLOMEJEW, STELLVERTRETEN-

DER CHEFREDAKTEUR RADIO ECHO MOSKAUS

"

Kein Grund zur Freude. Der beste Moment, um auf Sportfernsehen umzuschalten.”

ARKADIJ DWORKOWITSCH, ENGER BERATER VON DMITRI MEDWEDJEW (PER TWITTER)

REUTERS

Gute Zeiten für ausländische Investoren LEITARTIKEL IN THE MOSCOW TIMES 26. SEPTEMBER 2011

Es ist leicht, Wladimir Putin zu kritisieren. Über die Jahre riefen die Seiten der Moscow Times Putin beständig und zu Recht dazu auf, die wachsende Korruption, selektive Justiz und den Rückgang der Demokratie in Angriff zu nehmen. Putins Erklärung, dass er 2012 für das Präsidentenamt kandidiere, öffnet neuen Sorgen über das Schicksal der Demokratie und der Zivilgesellschaft Tür und Tor. Doch eine dritte Amtszeit Putins bedeutet nicht den Weltuntergang. Hier sind fünf Gründe für ausländische Investoren, Putins Rückkehr zu begrüßen. Die Ungewissheit, wer 2012 kandidieren wird, ist vorbei. Obwohl Putin seit Langem als Kapitän am Staatsruder gilt, verwirrte der Mangel an Klarheit von Seiten Putins und Medwedjews darüber, wer kandidieren wird, Investoren seit Monaten, wenn nicht seit Jahren. Die „Reset-Politik“, also der Neustart zwischen den USA und Russland, wird sich fortsetzen. Die Verbesserung der Beziehungen zu Washington wurde überwiegend Medwedjews vermeintlich liberaleren Politik zugutegehalten. Nun steht außer Zweifel, dass Putin durchweg die Verantwortung trug und damit auch den Reset bewerkstelligte. Die gute Nachricht für Investoren ist die, dass der Neustart ein spektakulärer Erfolg gewesen zu sein scheint und wegen der vielen gemeinsamen strategischen Interessen zwischen den USA und Russland – von Afghanistan bis zum Nahen Osten – seine Gültigkeit behalten wird. Unter Putin werden beide Seiten in der Lage sein, ihren Reset auf die Wirtschaft auszuweiten. Diese scheint bereits Früchte zu tragen: Eine Vereinbarung über den Beitritt Russlands zur Welthandelsorganisation ist zum Greifen nahe. Eine Art Reset hat sich auch mit der EU vollzogen, und es gibt gute Gründe zu erwarten, dass sich die Wirtschaftsbeziehungen unter einem Präsident Putin weiter verbessern werden.

1.

2.

3.

Stabilität. Wenn Putin in seinen elf Jahren an der Macht eins bewiesen hat, dann dies: Er ist ein starker Führer, der daran interessiert ist, Russland Stabilität zu bescheren. Seine Methoden haben Korruption hervorgebracht und Sorgen über den Zustand der Demokratie und der Zivilgesellschaft ausgelöst. Aber gleichzeitig hat sich das Investitionsklima seit den chaotischen 90ern merklich verbessert, unter anderem durch die Verabschiedung von wichtigen Gesetzen, die Anlegern erlauben, in einem durchschaubaren – wenn auch oft verletzten – juristischen Rahmen zu arbeiten. Hinzu kommt ein stetiger Anstieg des Lebensstandards, der zu wachsender Verbrauchernachfrage geführt hat. Die Yukos-Übernahme wird nicht neu aufgerollt. Viele Investoren zerbrechen sich längst nicht mehr den Kopf über die Fragwürdigkeit des juristischen Angriffs auf den ehemaligen Yukos-Chef Michail Chodorkowski und die Übernahme seines Konzerns. Aber es besteht die Befürchtung, dass der Skandal wiederaufgegriffen und die Vermögenswerte neu verteilt werden könnten. Putins Präsidentschaft würde diesen Ängsten ein Ende setzen. Die beschlagnahmten und auf den Staatskonzern Rosneft übertragenen Werte werden an Ort und Stelle bleiben. Die Hoffnung auf weitere Verbesserungen des Investitionsklimas wächst. Dmitri Medwedjew wurde von Putin für die Rolle des Ministerpräsidenten vorgeschlagen. Die Experten debattieren darüber, ob er sich am besten zum Ministerpräsidenten, vielleicht zum Vorsitzenden des Verfassungsgerichts oder auch zum Sprecher der Staatsduma eigne. Doch auf welchem Posten Medwedjew am Ende auch landet, Investoren dürfen hoffen, dass er in der Lage sein wird, das Modernisierungs- und Antikorruptionsprogramm auszubauen, welches er zum Wahrzeichen seiner Präsidentschaft gemacht hat.

4.

5.

Die ungekürzte Fassung dieses Leitartikels erschien in The Moscow Times

Unser Staatsschiff Titanic wird weiter rosten SERGEJ ALEKSASCHENKO VEDOMOSTI

Wladimir Putin will in den Kreml zurück. Er hatte die Wahl: Er hätte den Geist der Verfassung wahren, als Premier weiter den Haushalt und die Gesetzgebung kontrollieren und sich als wichtigste politische Figur im Lande allmählich in einen russischen Den Xiaoping verwandeln können. Doch er hat sich anders entschieden. Ob er an seine Bestimmung glaubt oder dem Drang seiner Freunde in der Führungsspitze folgt, die den Hals nicht voll bekommen können, ist dabei irrelevant. Wichtig ist, dass er das Recht usurpierte, 24 Jahre lang Präsident zu sein. Die Tandem-Partner gestehen ein, dass Medwedjews Präsidentschaft die getarnte dritte Amtszeit Putins war. Putin macht das Land zur Geisel seiner Entscheidungen und seines alternden Teams. Die Präsidentschaften Putins unterschieden sich sehr. Von liberalen Wirtschaftsreformen über die unverblümte Nationalisierung, vom „Tauwetter“ mit den USA bis hin zum Georgien-Konflikt haben wir alles gesehen. Putin 2012 wird ein anderer sein. Doch nicht etwa, weil er sich wandelt, sondern weil das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts neue Herausforderungen bringt. Die Turbulenzen auf den Weltmärkten etwa. Wichtiger aber sind die immensen Herausforderungen an das russische Staatsschiff, das immer mehr einer rostenden Titanic ähnelt. Wäre die Titanic bei ihrer Jungfernfahrt nicht gesunken, würde sie heute ständig Leck schlagen, ihr Korpus müsste immer wieder geflickt werden, in der Hoffnung,

dass sie noch hält. Jedoch wird ihr Korpus – Gesetze, Gerichte und Exekutive – von Korruption, Telefonjustiz und käuflichen Medien zerstört. Die Vorstellung, man könne die jetzige Situation einfrieren, ist trügerisch. Der Rost ist viel zu tief eingedrungen. Die nötige radikale Modernisierung hat bereits begonnen, doch genau das fürchtet Putin: Im Falle einer Generalüberholung droht das ganze Schiff auseinanderzubrechen wie einst die Sowjetunion. Der Schiffsantrieb – die Wirtschaft – gibt positive Impulse: Viele junge Menschen streben nach Selbstverwirklichung. Doch der Kapitän hat vergessen, dass ein Motor regelmäßig geölt werden muss. Putin, der einst versprach, sich um die Wirtschaft zu kümmern, appellierte nicht an sie in seiner Wahlrede: kein Wort über den Kampf gegen Korruption, die Loslösung der Wirtschaft von Gas und Öl oder Justizreformen. Er appellierte an die, die ihre Gehälter aus dem Haushalt beziehen. Viele aktive junge Menschen – die eigentliche Leistung des Motors – reagieren auf Putins Absicht einer faktisch lebenslangen Herrschaft im Kreml auf ihre Weise. Die Frage ist nicht mehr, ob auswandern, sondern wohin. Das ist im Umfeld des Kapitäns ebenso wenig klar, wie die Frage, ob eine intellektuell verarmende Nation die Herausforderungen der Zukunft meistern kann. Und oft braucht es für ein ramponiertes Schiff nicht einmal einen Eisberg, es reicht schon ein falsches Manöver. Die ungekürzte Fassung erschien in Vedomosti

Wen möchten Sie als Kandidaten für die Präsidentschaftswahl 2012 sehen?

"

Ohne Systemwechsel wird es keine Bewegung nach vorn geben. Und ohne diesen Wechsel könnten wir sechs Jahre verlieren. Dieses sollte der zukünftige Präsident ernsthaft bedenken.”

MICHAIL GORBATSCHOW, LETZTER PRÄSIDENT DER UDSSR

"

Dmitri Anatoljewitsch und Wladimir Wladimirowitsch haben die einzig richtige Entscheidung getroffen. Ich bin erleichtert – die Partei hat nun zwei charismatische Figuren.”

ALEXANDER TKATSCHOW, GOUVERNEUR DER REGION KRASNODAR

"

Die inoffizielle Nummer eins ist wieder die offizielle Nummer eins. Den eigenen Bürgern sollte man nichts vorheucheln: Wenn ein Politiker populär ist und ihm die Mehrheit vertraut, sollte er auch Präsident werden.”

MAXIM SARKISOW ÜBER FACEBOOK

"

Die Korruption wird wachsen, Menschen werden auswandern. In meinem Leben wird sich gar nichts ändern: Ich stehe seit zehn Jahren in Opposition zu Putin.”

WLADIMIR RYSCHKOW, OPPOSITIONSPOLITIKER

"

Wir haben bekommen, was wir verdienen. Ich rate aber niemandem, unser wunderschönes Land zu verlassen. Stattdessen sollten wir lernen, unsere innere Freiheit zu entwickeln und die richtigen Entscheidungen zu treffen.”

JURI SCHEWTSCHUK, ROCKMUSIKER

"

Jetzt sind alle zufrieden: Putins Fans sind glücklich, und der Rest hat begriffen: Die vierjährige Show „Präsident Medwedjew“ ist vorbei, die Dinge dürfen wieder beim Namen genannt werden: In Russland gibt es keine Demokratie, sondern nur Menschen, die die Macht usurpiert haben und sie nie mehr abgeben.”

DMITRI GUDKOW, JUGENDSPRECHER DER PARTEI GERECHTES RUSSLAND

"

Medwedjews de-jure-Wechsel in die Partei der Gauner und Diebe ist das Beste, was passieren konnte. Endlich wurden den Gaunern die Plädoyers für ihre politische Prostitution genommen, denn ihr Schutzargument „Ich spiele im Team Medwedjew“ ist damit passé. Uns allen ist klar geworden, dass Medwedjew die letzten vier Jahre nur Wache geschoben hat.”

ALEXEJ NAWALNY, KORRUPTIONSBEKÄMPFER

QUELLE: LEVADA

"

Putin hat sich richtig entschieden. Er wird seinen Teil der Arbeit machen, die Bürger sollten den ihren tun.”

FRITZ MORGEN, BLOGGER


Politik

Russland Heute www.russland-heute.de Eine Beilage der russischen Tageszeitung Rossijskaja Gaseta, Moskau

3

Parteien Michail Prochorow sollte eine liberale Partei etablieren. Die Schuld für sein Scheitern gibt er dem Kreml zitat

Michail Prochorow

"

Trotz meiner zwanzigjährigen Erfahrung in der Wirtschaftsund Geschäftswelt hatte ich noch gewisse Illusionen. Gestern sind sie mir genommen worden."

in seinem Blog

Der Irrtum des Milliardärs reuters/vostock-photo

Pressekonferenz, 14. September: Michail Prochorow gelobt den Parteivorsitz. Beim Parteitag am Tag darauf wurde er abgesetzt.

Es schlug wie eine Bombe ein, als Michail Prochorow die Führung der Gerechten Sache übernahm – Oligarchen halten sich von der Politik fern. Doch das Gastspiel währte nur kurz.

tritt.“ Es war der erste offen ausgetragene Konflikt zwischen einem Oligarchen und Vertretern des Machtapparats seit dem Fall Chodorkowskis. Prochorow ist ein Mensch, der an Niederlagen nicht gewöhnt ist.

Wiktor djatlikowitsch

Klassische Oligarchenkarriere

für russland heute

In seinem riesigen Arbeitszimmer in der Moskauer Innenstadt, mit einer gläsernen Kuppel statt eines normalen Dachs über dem Kopf, lässt Michail Prochorow Wassermelonen vom eigenen Feld servieren. Er erzählt schlüpfrige Anekdoten im Grenzbereich zur Zote und bestätigt seinen Ruf, ein ausgebuffter, an Siege gewöhnter Geschäftsmann zu sein. Das Treffen ist fast ein Jahr her, und damals dachte niemand im Traum daran, dass Michail Prochorow, laut Wirtschaftsmagazin Forbes mit 18 Milliarden Dollar drittreichster Russe, in die Politik gehen würde. Inzwischen hat Prochorow innerhalb kürzester Zeit einen vielversprechenden politischen Aufstieg und seinen jähen Absturz erlebt. Im Juni wählte die Partei Prawoje Delo (Gerechte Sache) ihn zum Vorsitzenden. Doch Prochorow wurde den Regierungsstrategen, und da vor allem dem Chefideologen Wladislaw Surkow, zu selbstständig, und Mitte September stürzte er über eine vom Kreml initiierte Parteirevolte. Der Geschlagene beschimpfte Surkow als „Drahtzieher“ und gelobte: „Ich werde alles dafür tun, dass er ab-

Der Aufstieg Michail Prochorows ist in vielem typisch für die „Oligarchen“, wie man jene nennt, die durch den Zusammenbruch der Sowjetunion sehr schnell zu großem Reichtum gelangten. Als Sohn eines mittleren Sowjetfunktionärs erhielt er eine solide Ausbildung an der Staatlichen Finanzakademie, war in der Jugendorganisation Komsomol aktiv, wurde Mitglied der Kommunistischen Partei. 1989 heuerte er bei der Internationalen Bank für wirtschaftliche Zusammenarbeit an, wo er auch seinen Geschäftspartner Wladimir Potanin kennenlernte. Anfang der 90er-Jahre gründeten die beiden die Internationale Finanzgesellschaft und später die Oneksimbank als Grundlage ihres Wirtschaftsimperiums. Zum Milliardär machten Michail Prochorow die berühmt-berüchtigten Privatisierungspfandauktionen der Jelzin-Ära, bei denen sich das Duo Prochorow-Potanin für einen Spottpreis die Mehrheitsanteile mehrerer Großbetriebe sicherte, allen voran der Erdölgesellschaft Sidanko sowie des Buntmetallriesen Norilsk Nikel.

Partei Prawoje Delo – die Gerechte Sache

itar-tass

Andrej Dunajew zeigt orange.

Parteivorsitzender: Andrej Dunajew Gegründet: 2008 Ausrichtung: (Wirtschafts-)liberal Prawoje Delo entstand, als die finanziell ruinierte Oppositionspartei SPS mit zwei kleineren Parteien fusionierte. Politisch unterstützte sie Präsident Dmitri Medwedjew. Der Einfluss des Kreml auf die Partei ist bekannt, ihr Vorsitzender hofft allerdings für die Zukunft auf mehr Unabhängigkeit.

Prochorows weiterer Werdegang ist – trotz des Bruchs mit seinem Geschäftspartner Potanin – eine einzige Erfolgsgeschichte. Selbst aus der Wirtschaftskrise ging er als Sieger hervor. Als sich die Misere anbahnte, stieß er Aktiva im Umfang mehrerer Milliarden Dollar ab und kaufte mit dem Erlös bankrotte Unternehmen auf. Prochorow pflegte gleichzeitig gute Kontakte zu den Mächtigen, akzeptierte ihre Spielregeln und zeigte Verständnis für „die soziale Verantwortung des Unternehmertums“, die der Kreml so gern im Munde führt. Russlands Basketball musste vorangebracht werden? Prochorow machte ZSKA Moskau mit viel Geld zu einem europäischen Vorzeigeclub. Es galt, die Innovationsfreude Russlands zu beweisen? Prochorow brachte die Produktion des russischen Hybridautos „Yo-Mobil“ in Schwung.

Kurs auf die Wahlen

In diesem Frühjahr war der Kreml auf der Suche nach einer konkurrenzfähigen liberalen Partei. Es galt, die Legitimität der DumaWahlen zu untermauern und den Konflikt zwischen Regierung und liberaler Öffentlichkeit zu entschärfen. Der Kreml brauchte eine Persönlichkeit wie Prochorow – medienerfahren, erfolgreich, loyal. Michail Prochorow kam nicht umhin, mit dem Kreml Absprachen darüber zu treffen, was als statthaft und was als unzulässig zu gelten habe. „In Russland existieren für Parteien Beschränkungen, und zwar strikte“, erläutert der Politologe Alexej Makarkin die Spielregeln der hohen Politik. „Die erste Beschränkung: Man sollte keine Kontakte zur marginalen parteilosen Opposition der Straße unterhalten. Die zweite: Man darf den gesetzten politischen Rahmen nicht allzu weit überschreiten, keine Themen aufgreifen, die der Führungsspitze unangenehm sind, kein fremdes Wählerfeld beackern, vor allem nicht das der Regierungspartei Einiges Russland.“

zahl

800

Millionen Rubel – etwa 20 Millionen Euro – hat Michail Prochorow nach eigenen Angaben in den Wahlkampf der Gerechten Sache gesteckt.

Für Michail Prochorow waren derartige Absprachen vertretbar, er kannte das aus seiner Unternehmertätigkeit. „Es gibt mündliche Verträge ‚nach dem Ehrenkodex‘, und es gibt juristische Vereinbarungen. Während in den 90ern die mündlichen Absprachen dominierten, sind heute alle zu den Standards des russischen oder westlichen Rechts übergegangen“, glaubte er. Die Tatsache, dass in Russlands Politik die Zeit der verbalen Abmachungen „nach dem Ehrenkodex“ noch längst nicht vorbei ist, wollte Prochorow offenbar nicht wahrhaben. Am Ende war es gerade die unterschiedliche Auslegung von getroffenen Absprachen, die ihn zu Fall brachte.

Nach eigenen Regeln

Im Mai gab Prochorow bekannt, die Parteiführung der Gerechten Sache zu übernehmen. Die Partei war vor einigen Jahren aus der heruntergewirtschafteten Oppositionspartei SPS hervorgegangen und galt als liberaler Testballon des „Parteienschöpfers“ Wladislaw Surkow, stellvertretenden Leiter der Kreml-Verwaltung. Prochorow startete voller Energie in den Wahlkampf. Er gewann fähige, bei den Machthabern in Moskau aber ungeliebte Vertreter des öffentlichen Lebens für seine Partei. In Kaliningrad entfernte er die komplette Regionalführung der Gerechten Sache und setzte an die Parteispitze einen tüchtigen und populären Organisator von Massenprotesten, die es hier vor anderthalb Jahren gegeben hatte. Prochorow war es auch, der den rigorosen Antidrogenaktivis-

ten Jewgeni Roisman – eine ambivalente, für viele Wähler aber charismatische und beliebte Figur – ins Boot holte. Als Gegenspieler zu Einiges Russland hätte die Gerechte Sache etliche Stimmen hinzugewinnen können, wenn sie sich einen sozialeren Anstrich gegeben hätte. Doch Prochorow gab lieber den ideologiefreien Populisten, der schillernde Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens um sich schart und die Gerechte Sache als Partei des Fortschritts präsentiert. Es müsste ihm von Anfang an klar gewesen sein, dass er als „klassischer Liberaler“, wie ihn die Machthaber sehen wollten, die für den Duma-Einzug nötigen sieben Prozent der Wählerstimmen nicht zusammenbekommen würde. Die Kreml-Strategen hingegen begriffen nur zu gut: Alles, was Prochorow oberhalb von 5 bis 7 Prozent einfährt, würde zu Lasten von Einiges Russland gehen.

Mehr als eine Statistenrolle

„Prochorow war die Rolle des Sparringspartners zugedacht, aber er hat einen echten Kampf begonnen“, meint Politologe Gleb Pawlowskij, der im Sommer selbst aus dem präsidialen Thinktank entlassen wurde. „Irgendwann wollte ihm Surkow seine eigenen Kandidaten für die Wahllisten aufzwingen.“ Prochorow hingegen sei überzeugt gewesen, Medwedjew und Putin hätten ihm eine Carte blanche in die Hand gegeben, und lehnte die Kandidaturen ab. „Es ist zum offenen Konflikt gekommen, Putin und Medwedjew ließen Prochorow fallen, und der in politischen Intrigen erfahrenere Surkow konnte Prochorow als Parteivorsitzenden durch Konkurrenten innerhalb der Partei stürzen lassen“, erklärt Pawlowskij. Der siegesgewohnte Unternehmer wollte auch in der Politik nicht nur präsent sein, sondern siegen. Hier liegt der Ursprung für seinen Konflikt mit Surkow, dem Strippenzieher. Zurück bleibt eine Partei, die ihre Chancen auf den Einzug in die Duma verspielt hat, und ein Oligarch, der nun gelobt, nicht einmal als Wähler an den Parlamentswahlen teilzunehmen. „Trotz meiner 20 Jahre in der Wirtschafts- und Geschäftswelt hatte ich noch gewisse Illusionen. Gestern sind sie mir genommen worden“, schrieb er nach der Niederlage in seinem Blog. „Meine Fehler liebe ich genauso wie meine Erfolge“, sagte er seinerzeit. „Weil sie mir die Grenze des Möglichen zeigen, die man nicht überschreiten darf.“ Grenzen, die allzu eng sind, um die Politik in Russland auch nur ein Jota interessanter und unberechenbarer zu machen. Wiktor Djatlikowitsch leitet das Ressort Politik des Wochenmagazins Russkij Reportjor.


4

Wirtschaft

www.russland-heute.de Russland Heute Eine Beilage der russischen Tageszeitung Rossijskaja Gaseta, Moskau

Investition Das bayerische Unternehmen produziert Babynahrung in Kaliningrad, dem früheren Königsberg

Hipp oder Möhren vom Markt Man muss viel Fantasie haben, Mut oder Pioniergeist, um die Region Kaliningrad als Produktionsstandort zu wählen. Oder man kann einfach nur gut rechnen. Hipp hat gerechnet.

Saft für die Kleinen: Produktionslinie an dem HippStandord in Kaliningrad

Astrid Thomsen

Investition mit Bundesgarantie

Das Betriebsgelände von Hipp liegt einen Kilometer vom Bahnhof entfernt inmitten einer grünen Wiese. Nur ein Nachbargrundstück ist ebenfalls bebaut. „Mamonowo ist ökologisch gesehen eine sehr saubere Gemeinde, wir haben das getestet“, sagt Natalia Sliwka. Die 36-jährige Geschäftsführerin hat in Sankt Petersburg Betriebswirtschaft studiert und in Berlin beim Unternehmensberater Roland Berger gearbeitet. Sliwka wirkt wie die Verkörperung der Hipp-Philosophie: „Das Beste aus der Natur, das Beste für die Natur.“ Sie wird nicht müde zu betonen: „Wir sind die Besten, wir haben den höchsten Standard.“ Ihre Assistentin Natalia Romanowa sagt mit einem leisen Seufzen zum Arbeitsstil ihrer Chefin: „Gut reicht ihr nicht, es muss sehr gut sein!“ Vor vier Jahren begann die Firmengruppe aus Pfaffenhofen bei München mit der Planung des Werks, es lockten Steuerersparnisse und Zollvergünstigungen. Hipp nahm eine Bundesgarantie zur Absicherung gegen politische Risiken in Anspruch. Sie soll vor Enteignungen schützen, die Risiken von sozialen Unruhen minimieren und den Kapitaltransfer ins Ausland sichern. Hipp investierte 20 Millionen Euro und erwarb ein 15 Hektar großes Werksgelände. Zwei Brunnen wurden gebohrt, Strom- und Gasleitungen gelegt, eine Kläranlage sowie ein Kesselhaus zur Dampfund Heißwassererzeugung gebaut. Im September 2009 öffnete die Fabrik ihre Pforten. Das Personal wird vor Ort oder an den Produktionsstätten in Deutschland und Ungarn geschult. Ein normaler Arbeiter erhält zwischen 15 000 und 25 000 Rubel pro Monat (375 bis 625 Euro).

Natalia Sliwka ist stolz darauf, dass fast alle, die sie zu Produktionsbeginn eingestellt hat, noch heute im Werk tätig sind. Die Bereitschaft russischer Arbeitskräfte, ihren Job häufig zu wechseln, ist normalerweise sehr hoch. „Wir ködern hier niemanden mit allzu hohen Löhnen“, sagt sie. Stattdessen gibt es für gute Leistungen Prämien. „Und wir erwarten im Gegenzug, dass unsere Werte verinnerlicht werden.“

Apfelmus vom Fass

Seit Juli 2011 ist auch Hipps Handelsmarke Bebivita auf dem russischen Markt. Sie hat keine Bioqualität und ist wie in Deutschland kostengünstiger als die Hausmarke Hipp. Unter dem Firmennamen Ameko-Kaliningrad produziert Hipp die Bebivita-Produkte ebenfalls am Standort Mamonowo. Vor der Werkseröffnung belieferten Hipp-Niederlassungen aus Österreich, Ungarn und Deutschland die Russische Föderation. Diese Aufgabe soll nun das neue Werk in Mamonowo komplett übernehmen. Die Grundstoffe für die Babynahrung kommen als Fassware oder tiefgefroren direkt aus den Ursprungsländern oder über einen Umweg aus Deutschland. Je nach Order wird die gewünschte Rohware nach Mamonovo geliefert. Das Hipp-Werk in Pfaffenhofen

Unternehmen um Kaliningrad In der Region Kaliningrad gibt es 3664 Unternehmen ausländischer Investoren. Deutschland liegt mit 450 Unternehmen knapp hinter Polen (459) auf Platz drei. Den ersten Platz hält Litauen mit 1078 Unternehmen. Den Status eines Residenten haben 66 Firmen. Einer der Pioniere in Kaliningrad war BMW: Bereits seit 1999 lassen die Bayern hier im Werk Awtotor Autos montieren. Weitere deutsche Unternehmen sind der Autozulieferer Grammer, der Hersteller von Kränen und Ölförderanlagen Baltkran und das Bauunternehmen Stieblich.

koordiniert die Lieferungen, aus Deutschland kommt auch das Verpackungsmaterial und die Etiketten. Die Vermarktung der fertigen Produkte und deren Verkauf in Russland und der GUS regelt ein hauseigenes Marketingunternehmen in Moskau. Die Produktionsräume in Mamonowo wirken im Gegensatz zu den gut gefüllten Lagerhallen für Rohund Auslieferungswaren leer und sehr übersichtlich. Der Standort kann 40 Millionen Gläschen Babynahrung pro Jahr produzieren, allerdings wird diese Zahl mo-

Steuern, Pacht und Zoll Seit 2006 (und mindestens bis 2031) ist die Region um Kaliningrad zur Sonderwirtschaftszone (SWZ) ernannt worden. Das dazugehörige Gesetz sieht den Sonderstatus eines „Residenten der SWZ“ vor: „Resident“ wird eine juristische Person, die innerhalb von drei Jahren mindestens 150 Millionen Rubel (3,75 Millionen Euro) in die SWZ investiert. Weitreichende Steuerund Zollvergünstigungen sollen ausländische Investoren in die Region locken. In den ersten sechs Jahren muss der Resident weder Gewinn- noch Vermögenssteuer zahlen, ab dem

siebten bis zum zwölften Jahr wird nur die Hälfte des in Russland festgesetzten Steuersatzes erhoben. Am Beispiel von Hipp lässt sich gut zeigen, welche Vorteile bei der Verzollung entstehen: Die Einfuhr der Rohware in die SWZ Kaliningrad ist zollfrei, auch bei der Ausfuhr besteht Zollfreiheit, wenn das Endprodukt durch die Weiterverarbeitung seinen Zollcode geändert oder eine mindestens dreißigprozentige Wertschöpfung erfahren hat. Wird also beispielsweise der Rohstoff Apfelpüree zu einem Glas Babynahrung verarbeitet,

pressebild

Und doch fragt man sich auf den 50 Kilometern Fahrt von Kaliningrad nach Mamonowo, nahe der polnischen Grenze: warum gerade hier? Hinter den Alleebäumen ziehen sich brachliegende Flächen bis zum Horizont. Büsche und Disteln wachsen mannshoch. Wer von der Landstraße abbiegt, findet heruntergekommene Wohnblocks, metergroße Schlaglöcher. Ab und zu tauchen prächtige Villen auf, Fremdkörper in der öden Landschaft. Es sind Datschen wohlhabender Russen, die am Frischen Haff ihre Wochenenden verbringen. Kurz vor der Grenze zu Polen ändert sich das Bild. In Mamonowo herrscht ein reges Treiben. Im gepflegten Stadtzentrum warten Taxis auf Geschäftsleute mit Aktentaschen, es gibt ein Restaurant, in dem Büroangestellte zu Mittag essen, und ein Hotel, das komplett ausgebucht ist.

itar-tass

für russland Heute

Das Werksgebäude von Hipp vor den Toren Mamonowos

mentan noch nicht erreicht. Genaue Mengen nennt die Firmenführung nicht.

Biokartoffeln aus Kaliningrad

Hipp hat geplant, den Anbau von Biogemüse im weiteren Umland von Kaliningrad zu fördern, um die Produkte dann direkt zu verarbeiten. Ein steiniger Weg, denn viele Felder liegen seit Jahren brach. Ein Landwirt, der zuvor in Deutschland geschult wurde, liefert voraussichtlich in diesem Herbst zum ersten Mal seine Biokartoffeln. Der Kartoffelanbauändert sich der Zollcode und die Ausfuhr ist zollfrei. Neue Investoren können das Land für die Industrieansiedlung erwerben oder pachten. Die Höhe der Pacht wird mit der Verwaltung der SWZ ausgehandelt. Laut Gesetz bleibt der Pachtzins während der gesamten Dauer des Investitionsprojekts unverändert. Die Frage, ob die Erschließungskosten des Betriebsgeländes vom Staat oder Residenten getragen werden, ist Einzelfallentscheidung. Weitere Informationen Gebietsregierung Kaliningrad www.economy.gov39.ru/de/ ekonomika-i-investicii-de/oez-kgd-de

er war zu einem Gespräch und einem Betriebsbesuch nicht bereit. Den russischen Markt für Babynahrung, der im Jahr 2010 ein Volumen von etwa 626 Millionen Euro hatte, muss Hipp sich mit 30 Firmen aus Europa, den USA und Russland teilen. Hipp hält daran einen Anteil von knapp fünf Prozent. Zum Verkauf der Marke Bebivita liegen noch keine Zahlen vor. Wer zurzeit als Kunde in russische Supermärkte geht, sucht manchmal vergeblich nach der Marke Hipp, Bebivita dagegen ist in den Regalen für Babynahrung sehr präsent. Wie wichtig ist den russischen Müttern biologische Kindernahrung? „Das Bewusstsein, sich ohne allzu großen Aufwand gesund zu ernähren, entwickelt sich langsam in den Köpfen“, sagt Sliwka. Eine große Konkurrenz zu den Fertigprodukten sind im Moment noch die russischen Gemüsegärten. „Ich kaufe bei den Babuschkas auf dem Markt und koche selbst“, antworten viele Frauen, auf Gläschennahrung angesprochen. Aber auch in Russland spielt der Faktor Zeit eine immer größere Rolle im Familienleben: 2010 wuchs der Gesamtmarkt für Babynahrung um 17,5 Prozent.


Wirtschaft

Russland Heute www.russland-heute.de Eine Beilage der russischen Tageszeitung Rossijskaja Gaseta, Moskau

Literatur Der russische Buchmarkt zwischen Wirtschaftskrise und Waldbränden

Weniger Bücher, weniger Autoren: Verlage setzen auf Serien

Die Auflagen sinken, die Verkaufszahlen gehen zurück. Verleger versuchen, sich mit gewinnträchtigen „Projektserien“ zu retten. Für innovative neue Autoren ist kaum Platz. Konstantin miltschin für russland heute

E-Books und Raubkopien

Es gibt viele Gründe für diesen Verfall. Eine Rolle spielt sicher die Wirtschaftskrise, deren Folgen der Buchmarkt nach wie vor zu spüren bekommt. Daneben war das vergangene Jahr denkbar ungünstig für die Büchermacher: Die wirtschaftlich gut aufgestellten

Dmitri Gluchowskis Endzeitroman „Metro 2033“ machte sein russischer Verlag prompt zur Buchreihe.

Regionen Zentralrusslands wurden von Bränden heimgesucht, die Menschen flüchteten über den Sommer aus den Städten in ihre Datschas oder in den Urlaub, niemand kaufte Bücher. Und als dritter Faktor wäre der Einzug der E-Books zu nennen. Dmitri Gluchowski, Autor des Erfolgsromans „Metro 2033“, schildert: „Mein Verleger sagt, bei allen großen, bekannten Schriftstellern in Russland gingen die Auflagen zurück. Ich glaube, nicht deshalb, weil die Leute weniger

lesen, sondern weil sie dazu jetzt elektronische Lesegeräte und Smartphones benutzen, auf die sie Raubkopien herunterladen. Dass in Russland gegenwärtig eine Revolution des Lesens im Gange ist, habe ich an mir selbst gespürt.“ Gluchowskis „Metro 2033“ verkaufte sich seit 2007 mehr als eine halbe Million Mal, der Roman wurde damit zu einem Markenzeichen für den prosperierenden russischen Buchmarkt. Seinerzeit gab es eine Vielzahl erfolgreicher verlegerischer Initiativen. Es ist

keine fünf Jahre her, da investierten große Verlage wie AST oder Eksmo hohe Summen in die Werbung, klebten die Städte mit Reklameplakaten zu, rückten ihre Autoren durch Zeitungsanzeigen und Fernsehspots ins öffentliche Blickfeld. Nun ist es anders: Große Namen und Projekte sucht man vergebens, selbst bei den marktführenden Granden der Gegenwartsliteratur sinken die Auflagen rapide. Verkaufte Darja Donzowa, die Meisterin des ironischen Krimis,

Keine Panik vor dem E-Book

Profil

Frau Kamenewa, lohnt es sich heute, Bücher zu verkaufen? Der Profit im Buchhandel war schon immer geringer als in anderen Branchen, aber wir verdienen schon etwas. Bis zuletzt war die Situation allerdings stabiler. Was bedeutet „bis zuletzt“? Ende 2010, Anfang 2011 ging bei uns der Umsatz herunter, in manchen Bereichen um bis zu 20 Pro-

Wirtschaftskalender Lesen sie mehr über die russische Wirtschaft auf

russland-heute.de

pressebild

Die direktorin des Buchkaufhauses Moskwa im Herzen der hauptstadt über die Leselust der Russen

Eine rettende Nische hat der Markt der Gegenwartsliteratur in den sogenannten „Projektserien“ gefunden, also in Buchzyklen, die auf Motive bekannter Werke oder Computerspiele zurückgreifen. So musste der bahnbrechende Roman „Die bewohnte Insel“ der Schriftstellerbrüder Arkadi und Boris Strugazki, der zu den Klassikern der sowjetischen Fantastik zählt, nach einer niveaulosen Verfilmung als Basismaterial für eine ganze Serie minderwertiger Bücher herhalten. Auf dem Gebiet der Science-Fiction debütierende junge Autoren bedienen die Konjunktur, indem sie die fantastische Welt der Strugazkis einfach mit „modernen“ Helden bevölkern, statt selbst literarische Universen zu erschaffen. Die angespannte Lage auf dem Buchmarkt schlägt als ideelle Krise auch auf die eigentliche Literatur zurück.

Ist das E-Book denn eine echte Konkurrenz für das gedruckte Buch? Nein, obwohl die Verkaufszahlen rapide wachsen: im Jahr 2010 bei uns um 300 Prozent!

Interview Marina Kamenewa

Klarisa Pulson

2007 und 2008 noch zehn Millionen Exemplare jährlich, so waren es 2010 nur 5,4 Millionen. Die Krise im Verlagswesen wirkte sich zwangsläufig auf den Buchhandel aus, auch hier schrumpften die Erlöse. „In Russland gibt es keinen unabhängigen Buchvertrieb“, erklärt Boris Kuprijanow, Gründer der Moskauer Independent-Buchhandlung Falanster. „In den Online-Supermärkten findet man nicht einmal die Hälfte dessen, was erscheint, und obendrein liegt der Aufpreis bei 100 bis 150 Prozent. Der Leser wird hier weder Bücher eines kleinen Verlags noch Titel aus dem Programm eines großen Verlagshauses finden, der kein Bestseller ist, sondern eine Auflage von unter 2000 Exemplaren hat. Und auf einen annehmbaren Preis braucht er schon gar nicht zu hoffen.“

Klassiker neu aufgelegt

ruslan suchuschin

Bemühen wir zunächst einmal die offizielle Statistik. Die Föderale Agentur für Presse und Medien musste jüngst einräumen, dass der russische Buchmarkt 2010 um acht Prozent geschrumpft sei und die Umsätze von 1,66 auf 1,53 Milliarden Euro sanken. Die Bücherkammer als das für die statistische Erfassung sämtlicher in Russland herausgegebener Titel zuständige staatliche Gremium erklärte im September, dass die Gesamtauflage in den ersten acht Monaten des Jahres 2011 um vier Prozent gesunken sei. In Verlagsund Autorenkreisen machen furchteinflößende Gerüchte von einem noch gravierenderen Markteinbruch um 15, wenn nicht gar um 25 Prozent die Runde.

5

Können Sie sagen, dass die Russen durchaus bereit sind, dafür Geld auszugeben? Ja. Ich habe Mitarbeiter, die nur E-Books lesen. Sie haben mir erklärt: „Wenn die elektronische Version eines Buches gleichzeitig mit der Druckversion erscheint, würden wir das E-Book kaufen. Aber wenn ein Buch erscheint, und es gibt die elektronische Version nicht im Handel, dann laden wir natürlich das E-Book illegal herunter.“ Besonders problematisch ist die Situation mit ausländischen Verlagen: Sie haben Angst, uns die Rechte an elektronischen Büchern zu verkaufen, weil unser Schutz des geistigen Eigentums sie nicht zufriedenstellt.

Hat sich die Nachfrage in den letzten Jahren verändert? In der Krise wurde mehr Fantasy, historische Literatur und Psychologie gelesen. Bei der modernen Literatur geht es bergab.

Ist der Unterschied zwischen Städten wie Moskau und den Regionen wirklich so gravierend? Der Unterschied ist katastrophal. In den Regionen ist das Angebot sehr mager, die Lieferungen dauern lang und sind teuer. In Cha-

barowsk hat jüngst jemand ein Buch bestellt. Das Buch selbst kostete 230 Rubel, und für die Lieferung hat er 1000 bezahlt. In Russland mit seinem großen Territorium sollte man „Print on demand“ entwickeln, das heißt in den wichtigen Städten in Sibirien, dem Ural und dem Fernen Osten kleine Druckereien etablieren, die Bücher in Auflagen von 100 oder 200 drucken können. Dann muss man keine Lastwägen durch die Gegend fahren lassen oder große Lagerhallen bezahlen.

forum deutsch-russisches Forum Biotechnologie

regionen Wirtschaftstag der region pskow

konferenz staat und bürger

Chancen Karrierebörse Russland

12. Oktober, russisches konsulat bonn, waldstrasse 42

12. bis 14. Oktober, gesellschaftskammer, Miusskaya Ploschchad 7, moskau

26. Oktober, 14-19 Uhr, IHK Düsseldorf

10. Oktober, messe hannover

Seit Jahren arbeiten deutsche und russische Wissenschaftler bei der Biotechnologie eng zusammen. Das Forum richtet sich an Fachpublikum, Politiker und Journalisten.

Ob Autoproduktion, Landwirtschaft, Infrastruktur oder Tourismus – die Region Pskow zeigt sich deutschen Investoren von ihrer besten Seite.

Wirtschaft, soziale Verantwortung, Rechtswesen und der Bürger – wie stehen sie in Russland zueinander? Prominenter Thinktank diskutiert.

›› commit-pp.com ›› pskov.ru

›› deutsch-russisches-forum.de ›› bosch-stiftung.de

zent, in Buchhandlungen auf dem Land sogar um 40 Prozent. Ich sehe dafür vier Gründe: den Einfluss der Makroökonomie, allgemein sinkendes Interesse an Büchern, die Konkurrenz der Internetgeschäfte und E-Books.

›› owwz.de

Weil die Realität belastend ist? Genau. Ich wurde in die Jury eines Literaturpreises berufen. Und bei der Auswahl der Bücher habe ich so viel von dieser „Wirklichkeit“ gelesen, dass ich einige Autoren gerne zum Psychologen geschickt hätte!

Dieser Beitrag erschien im Magazin Profil

Für Studenten oder junge Nachwuchskräfte mit Russischkenntnissen bietet sich hier die Gelegenheit, Entscheider aus Unternehmen mit Russlandfokus zu kontaktieren und Einstiegsmöglichkeiten zu finden. ›› duesseldorf.ihk.de


6

Das Thema

www.russland-heute.de Russland Heute Eine Beilage der russischen Tageszeitung Rossijskaja Gaseta, Moskau

Literatur frankfurter Buchmesse ab 12. Oktober geht es in frankfurt um Bücher aus der ganzen Welt. Wo steht die russische Literatur?

Frischer Wind aus Jerewan Konstantin Miltschin für Russland heute

Bis 2008, Jahr der Wirtschaftskrise, war alles einfach: Die literarische Massenware arbeitete sich unisono am realistischen Roman ab. Autoren wie Sergej Minajew wählten die angelsächsische urbane Prosa als Vorbild und projizierten ausländische Sujets auf russische Realien. Ein anderer Trend war der „Glamour-Roman“ mit Geschichten ehrgeiziger Schönheiten, die in den entsprechenden Gesellschaftskreisen nach ihrem Traumprinzen Ausschau halten. Dieses Genre verkörpert unübertroffen Oksana Robski. Derartige Bücher zeichneten das Bild einer Gesellschaft, in der die Zahl der Büroangestellten wuchs und der Erdölboom eine Klasse von Müßiggängern hervorgebracht hatte. Zugleich gaben sie den aus der Provinz in die Großstädte strömenden Zugereisten Strategien zum täglichen Überlebenskampf an die Hand. Demgegenüber verweigerte sich die „hohe Literatur“ hartnäckig der Gegenwart. Die Mehrheit der

Werke, die in den letzten zehn Jahren den russischen Booker-Preis erhielten, thematisiert die Vergangenheit, bevorzugt die sowjetische. Selbst Olga Slawnikowas Zukunftsroman „2017“ und Wassili Aksjonows im 18. Jahrhundert angesiedelter Text „Voltairianer und Voltairianerinnen“ verweisen den Leser auf die Sowjetzeit. Die mit den Gespenstern der Vergangenheit kämpfenden Schriftsteller hörten auf, sich mit dem traditionell ureigensten Anliegen

Die „hohe Literatur“ verweigert sich hartnäckig der Gegenwart und vergisst damit ihr wichtigstes Anliegen. russischer Literatur zu befassen: einer geistigen Aufarbeitung und Ausdeutung der Realität. Sieht man einmal von Wiktor Pelewin und Wladimir Sorokin ab. Pelewin bringt Herbst für Herbst einen neuen Roman heraus, in dem er die Träume und Ängste parodiert, die die Gesellschaft während des zurückliegenden Jahres bewegten. In ähnlicher Manier schreibt auch Sorokin, wenn auch radikaler. Als einem der ganz Wenigen gelang es dem Historiker und Fernsehmoderator Alexander

Archangelski mit seinem 2008 erschienenen Roman „Der Preis der Abtrennung“, das Feld der Massenliteratur neu zu beackern. Archangelski beschreibt präzise und stilistisch brillant die russische Hauptstadt in Zeiten des Erdölüberflusses.

Ehrliches Leben im Falschen

Ein „seltenes Exemplar“ ist Jewgenij Grischkowjez, der eine Brücke zwischen „hoher Literatur“ und Massenliteratur zu schlagen versucht. Er begann als Schauspieler mit Ein-Mann-Stücken, die mehr an die amerikanische Stand-up-Comedy erinnerten, denn an klassisches russisches Theater. Seine Erinnerungen an den Wehrdienst bei der russischen Marine („Wie ich einen Hund aufaß“) machten ihn bekannt. 2004 erschien sein erster Roman „Das Hemd“ im Stil des Realismus, aber grundehrlich und mitreißend. Für einige Aufmerksamkeit sorgte Sachar Prilepin, Tschetschenienveteran und Mitglied der radikalen „Nationalbolschewiken“. Mit „Sanka“ ging er den Weg eines jungen Revolutionärs aus der russischen Provinz, der sich gegen das Regime stellt. Auch in „Grjech“ (Die Sünde) blieb er diesem Ansatz treu: Darin nämlich versucht der Protagonist, sich in einer erdrückenden Wirklichkeit mensch-

kommersant

Die einen imitieren westliche Autoren, die anderen arbeiten sich noch immer an der Sowjetunion ab. Die wahren Perlen ihrer Literatur übersehen die Russen da manchmal selbst.

Zeit zum Träumen: In russischen Bestseller-Listen stehen klassische Romane ganz oben.

liche Werte wie Ehrlichkeit und Humanität zu erhalten. Die russische Literatur krankt an ihrer zentralistischen „Hauptstädtischkeit“: Bücher, die in der Provinz spielen, haben in der Regel keine Chance, überregional bekannt zu werden. Eine der wenigen Ausnahmen ist „Sergejew und das Städtchen“ (2004), in welchem Autor Oleg Sajontschkowskij die Provinz mit feinem Opti-

mismus umspült. Im letzten Jahr sorgte Roman Sentschins „Jeltyschewy“ für Aufsehen, ein Buch über einen Polizisten, der mit seiner Familie in ein Dorf zieht. Nach und nach zerfällt die Familie. Sentschin zerstörte den Mythos, dass die Rückkehr ins einfache Landleben die Probleme Russlands lösen kann. 2008 hat die Wirtschaftskrise der Massenliteratur arg zugesetzt.

der Genannten sind ins Französische übersetzt, von Gelassimow sind bereits vier Titel erschienen. Auch in Italien wird russische Literatur häufiger publiziert als bei uns. Liegt es an der Krise des Buchmarktes? An der Konkurrenz der sowjetischen Nachfolgestaaten im Osteuropa-Segment der Verlage? Am Schmuddel- und Mafiaimage, das Russland nicht loswird? Franzosen und Italiener scheint das nicht zu stören. Gibt es in Deutschland ein spezielles Problem mit Russland und der russischen Literatur, verquickt mit Verbrechen, Schuld und scheinbarer Sühne im 20. Jahrhundert? An russische Prosa stellen die Verlage, im Vergleich zu anderen Ländern, hohe Ansprüche. Zu schwerfällig, zu deprimierend komme das Russische daher, oder zu verkopft. Und überhaupt, die deutschen Lesegewohn-

heiten seien eben andere. Dabei beklagen längst nicht alle Texte die Härte der menschlichen Existenz, es gibt hochkomische, satirische, absurde und dabei sehr leichtfüßige Prosa, und die ganz junge Generation schert sich nicht um Konventionen und legt literarisch geradezu abenteuerlich los. Dass nun kürzlich ein paar Texte von Autoren um die 30 übersetzt wurden, von Natalja Kljutscharowa, Dmitri Dergatchev, Wladimir Lortschenkow, nährt neue Hoffnungen. Vielleicht kommt man sich demnächst ja auch literarisch wieder näher.

kommentar

Mehr als nur Pelewin und Sorokin Christiane Körner

Übersetzerin

Auf wirtschaftlichem Gebiet sind die russisch-deutschen Beziehungen ausgezeichnet – das hat die Umarmung von Wladimir Putin und Gerhard Schröder bei der Eröffnung der NordStream-Pipeline Anfang September eindrucksvoll illustriert. Schlechter sieht es in literarischer Hinsicht aus. Klassiker wie Lew Tolstoi werden zwar neu ins Deutsche übertragen, und dass es lesbare russische Krimis und Thriller gibt, von Boris Akunin bis zu Dmitri Gluchowski, hat sich auch herumgesprochen. Aber wo bleibt die anspruchsvolle Gegenwartsliteratur?

Als Russland 2003 Ehrengast der Frankfurter Buchmesse war, brachte jeder deutsche Verlag seinen russischen Titel. Seitdem ist nicht viel passiert. Welche russischen Literaten kennt man im deutschsprachigen Raum? Ljudmila Ulitzkaja, Wladimir Sorokin und Viktor Pelewin, Bestsellerautoren, die für die konventionalisierte Postmoderne stehen, werden hierzulande mit schöner Regelmäßigkeit gedruckt. Aber das sind Ausnahmen. Autoren zwischen 35 und 55, die noch in der Sowjetunion sozialisiert wurden, aber literarisch ganz unterschiedlich auf dieses Erbe reagieren, fehlen auf dem deutschsprachigen Buchmarkt fast ganz. So ist Andrej Gelassimows

„Durst“, der brillante Text über einen entstellten Tschetschenien-Heimkehrer, mit fast zehn Jahren Verspätung endlich auf Deutsch erschienen. Endlich wurde auch Michail Schischkins „Venushaar“ übersetzt. Doch die Prosa von Olga Slawnikowa, Dmitri Bykow, Oleg Sajontschkowski, Alexej Iwanow oder Maxim Ossipow gibt es bis heute nicht auf Deutsch zu lesen. Von Andrej Terechow, Roman Sentschin, Igor Sachnowski oder Michail Jelisarow wurde jeweils nur ein Buch übersetzt, und das ist lange her. Alle diese Autoren sind Träger oder Finalisten der drei wichtigsten russischen Literaturpreise, die meisten standen mit unterschiedlichen Werken auf den Shortlists. Was man in Russland liest und schätzt, kennt man in Deutschland nicht. Anders steht es mit der russischen Prosa bei unseren Nachbarn: Fast alle

redaktion@russland-heute.de

Die Autorin ist freie Über-setzerin, Lektorin und Dozen-tin. Zuletzt erschien von ihr „Das schönste Proletariat der Welt: Junge Erzähler aus Russland“ bei der edition suhrkamp.


Das Thema

Russland Heute www.russland-heute.de Eine Beilage der russischen Tageszeitung Rossijskaja Gaseta, Moskau

7

„Drei Kameraden“ ist der Dauerbrenner Einen Feuchtwanger, Remarque oder Thomas Mann hatte vor 30 Jahren fast jeder Sowjethaushalt im Bücherregal. Von der aktuellen deutschen Literatur wissen die Russen aber nur wenig.

Vor allem offenbart sich aber ein ernsthafteres Problem: Die deutsche Literatur wird nicht mehr als etwas Ganzheitliches wahrgenommen. Der französischen, englischen oder norwegischen Literatur spricht man diese Ganzheitlichkeit noch zu. Manch russischer Leser hat etwas von Julia Franck gelesen, von Herta Müller, ein anderer vielleicht den vollständig übersetzten Günter Grass. Eine Vorstellung, was im literarischen Leben Deutschlands als Ganzem vor sich geht, haben jedoch nur Literaturexperten. Dem deutschen Literaturbetrieb fehlt es heute an Kultfiguren. Im Grunde gibt es da noch immer nur Günter Grass. Vor einigen Jahren hätte der deutschsprachige Schweizer Autor Christian Kracht beinahe Kultstatus erlangt. Aus der Riege der deutschen Schriftsteller der ersten Hälfte

konstantin miltschin für russland heute

In den ersten Monaten des Jahres 2011 belief sich die Gesamtauflage aller Übersetzungen aus dem Deutschen auf zwei Millionen Exemplare. Zum Vergleich: Übersetzungen aus dem Französischen erschienen mit einer Auflage von 4,7 Millionen, aus dem Englischen sogar mit 25 Millionen Exemplaren. Was auch damit zu tun hat, dass Franzosen und Engländer das Interesse an Übersetzungen aus ihren Sprachen durch Zuschüsse und Stipendien für Verleger und Übersetzer fördern und ihre Autoren beständig ins Blickfeld rücken.

Was liest Russland? Die internationalen Autoren mit den höchsten Auflagen Autor

Anzahl Ausgaben

Auflage in Mio.

1

Arthur Conan Doyle

67

1,90

2

Alexandre Dumas d. Ä.

71

1,55

3

Stephenie Meyer

19

1,46

4

Agatha Christie

113

0,81

5

Sidney Sheldon

77

0,66

„Drei Kameraden“ von einer intensiven Freundschaft handelt, die den Protagonisten hilft, unter schwierigsten Umständen zu überleben. Aus dem gleichen Grunde erfreuen sich Alexandre Dumas’ „Drei Musketiere“ in Russland bis zum heutigen Tage größter Beliebtheit.

des 20. Jahrhunderts ist Thomas Mann nach wie vor populär, ebenso Erich Maria Remarque, dessen Werke – vornehmlich „Drei Kameraden“ – auch heute noch in Russland erscheinen und zur Schullektüre gehören. Das Geheimnis des Remarque’schen Erfolgs mag darin liegen, dass

Neues im Herbst

Konstantin Miltschin ist Literaturkritiker bei der Zeitschrift Russki Reporter.

Russische Literatur entsteht nicht nur in Russland: Auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion schreiben Menschen auf Russisch, ebenso wie die Emigranten in den USA und in Deutschland. Der 32-jährige Wladimir Lortschenkow wuchs am Baikalsee auf, am Polarkreis und in Belarus. Am Ende hat es ihn in Moldawiens Hauptstadt Chisinau verschlagen. Der tiefgründige schwarze Humor, mit dem er das Leben im „Armenhaus Europas“ umspielt, hat ihn in Russland berühmt gemacht. Die Bewohner des Dorfes Larga leben schlecht und träumen von Italien. Endlich entschließen sich

Eichborn, 693 S., 65 Euro. Das Buch ist im August erschienen.

Warlam Schalamow: „Die Auferweckung der Lärche“

Den 1907 geborenen Warlam Schalamow traf das Stalin’sche Terrorsystem mit voller Härte. Seine Odyssee durch die lebensfeindliche Kolyma-Region im Fernen Osten Sibiriens dauerte 17 Jahre. Wie durch ein Wun-

Thema der nächsten Ausgabe juschko oksana

die Offenheit, mit denen sie auf das fremde Land blicken. Nach über 70 Jahren hat dieses wundervolle und reich bebilderte Buch es nach Deutschland geschafft.

eine russische familie Wie eine typisch russische Familie lebt, wie sie sich entspannt, was sie sich leisten kann und wovon sie träumt.

Matthes & Seitz, 512 S., 29,90 Euro. Erscheint im Oktober.

zwei, ihrem Traktor „Flügel zu verleihen“ und in jenes sagenumwobene Land zu fliegen. Gleichzeitig fasst auch der Präsident Moldawiens diesen Entschluss. Atrium, 224 S., 18 Euro. Das Buch erschien im September.

Sergej Lukianenko: „Der falsche Spiegel“

kommersant

der überlebte Schalamow, 1982 starb er in Moskau. Mit „Die Auferweckung der Lärche“ erscheint nun der vierte und letzte Band seiner „Erzählungen aus Kolyma“, minutiöser, schnörkelloser Beschreibungen des höllischen Alltags im Gulag, der die Leben von Millionen von Menschen zerstörte, der ihre Arbeitskraft ausbeutete, um für den Staat Gold aus der Erde zu holen. Das Buch ist Teil einer deutschen Werksausgabe Schalamows, der einzigen außerhalb Russlands.

photoxpress

Schon vor Beginn des Kalten Krieges blickten die Sowjets voller Neid über den Ozean, trotz aller vorgetragenen Ablehnung des Kapitalismus. Stalin sandte Filmleute nach Hollywood und Architekten nach New York, um das Gesehene dann in der Sowjetunion umzusetzen. Und 1935 reiste das berühmteste Schriftsteller-Duo der Sowjetunion in die USA. Ilja Ilf und Jewgenij Petrow waren Satiriker, und so beschreiben sie ihre Begegnungen mit Kapitalisten, Arbeitern und Arbeitslosen, Indianern und Intellektuellen mit spritzigem Humor. Das Schönste ist jedoch

pressebild

Wladimir Lortschenkow: „Milch und Honig“

shalamov.ru

Kaum war das Schriftstellerhandwerk einigermaßen einträglich geworden, sanken die Honorare aufs Neue, und damit auch die Zahl derjenigen, die Lust auf dieses Handwerk verspüren. In der „hohen Literatur“ sind kaum Tendenzen auszumachen. Geht der Kurs einmal in Richtung dokumentarischer Roman, machen bald darauf Reiseberichte das Rennen, dann wieder erlebt die historische Prosa eine Renaissance. Was alle Strömungen eint, ist die Angst vor literarischen Experimenten. Ei n zige Ausnah me: der i m deutschsprachigen Teil der Schweiz lebende Michail Schischkin, der in Romanen wie „Wsjatie Ismaila“ (Die Eroberung Ismails) exzessiv mit Sprache und literarischen Formen spielt. Der Erfolg Schischkins und anderer, in einem nichtrussischen Sprachmilieu lebender, dabei jedoch Russisch schreibender Autoren mag eine neue Tendenz aufzeigen: Eines der stärksten Bücher der letzten Jahre war Miriam Petrosjans Roman „Dom, wkotorom“ (Das Haus, in dem), eine überwältigende Melange aus Fantasy und psychologischem Roman. Petrosjan lebt und arbeitet im armenischen Jerewan.

Ilja Ilf, Jewgenij Petrow: „Das einstöckige Amerika“

Der 43-jährige Sergej Lukianenko wurde mit „Wächter der Nacht“, spätestens aber mit dessen Verfilmung 2004 in Russland und weltweit berühmt. Den Reiz seiner „Wächter“-Romane macht die Verbindung fantastischer Ele-

Noch frischer als aus dem Druck – das Russland HEUTE E-Paper russland-heute.de/e-paper

mente mit der postsowjetischen Realität aus. „Der falsche Spiegel“, bereits das 16. ins Deutsche übertragene Buch, ist eine düstere Zukunftsvision, in der die Menschen in den Tiefen des Internets gefangen sind. Die russische Science-Fiction erlangte in den 60er-Jahren Weltruhm mit den Strugatzki-Brüdern. Den heutigen Thron der Science-Fiction muss sich Lukianenko mit Dmitri Gluchowski teilen, Autor von „Metro 2033“. Heyne, 576 S. , 14,99 Euro. Erscheinungsdatum: 9. November 2011


8

Gesellschaft

WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU

Partnerschaft Russinnen sehen sich nicht länger als „nachwachsende Rohstoffe“ für die Volkswirtschaft

Was russische Frauen wollen Früher war die Ehe für viele Russinnnen der einzige Weg in die Unabhängigkeit. Heute ist es oft genau umgekehrt. Wohlstand und Emanzipation haben das Frauenbild verändert.

ZAHLEN

11

Prozent der russischen Frauen könnten es sich durchaus vorstellen, einen Mann aus dem Ausland zu heiraten und Russland zu verlassen.

SVETLANA ILLARIONOVA

EXKLUSIV FÜR RUSSLAND HEUTE

„Ich bin 25 Jahre alt und noch immer nicht verheiratet! Was soll ich tun? In fünf Jahren will mich keiner mehr!“, schlägt die Bloggerin Irina in einem der russischen Frauenforen Alarm. Ihre Torschlusspanik teilt die 26-jährige Anastasija: „Ich bin auch noch unverheiratet. Das kann so nicht weitergehen.“ Was junge Deutsche wohl zum Lächeln bringt, löst bei Russinnen Panikattacken aus. Eine Heirat besiegelt in Russland nicht nur den traditionellen Bund fürs Leben, sie ist auch ein Symbol des gesellschaftlichen Aufstiegs. Daher heiratet man nach wie vor jung – mit 23,5 Jahren, während die Deutschen im Durchschnitt mit 30,2 ihr Jawort geben. Daran hat sich trotz steigender Scheidungsraten nichts geändert.

23

Jahre jung ist eine russische Frau, wenn sie zum Traualtar schreitet. Daran hat auch die hohe Scheidungsrate nichts geändert.

30

Jahre alt ist eine deutsche Frau, wenn sie zum Traualtar schreitet. Karriere und Selbstverwirklichung zögern die Ehe immer weiter hinaus.

Auf dem Land steht die Ehe noch immer für finanzielle Sicherheit und gesellschaftlichen Rückhalt.

„Ich wollte schon immer früh heiraten, wie meine Eltern“, erzählt die 25-jährige Maria Osokina. Mit 18 lernte sie ihren damals 23-jährigen Mann kennen. Nach wenigen Monaten schon machte er ihr einen Heiratsantrag. Das Motiv? „Ohne Trauschein zusammenziehen, das hätten meine Eltern niemals geduldet“, erklärt sie und suchte das Eheglück. „Auch des guten Rufs wegen und der Stabilität“, sagt die jetzige Mutter. So oder ähnlich erklären die meisten russischen Frauen ihren Heiratswunsch. „Ansehen und Stabilität sind die Schlüsselbegriffe“, erläutert Soziologin Irina Perstnjewa. Vor allem in ländlichen Gebieten, in denen eine alleinstehende Frau über 25 als „alt“ oder gar als „alte Jungfer“ gelte, sei die frühe Eheschließung eine Art lukratives Geschäft: Für die Provinzlerin, wirtschaftlich vom Mann abhängig, bedeute der Ehering finanzielle Sicherheit, dem Mann beschere er gesellschaftlichen Rückhalt. Auf dem

PRESSEBILD

Trauschein muss sein

Lesen Sie die Geschichte auf www.russland-heute.de

Aljona Popowa, 39, führt in die Selbständigkeit: Ihr virtuelles Gründerzentrum Startup Women unterstüzt Frauen mit Geschäftsideen.

Doch die Familie meine es eigentlich gut mit ihr: „Mit 28 kann man gerade noch so auf den letzten Wagen des abfahrenden Zugs aufspringen.“ Mit zunehmendem Wohlstand weichen jedoch traditionelle Familienwerte den „bürgerlichen Beziehungen“, wie in Russland Partnerschaften ohne Trauschein genannt werden. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts FOM halten den Trauschein nur noch 18 Prozent der Großstädter für obligatorisch, 63 Prozent der Befragten sei die Heiratsurkunde egal. Knapp 60 Prozent teilen jedoch die Ansicht, dass Paare heiraten sollten, wenn sie später einmal Kinder haben wollen.

Land sei eine Partnerschaft ohne Trauschein noch heute eine Schande für die Frau. Darin zeigt sich der enorme Unterschied zu den russischen Metropolen. Marina, 28-jährige Wahlmoskauerin und Single, bekommt ihn immer zu spüren, wenn sie ihre Familie in Wolgograd besucht. Jedes Mal lädt die Verwandtschaft potenzielle Ehepartner zum Kaffeekränzchen: Mal ist es ein junger Kollege der Mutter, mal der nette Sohn einer Familienfreundin. Die Kandidaten darf stets die Mutter bestimmen. Die tut sich bei solchen Verkupplungsversuchen aber nicht immer leicht: „Ich bin eine Weltmeisterin im Überbrücken peinlicher Gesprächspausen“, lacht Marina.

In einer durchschnittlichen Großstadtfamilie hat heute eher die Frau die Hosen an – der Mann als Versorger ist passé. Gewollte Einsamkeit

In russischen Großstädten hat sich das Heiratsverhalten in den vergangenen zehn Jahren dem hohen Stellenwert der Ehe zum Trotz stark verändert: Viele Frauen verzichten ganz auf eine Partnerschaft und bleiben lieber allein. Gründe für die „gewollte Einsamkeit“ seien die veränderte Rolle des Mannes in der Familie sowie die finanzielle Emanzipation der Frauen, erklärt Demograf Sergej Sacharow: „Es gibt keine Jäger und Sammler mehr. In einer durchschnittlichen Großstadtfamilie hat heute eher die Frau die Hosen an.“ Der Ehemann als Versorger sei daher passé. Die Frauen entscheiden sich immer häufiger für Kin-

INFO

Deutsche Männer stehen bei Russinnen hoch im Kurs und umgekehrt. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes gaben 2010 in Deutschland 1892 Russinnen einem Deutschen das Jawort, 2006 waren es noch 140 weniger. In Wahrheit sind diese Zahlen wesentlich größer, denn viele heiraten aufgrund beidseitiger bürokratischer Hürden in einem Drittland. Wenn man(n) eine Russin heiraten und mit ihr in Deutschland leben will, muss er neben eigenen Unterlagen (Auskunft beim Standesamt) die Geburtsurkunde und Wohnortbescheinigung der zukünftigen Frau sowie einen Passvermerk über ihren Famili-

enstand im russischen Inlands- oder Reisepass vorlegen. Dazu Dokumente zu früheren Ehen wie Scheidungspapiere oder Sterbeurkunden. Wichtig: Standesämter verlangen beglaubigte Übersetzungen. Auf Antrag erteilen sie bei einer persönlichen Anmeldung der Eheschließung eine Befreiung vom Ehefähigkeitszeugnis. Hält sich die russische Verlobte noch in der Heimat auf, ist außer dem Einkommensnachweis eine Vollmacht nötig nebst einer beglaubigten Passkopie. Für die Einreise zur Eheschließung ist ein Sondervisum erforderlich. Das Wichtigste sind jedoch: Liebe, Harmonie und gegenseitiges Verständnis.

AFP/EASTNEWS

Grenzenlose Liebe

Auf ins Eheglück: Brautparaden haben in Russland Tradition.

der außerhalb der Ehe und ziehen sie alleine groß – vorausgesetzt, das Einkommen reicht. Sacharow spricht von einer „Krise der Traditionsehe“. Gleichzeitig bilde sich aber eine neue Beziehungsstruktur der Paare heraus, die auf einer Gleichberechtigung von Mann und Frau basiere.

Schlechte Aussichten für geschiedene Frauen

Ein weiterer Grund, warum der frühe Eheeintritt auf der Beliebtheitsskala sinkt: Zu oft zerbricht der Traum vom Treueschwur bis zum Tode. „Das Beste an einer frühen Ehe ist die frühe Scheidung“, behauptet Natalja Troschina. Die Moskauerin heiratete mit 20, ein Jahr später kam das Kind, prompt danach die Scheidung. Natalja nutzte ihre Chance, wieder neu anzufangen. Heute ist sie Abteilungsleiterin einer großen Bank, mit 27. „Hätte ich mit der Scheidung bis zu meinem 50. Lebensjahr gewartet, wäre ich mit leeren Händen dagestanden, finanziell gesehen und was einen Partner betrifft“, resümiert die Moskauerin. In der Tat haben Russinnen mit zu neh mendem A lter im mer schlechtere Chancen auf dem Heiratsmarkt: Während 90 Prozent der Männer über 30 eine neue Partnerin finden, bleibt über die Hälfte gleichaltriger Frauen Single. Die Gründe sind ebenso lapidar wie beängstigend: Kinder aus der Vorehe und die alarmierend hohe Sterblichkeitsrate unter Männern. In der Altersgruppe der 50-Jährigen gibt es in Russland etwa 15 Prozent weniger Männer als Frauen, bei den 60-Jährigen sind es nur noch halb so viele Männer und bei den 70-Jährigen nur noch ein Viertel so viele.

Hauptsache glücklich

Da ist guter Rat teuer, möchte sich eine russische Frau wiederverheiraten. Nach ihrer Scheidung wollte Anna Minajewa eigentlich nichts mehr mit Männern zu tun haben. „Ich hatte begriffen, dass ich mich nur auf mich selbst verlassen kann“, beschreibt die inzwischen alleinerziehende Mutter ihre damalige Enttäuschung. Ihr Mann sei einfach gegangen, Alimente zahle er nicht. Mit der Zeit drohte die Einsamkeit sie zu erdrücken, über das Internet lernte sie ihren zukünftigen, zweiten Mann kennen – einen Deutschen. Nun paukt die 30-Jährige unregelmäßige Verben und Grammatik. Nach der Hochzeit in Moskau will die Familie nach Deutschland ziehen. Anna gehört zu der eher bescheidenen Gruppe von sieben bis elf Prozent russischer Frauen, die von einem ausländischen Prinzen träumen, über 50 Prozent ziehen jedoch einen einheimischen Bräutigam vor. Die anderen rund 40 Prozent sagen, dass es ihnen egal sei, Hauptsache, sie werden glücklich. Davon träumen wohl alle Frauen, egal aus welchem Land sie kommen. Mehr zum Thema auf www.russland-heute.de


Reisen

Russland Heute www.russland-heute.de Eine Beilage der russischen Tageszeitung Rossijskaja Gaseta, Moskau

9

Architektur Die „sieben Schwestern“ Moskaus symbolisierten den Wiederaufbau und zeichnen heute die Stadt aus berüchtigte (und 1953 hingerichtete) Chef des sowjetischen Geheimdienstes. Auf den Baustellen kamen Tausende Zwangsarbeiter aus dem Gulag zum Einsatz – und deutsche Kriegsgefangene. Die Stabilität des Baugrunds wurde verschiedentlich mit neuen ingenieurstechnischen Verfahren sichergestellt. Die Kosten spielten in dem Fall keine Rolle.

Willkommen im Burgenland

Allein die LomonossowUniversität kostete 2,6 Milliarden Rubel - mehr als der Wiederaufbau Stalingrads.

Municipal Building von 1914. Diese Tatsache war ideologisch problematisch und verlangte nach einer Erklärung: Man hätte die kapitalistischen Kommerztempel zwar studiert, aber nur, um sie weiterzuentwickeln. In Manhattan diktierten die Grundstückspreise ihre Form: Viele Räume verfügten nicht über Tageslicht, ihre Fenster gingen auf finstere Hinterhöfe hinaus. Dem sozialistischen Sowjetmenschen, der im Mittelpunkt allen Bauens stehe, sei so etwas nicht zuzumuten.

Neues Leben in alten Mauern

Die „sieben Schwestern“ zehren heute oft von ihrem früheren Glanz. In der Lomonossow-Universität sei nur das Zentralgebäude noch „grandios“, erzählt Jurastudent Pjotr. Die Wohnheime in den Seitenflügeln seien jedoch „ziemlich ramponiert“. Die Zimmerchen von sieben Quadratmetern, insgesant 6000, strahlten alten Sozialismus-Charme aus: „Dort hat sich seit der Eröffnung 1953 nichts getan.“ In der Moderne angekommen sind dagegen die beiden Hotels. Das 1954 eröffnete Leningradskaja wurde 2006 bis 2009 von Grund auf saniert und steht heute als Fünf-Sterne-Haus unter Verwaltung der HiltonGruppe. Das Ukraina, 1957 am Moskwa-Ufer eingeweiht, heißt seit 2010 nach dreijähriger Renovierung Radisson Royal Hotel und wurde soeben zum zweiten Mal in Folge zu „Russlands führendem Luxushotel“ gekürt.

Die Legende von Sarah Jessica Parker und dem Don Juan vom Bolschoi

Oligarchenterrier vermisst

Warum Sportkommentatoren ihr Mikrofon rechtzeitig ausschalten sollten

Sarah Jessica Parker, 46, machte in Moskau die Bekanntschaft mit den ungestümen Emotionen des russischen Mannes. Die amerikanische Schauspielerin aus der Serie „Sex and the City“ weilte in der Stadt, um ihren neuen Streifen „I don’t know how she does it“ vorzustellen. Parker wollte unbedingt das Bolschoi-Theater besuchen, für sie „eines der sieben Weltwunder“. Einziges Problem: Das Bolschoi wird derzeit renoviert, die Eröffnung ist für den 28. Oktober

Dass die Liebe der Russen zu ihren Haustieren über alles geht, erfuhren in diesem Sommer die Italiener. Als der 47-jährige Stanislaw Rybtschinskij, schwerreicher Besitzer der ChimExim Trading Group, nach einem Spaziergang durch Genua in seine Luxussuite ins Grand Hotel Savoia zurückkehrte, musste er zu seinem Bedauern feststellen, dass sein Toy Terrier Johnny fehlte. Frau Rybtschinskaja vermutete sofort, dass die Räuber des Toy Terriers genau gewusst hatten, was sie suchten: „Johnny gehört zu einer seltenen Rasse und ist sehr teuer.“ Dass außer dem Hund nur Hausschuhe und ein Gürtel gestohlen wurden, bestätigte ihren Verdacht: Hundediebe stehlen persönliche Dinge des Herrchens, damit das Tier nicht in Panik ausbricht. Von der italienischen Polizei forderten die Rybtschinskijs, die Mitarbeiter des Hotels mit Hilfe eines Lügendetektors zu befragen. Die Hotelleitung zögerte, ebenso wie die italienischen Carabinieri. Daraufhin schaltete Rybtschinskij das russische Konsulat in Genua ein und – nach Angaben des Corriere della Sera – einhundert Tierärzte. Aber auch 10 000 Euro Finderlohn halfen nicht: Bis heute ist Johnny verschollen. (mga)

alamy/legion media

bäckerbauten“ bekannt und die „sieben Schwestern“ genannt, ein achtes Gebäude wurde nicht realisiert. Längst sind sie ein Wahrzeichen Moskaus: die Lomonossow-Universität auf den Sperlingsbergen, mit ihren 240 Metern erst 1990 vom Frankfurter Messeturm als höchstes Gebäude Europas abgelöst, das Außen- und Transportministerium, zwei Wohnanlagen sowie die Hotels Ukraina und Leningradskaja. Die Oberaufsicht über die Bauarbeiten hatte Lawrenti Beria, der

Allein die Lomonossow-Universität schlug mit 2,6 Milliarden Sowjetrubel zu Buche, etwa 650 Millionen US-Dollar. Das war mehr, als der Staat im Fünfjahresplan für den Wiederaufbau Stalingrads bereitstellte. An exponierten Standorten rund um die Innenstadt gelegen, wie Ecktürme einer Burgmauer, erinnern die neoklassizistischen Monumentalbauten selbst an Burgen. Die „Schwestern“ ähneln sich mit ihrem jeweils hohen, sich nach Art aztekischer Pyramiden in Stufen verjüngenden Mittelturm und mehr oder weniger verschachtelten Seitenflügeln. Der Grundriss variiert, wie auch das opulente Dekor an Zinnen, Figuren und Reliefs – die reinste Zitatensammlung mit Anleihen von Renaissance und Barock bis hin zu altrussischer Kirchenkunst. Nicht zu verleugnen ist die Ähnlichkeit mit amerikanischen Vorläufern wie dem New Yorker

Ehemalige Proletarierbleibe: Das Hotel Ukraina gehört jetzt zur Radisson-Gruppe und zählt vier Sterne.

Schon in den Dreißigerjahren blickte Stalin mit Neid auf die Wolkenkratzer New Yorks. Nach dem Krieg bekam Moskau seine eigenen Hochhäuser. Die Kosten spielten keine Rolle. Tino Künzel

für Russland Heute

Ab und zu brauchte auch der atheistische Sowjetmensch ein Zeichen von oben. Und es wurde ihm gesandt: das Pionierlager Artek auf der Halbinsel Krim, die Volkswirtschaftsmesse in Moskau, die Moskauer Metro – Vorboten des

kommunistischen Himmelreichs auf Erden, das irgendwann kommen musste, war der realsozialistische Alltag auch noch so grau. Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs trug Josef Stalin in Moskau ganz dick auf: Der Sowjetdiktator wollte nach innen und außen das Selbstbewusstsein der Siegernation demonstrieren. Anfang 1947 beschloss der Ministerrat den Bau von acht „Vielgeschossern“. Am 7. September, zum 800. Stadtgeburtstag, war Punkt 13 Uhr Grundsteinlegung. Die „Vielgeschosser“ wurden als „Zucker-

Lesen Sie mehr auf www.russland-heute.de

geplant. Doch Oleg Donzow, Chef der Wachbrigade, machte für die Amerikanerin den Weg frei – und gewährte ihr eine Sonderführung. Zum Dank signierte Parker Donzows entblößte Brust. Dessen nicht genug – der Wachmann wollte seine Verehrung mit einem herzhaften Kuss untermauern. Parker rettete sich mit einem spitzen Schrei. Den kopflosen Wachmann erwarten nun nicht nur Probleme mit seinem Arbeitgeber, sondern auch ein ernstes Gespräch mit seiner Ehefrau. (mga)

ivan burnischew

In Russland entblößen auch harte Männer mal ihre Brust.

photoxpress

kurioses aus dem alltag

Abseits: Spartak-Fan Gubernijew muss zukünftig schweigen.

Dmitri Gubernijew, Sportkommentator des Kanals Rossija, hätte sein zu loses Mundwerk beinahe den Job gekostet. Die erste Halbzeit im Moskauer Fußballmatch Spartak – ZSKA (Endstand 2:2) war gespielt, auf den Bildschirmen flimmerte Werbung. Im Internet aber ging die Übertragung weiter, und Tausende Zuschauer konnten nun hören, was nicht für ihre Ohren bestimmt war. Igor Akinfejew, Torhüter von ZSKA, hatte sich schwer am Knie verletzt. Gubernijew nahm das

zum Anlass, über den Ersatztorwart Wjatscheslaw Malafejew zu sinnieren: „Hoffentlich wird Akinfejew bald wieder fit, sonst wird es nämlich lustig. Wir haben entscheidende Spiele vor uns, und zwischen den Pfosten steht jetzt Sch...!“ Am nächsten Tag fielen die russischen Medien über Gubernijew her. Er ruderte zurück: „Das war doch nur für die Ohren meiner Kollegen bestimmt.“ Sein Sender verstand keinen Spaß und sperrte den Unglückskommentator für mehrere Monate. (mga)


10

Meinung

www.russland-heute.de Russland Heute Eine Beilage der russischen Tageszeitung Rossijskaja Gaseta, Moskau

wir autoren rufen in die wüste Sachar Prilepin

er russische Schriftsteller hat ein ambivalentes Verhältnis zur Staatsmacht. Das geht bereits auf Alexander Puschkin zurück, der innerhalb weniger Tage Gedichte mit konträren politischen Ausrichtungen verfasste. Zunächst schrieb er an die nach Sibirien verbannten Dekabristen: „Die starken Fesseln geh’n entzwei, die Kerker stürzen, an den Toren seid ihr zur Freiheit neu geboren.“ Bald darauf räsonierte er staatsmännisch über das Schicksal dieser Aufrührer: „Auf Gutes hoffend und auf Ruhm, schau ohne Angst ich in die Zukunft: Die Anfangszeit von Peters Tun hat auch ein Aufstand einst verdunkelt.“ Der Sinn der Verszeilen ist schlicht: Nun ja, ein paar Offiziere und Poeten sind aufgehängt worden, die übrigen Unruhestifter nach Sibirien verfrachtet. Aber unter Peter dem Großen hat es Schlimmeres gegeben. Hundert Jahre später schrieb Ossip Mandelstam, die Macht sei „so widerwärtig wie die Hände eines Barbiers“. Aber es verging nicht viel Zeit, bis er schwor: Wer immer ihn von seinem Jahrhundert loszureißen versuche, werde sich das Genick brechen. Der russische Schriftsteller ist häufig Anhänger des Staates und Revolutionär zugleich. „Revolutionär“ meint im weitesten Sinne die höchste Freiheit des Geistes. In diesem Sinne erscheint der Lebensweg des „großen proletarischen Schriftstellers“ Maxim Gorki nicht paradox, sondern ge-

dmitri divin

D

Schriftsteller

Schreib, was du willst: über die Staatsmacht, die Heimat, die Zukunft. Die Mächtigen scheren sich keinen Deut darum. radezu traditionell. Erst diente er sich in Wort und Tat der bolschewistischen Revolution an, um die Monarchie zu stürzen, und diente danach treu dem neuen Cäsarentum. Fjodor Dostojewski wäre einstmals beinahe als Rebell hingerichtet worden, ging dann jedoch als Monarchist und Konservativer in die Geschichte ein.

Schauen Sie sich die Granden der russischen Literatur einmal genauer an: Sie werden in einer Person einen Kämpfer gegen und für die Staatsmacht finden. Das gilt für Gogol, Tolstoi, Tschechow und Jessenin, für Pasternak oder Solschenizyn, ja sogar für Brodski. Es wäre eine sträfliche Simplifizierung, das Leben eines sowjetischen Schriftstellers auf den vehementen Kampf gegen die Sowjetmacht zu reduzieren. Ebenso falsch lagen die sowjetischen Literaturwissenschaftler bei der Deutung der Klassiker des 19. Jahrhunderts, die hinter jeder Zeile Lermontows oder Turgenjews Hass auf den Zaren und seine Satrapen zu erkennen glaubten.

In zweihundert Jahren weltlicher Literaturgeschichte standen russische Schriftsteller und Mächtige stets in einem Verhältnis wechselseitiger Anziehung und Abstoßung. Sie redeten miteinander, und das auf Augenhöhe, selbst wenn die Repräsentanten der einen Seite die der anderen vernichteten. Erst in den letzten eineinhalb Jahrzehnten begann sich dieser Status zu verändern. Und ich weiß nicht, ob zum Guten oder zum Schlechten. Die Staatsmacht nimmt die Literatur – und die Kunst insgesamt – nicht mehr als etwas wahr, das den Sinn des Daseins prägt und im Kontext der Machtausübung reale Bedeutung besitzt. Zar Nikolai I. gerierte sich noch als persönlicher Zensor Puschkins. Stalin versah die Werke Platonows mit der Randnotiz „Halunke!“. Michail Gorbatschow wusste den Wert des Wortes zu schätzen und suchte aufrichtig die Nähe bald des einen, bald des anderen „Geistesgebieters“. Dass nun Dmitri Medwedjew den Wunsch verspüren könnte, zwar nicht als Zensor, aber doch als aufmerksamer Leser und Gesprächspartner von Dmitri Bykow oder Wiktor Pelewin zu agieren, kann ich mir nicht vorstellen. Ebenso wenig, dass Wladimir Putin ein Buch von Eduard Limonow oder Wladimir Sorokin aufschlüge und an den Rand schriebe: „Halunke!“. Und dass Medwedjew und Putin den persönlichen Kontakt zu einem Stanislaw Kunjajew suchen könnten, ist ganz und gar undenkbar. Ich kenne keinen einzigen Grund, weshalb Präsident und Premier schöngeistige Bücher in die Hand

nehmen sollten. Medwedjew wirkt souverän mit seinem modernen technischen Spielzeug, Putin ist sehr fotogen beim Skifahren oder am Steuer eines Flugzeugs. Beide zusammen geben ein gelungenes Bild ab in einer Sportbar, wo sie die Übertragung eines Fußballspiels verfolgen und sich dazu ein Bierchen gönnen. Ein russischer Schriftsteller hat wohl nie so ruhig gelebt wie heute. Er braucht keine Angst zu haben, lautstark beschimpft, mit den Füßen getreten oder für ein ketzerisches Werk aufgehängt zu werden. Hier gibt es die Staatsmacht, dort gibt es die Schriftsteller. Sie leben separat. Die seltenen, pflichtschuldigen Begegnungen verströmen meilenweit den Ruch von Sinnlosigkeit. Nun ja, Boris Akunin und Ljudmila Ulitzkaja machen sich für Michail Chodorkowski stark. Doch, doch, da erinnerten kurz vor dem letzten Neujahr zwei Rocklegenden in einem Brief daran, dass der Oligarch nicht ein zweites Mal für etwas verurteilt werden könne, wofür er bereits seine Strafe verbüßt habe. Immerhin herrscht bei uns Demokratie. Willst du etwas schreiben, schreib es ruhig. Willst du dich für jemanden einsetzen, dann tu es. Sagen kannst du alles. Über dich, die Heimat, die Zukunft, die Staatsmacht. Diese Demokratie hat nur einen einzigen Makel. Die Mächtigen scheren sich keinen Deut darum. Der Autor Sachar Prilepin wendet sich mit scharfer Zunge gegen das Regime. Voraussichtlich im Frühjahr 2012 erscheint sein Roman „Sanka“ auf Deutsch.

Entscheidung in die falsche Richtung Ingo Mannteufel

A

Journalist

m letzten Oktobersonntag werden in Deutschland wie überall in der EU die Uhren von der Sommerzeit auf die im Winter geltende Normalzeit zurückgestellt. Nur für Russland bleibt die Zeit stehen. Denn in diesem Frühjahr hat Präsident Dmitri Medwedjew entschieden, dass die Russische Föderation nicht mehr mitzieht, und hat den Wechsel von Sommer- und Winterzeit abgeschafft. Medwedjews grundsätzliche Entscheidung ist vollkommen richtig: Die ganze Idee, die Uhren um eine Stunde im Frühling vorzustellen, um sie dann im Herbst wieder zurückzudrehen, ist unsinnig. Die Begründung, dadurch Energie einzusparen, hat sich schon seit Lan-

gem als falsch erwiesen. Das deutsche Bundesumweltamt hat berechnet, dass die Stromeinsparung für Beleuchtung durch den Mehrverbrauch an Heizenergie mehr als ausgeglichen werde, weil durch die geänderten Zeiten die Hauptheizzeit ebenfalls vorverlegt wurde. Zudem sind die verwaltungstechnischen Kosten für die zweimalige Zeitumstellung im Jahr zu berücksichtigen. Auch die negativen Auswirkungen auf die chronobiologischen Prozesse bei vielen Menschen, die Mediziner festgestellt haben, darf man nicht unterschätzen. Der willkürliche Eingriff in die Zeit rechnet sich also nicht – weder ökologisch noch finanziell. Doch auch wenn Medwedjews Verfügung im Kern richtig ist, so hat er Russland damit einen Bärendienst erwiesen. Denn nun steht die Russische Föderation in Sa-

Sagen Sie uns die Meinung: leserbriefe@russland-heute.de

Für sämtliche in dieser Beilage veröffentlichten Kommentare, Meinungen und Zeichnungen sind ausschließlich ihre Autoren verantwortlich. Diese Beiträge stellen nicht die Meinung der Redakteure von Russland HEUTE oder von Rossijskaja Gaseta dar.

chen Uhrzeit gegenüber Europa als eigenartiger Sonderling dar, ist eine Zeitinsel, abgekoppelt vom europäischen Gleichklang. Anstatt die Chance genutzt zu haben, in Europa für ein Aussetzen der Zeitumstellung zu werben und dann in einigen Jahren vielleicht gemeinsam diesen Unsinn abzuschaffen, hat Medwedjew sich für einen russischen Alleingang entschieden. Und was sich noch ungünstiger auswirken dürfte: Er hat die Ende März 2011 begonnene russische Sommerzeit zur ewigen Normalzeit erklärt. Das hat zur Folge, dass Moskau nun während der europäischen Winterzeit nicht mehr zwei, sondern drei Stunden Zeitunterschied zu Berlin aufweist. Erst im Frühjahr 2012, wenn Europa zur Sommerzeit übergeht, wird die Differenz zu Moskau wieder nur zwei Stunden betragen.

Mit seiner Entscheidung hat der sonst so glühende Modernisierer und Europäer Medwedjew Russland also von Europa „zeitlich“ entfernt. Und zwar mit ganz praktischen Folgen für den Alltag. Für den kommerziellen sowie kulturellen Austausch zwischen Russland und Mitteleuropa, vor allem Deutschland, ist es absolut kontraproduktiv, dass die Zeitdifferenz künftig für ein halbes Jahr noch größer wird: Wenn der deutsche Manager um neun Uhr in sein Berliner Büro kommt, dann ist es für den russischen Kollegen in Moskau oder Sankt Petersburg schon zwölf Uhr und der Vormittag fast vorbei. Und wenn dem deutschen Kollegen am späten Nachmittag noch etwas einfällt, kann es sein, dass sein russischer Kollege schon seinen Arbeitstag beendet hat und auf dem Weg nach Hause ist.

Russland Heute: Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint als Beilage in der Süddeutschen Zeitung. Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion der Tageszeitung Rossijskaja Gaseta, Moskau, verantwortlich. Verlag: Rossijskaja Gaseta, Ul. Prawdy 24 Str. 4, 125993 Moskau, Russische Föderation Tel. +7 495 775-3114 fax +7 495 988-9213 E-mail redaktion@russland-heute.de Herausgeber: Jewgenij Abow; Chefredakteur deutsche Ausgabe: Alexej Knelz; Gastredakteur: Moritz Gathmann; Webredakteur: Makar Butkow; Anzeigen: Julia Golikova, Gesamtanzeigenleiterin, +7 495 775-3114 Produktion: Milla Domogatskaja, Produktionsleitung; Layout: Ilja Owtscharenko;

Sinnvoll ist eine Zeitumstellung in diese Richtung also nicht. Es wäre auch das genau umgekehrte Szenario denkbar gewesen. Medwedjew hätte im Oktober 2011 von der Sommerzeit auf die Winterzeit umstellen können und im Frühjahr 2012 den europäischen Unsinn mit der Sommerzeit nicht mitzumachen brauchen. Damit wäre Russland im nächsten Sommer auf eine Stunde Zeitdifferenz an Europa herangerückt, was die Kommunikation zwischen den Ländern für alle erheblich erleichtert hätte. Und er hätte nicht nur praktisch, sondern auch symbolisch ein gutes Signal für die russisch-europäische Partnerschaft gesetzt. Ingo Mannteufel ist Russlandexperte und Leiter der russischen Redaktion der Deutschen Welle.

Bildbearbeitung: Andrej Sajzew; Chef vom Dienst für online: Wsewolod Pulja; Proofreading: Dr. Barbara Münch-Kienast Druck: Süddeutscher Verlag Zeitungsdruck GmbH, Zamdorferstraße 40, 81677 München; Verantwortlich für den Inhalt: Alexej Knelz, Schützenweg 9, 88045 Friedrichshafen Copyright © FGU Rossijskaja Gaseta, 2011. Alle Rechte vorbehalten Aufsichtsratsvorsitzender: Alexander Gorbenko; Geschäftsführer: Pawel Negojza; Chefredakteur: Wladislaw Fronin Alle in Russland HEUTE veröffentlichten Inhalte sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion


Feuilleton

RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU

11

Kino Der Spielfilm „4 Tage im Mai“ überrascht – für manche ist er gar ein großer Schritt in Richtung Versöhnung

Nachricht aus dem Niemandsland 4 Tage im Mai Kinostart: 29. September 2011 Regie, Drehbuch: Achim von Borries Produzent: Stefan Arndt Darsteller: Pavel Wenzel, Alexej Guskow, Grigory Dobrygin, Angelina Häntsch, Gertrud Roll, Alexander Held, Martin Brambach, Sergey Legostaev, Merab Ninidze www.4tageimmai.x-verleih.de

Über den Zweiten Weltkrieg schien im Kino schon alles erzählt, ein deutsch-russischukrainischer Film überrascht nun mit einer höchst ungewöhnlichen Perspektive. PETER CLAUS

FÜR RUSSLAND HEUTE

Die Uraufführung des Films von Achim von Borries im August auf dem Filmfestival von Locarno löste heftige Diskussionen aus. Die Kritiker stritten. Das Publikum auf der Piazza Grande, wo den Film an die achttausend Zuschauer sahen, reagierte hingegen einhellig mit Zustimmung, Ergriffenheit und Beifall. „4 Tage im Mai“ spielt im gleichsam leeren Raum-Zeit-Gefüge zwischen Noch-Krieg und Nochnicht-Frieden auf einer Insel vor der deutschen Ostseeküste. Es ist Anfang Mai 1945. Acht Männer der sowjetischen Armee besetzen ein Waisenhaus. Eine couragierte Exilrussin (Gertrud Roll), nach der Oktoberrevolution hierher geflohen, hat das Heft fest in der Hand. Sie kennt nur ein Ziel: Die ihr anvertrauten Kinder müssen überleben. Die Situation spitzt sich zu, als rund einhundert Soldaten der Deutschen Wehrmacht von der Insel nach Dänemark fliehen wollen, weg von der Roten Armee zu den Engländern, bei denen sie auf eine schonendere Behandlung hoffen.

Front zwischen Gut und Böse

Zwischen den feindlichen Truppenresten fürchten die Mädchen des Waisenhauses um ihr Überleben. Nur ein Junge ist dabei: Den dreizehnjährigen Peter (Pavel

KULTURKALENDER ERFAHREN SIE MEHR ÜBER RUSSISCHE KULTUR AUF

RUSSLAND-HEUTE.DE

Wenzel) haben die Schrecken der vorausgegangenen Kriegsjahre früh reifen lassen. Er ist kein Kind mehr, aber auch kein Mann. Doch der Junge fühlt sich als Patriot. Geprägt von der Nazipropaganda sieht er in den Russen nur den Feind, den es zu bekämpfen gilt. Bei dem Versuch gerät er zwischen die Fronten und muss erkennen, dass es nicht um Deutsche und Russen geht, sondern, ganz grundsätzlich, um Gut und Böse. Drehbuchmitautor und Regisseur Achim von Borries bedient keine der üblichen Antikriegsfilmmuster. Seine Inszenierung ist kammerspielartig, dabei effektsicher auf der Klaviatur der Dramatik spielend. Indem er weitgehend auf Pathos und Kampfhandlungen verzichtet, gelingt es ihm, die Absurdität allen Mordens im Namen einer Ideologie bloßzustellen. Konzentriert auf das scheinbar Kleine, wird die große Welt abgebildet. Wobei um der Spannung willen nicht verraten sei, welchen unerhörten Verlauf die Geschichte nimmt. Nur so viel: Eindrucksvoll, geradezu brutal, wird wieder einmal deutlich, dass eine kategorische Einteilung in Gut und Böse nicht möglich ist.

PRESSEBILD

PRESSEBILD

Zunächst empfindet Peter (Pawel Wenzel) für Hauptmann Kalmykow (Alexej Guskow) nur Hass, der jedoch bald in Sympathie umschlägt.

„4 Tage im Mai“ verfolgt konsequent die emotionalen Wandlungen seiner Figuren. Jeder muss auf seine Art durch die Hölle gehen. Peter allen voran. Sein Gegenüber, ein Hauptmann der Roten Armee (Aleksei Guskov), hat die Hölle längst hinter sich. Der Krieg hat ihm den Sohn genommen. Er selbst, weil er einmal gegen einen Befehl auf Vernunft gesetzt hat,

saß lange Zeit in Militärhaft. Das wird nur angedeutet, doch es prägt sich dem Zuschauer unmittelbar ein und macht die tiefe Humanität des Hauptmanns glaubwürdig. Da steht ein Mensch, kein Uniformträger, kein Ideologe. In seiner Figur haben Drehbuch, Regie und Darstellung Hervorragendes geleistet, ohne in Sentimentalität und Klischees abzugleiten. Viele bekannte Klassiker des Antikriegsfi lms kommen einem in den Sinn: „Die Brücke“, „Die Kraniche ziehen“, „Komm und sieh“, „Das alte Gewehr“. Sie alle entlarvten auf unterschiedliche Weise ideologischen Pathos und die Greuel des Zweiten Weltkriegs. Woran liegt es, dass „4 Tage im Mai“ deren überwältigende Emotionalität und Stringenz nicht durchgängig umsetzen kann? An Simplem: Der Einsatz von illustrierender Musik ist an manchen Stellen geradezu störend. Es stellt sich der Verdacht ein, dass die Gefühle der Zuschauer über den Soundtrack manipuliert werden sollen. Als hätte Achim von Borries nicht genug Vertrauen in die Kraft der Bilder und Dialoge gesetzt.

Über seine Bilder und Dialoge entfaltet sich jedoch die ganze Wirkung des Films. Der Wahn des Krieges wird in den zerschundenen Gesichtern der Soldaten, in den alten Augen des Jungen, in der von erduldetem Leid geprägten Körpersprache der Frauen auf erschütternde Art deutlich. Eine Besonderheit von „4 Tage im Mai“ ist seine Besetzungsliste: Die deutschen Soldaten werden von deutschen Schauspielern gespielt, die russischen von russischen. So konsequent gab es das noch nie in einem Film dieses Genres. Aleksei Guskov erzählte denn auch in Locarno, dass diese Art des Castings für ihn und seine Landsleute geradezu befreiend gewirkt habe. Einer seiner russischen Kollegen, Jahrzehnte nach der Zeit der Filmhandlung geboren, ergänzte: „Für mich ist durch die Dreharbeiten der Krieg zwischen dem deutschen und meinem Volk erst jetzt wirklich beendet.“ Das klingt in deutschen Ohren pathetisch. Wer einmal in Russland war, weiß, dass die Wunden nach wie vor nicht verheilt sind. Insofern ist der Film brandaktuell.

PREIS GERD-BUCERIUS-FÖRDERPREISE FREIE PRESSE OSTEUROPAS

KLASSIK VALERY GERGIEV DIRIGIERT PETER TSCHAIKOWSKY

WISSENSCHAFT LOMONOSSOW-TAGE

BIS 24. OKTOBER

28. BIS 30. OKTOBER, FESTSPIELHAUS BADEN-BADEN

Echte Gefühle, wenig Pathos

29. BIS 30. OKTOBER, VORTRAGSSAAL DER BIBLIOTHEK IM GASTEIG, MÜNCHEN

Noch bis zum 24. Oktober können interessierte Journalisten Zeitungen oder Kollegen für die Förderpreise vorschlagen, die jährlich von der ZEIT-Stiftung vergeben werden.

Gergiev dirigiert an drei Abenden zusammen mit dem Orchester des Mariinsky-Theaters und renommierten Solisten wichtige Werke Tschaikowskys.

Vor 300 Jahren wurde Michail Lomonossow geboren. Filme und Vorträge deutscher und russischer Wissenschaftler erzählen über den Begründer der ersten russischen Universität.

› zeit-stiftung.de/home/index.php?id=126

› festspielhaus.de

› mir-ev.de; www.gasteig.de

INTERVIEW

„Für uns ist der Krieg lebendig“ Alexei Guskow, Darsteller des Hauptmanns Kalmykow über „4 Tage im Mai“. Von Anastasia Gorokhova

Herr Guskow, wie würden Sie die Rolle des Hauptmanns beschreiben, den Sie in „4 Tage im Mai“ spielen? Er hat im Krieg seine ganze Familie verloren und ist dennoch bereit, sein eigenes Leben zu opfern, um die deutschen Kinder zu retten. Worin unterscheidet sich der Film von anderen Kriegsfilmen? Der Film handelt nicht vom Krieg, sondern von Menschen, die in den letzten Kriegstagen zu menschlichen Werten zurückkehren, die wieder Ehemänner, Väter und Brüder werden und ihr Leben riskieren, um andere zu schützen. Der Zweite Weltkrieg hat für Russland und Deutschland eine besondere Bedeutung. Aber früher gab es wenig Verständigung. Warum? Deutsche und Russen sehen diesen Krieg unterschiedlich. Für die Deutschen ist er wie eine Geschichtsstunde, Vergangenheit. Für die Russen ist er noch sehr lebendig, ist eng verbunden mit dem Stolz auf das eigene Land, mit den sehr emotionalen Feiern zum „Tag des Sieges“ am 9. Mai. Deshalb ist es schwierig, zu dem Thema ein gemeinsames Projekt zu machen und nicht die Veteranen zu beleidigen oder diejenigen, in deren Familien Menschen gestorben sind. Einerseits darf man nicht die historische Wahrheit verfälschen, andererseits wollten wir aber zeigen, dass wir alle Menschen sind, dass Russen und Deutsche Fehler machen und sich irren, aber dass wir trotz allem die gleichen Werte vertreten. Wie lief die Zusammenarbeit zwischen russischen und deutschen Schauspielern? Unser Film ist nicht nur auf finanzieller Ebene eine Koproduktion, sondern auch auf künstlerischer. Bei den Dreharbeiten war es sehr interessant, Meinungen auszutauschen und die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Protagonisten zu diskutieren. Und es gab sehr viele Diskussionen. Aber es waren besondere Momente, wenn sich aus diesen gemeinsamen Überlegungen am Ende eine Lösung herauskristallisierte. Werden sich die Reaktionen auf den Film in Russland und Deutschland unterscheiden? Der Film wurde schon auf dem Filmfestival von Locarno und auf dem Festival „Fenster nach Europa“ im russischen Wyborg gezeigt. Die Zuschauer reagierten ähnlich. Sie waren sehr berührt und lachen an denselben Stellen – und verstummen auch an denselben Stellen.

empfiehlt


12

Porträt

WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU

Musik Igor Rasterjajew rührt die russische Seele mit Musikvideos über YouTube. Eine realmusikalische Begegnung

Sing wie du lebst, leb wie du singst Er erzählt von der Straße, von einfachen Soldaten und Mähdrescherfahrern. Mit wahren Geschichten hat sich Igor Rasterjajew in die Herzen der Russen gesungen.

KURZVITA

Igor Rasterjajew

ANASTASIA GOROKHOVA RUSSLAND HEUTE

GEBURTSORT: ST. PETERSBURG

Das größte Open Air Russlands, unweit von Moskau. Knapp 170000 Besucher huldigen verschiedenen Rockgrößen, allesamt lebende Legenden, die mehrere Generationen geprägt haben. Dann kommt Igor: schwarzes Shirt, schwarze Jeans, Turnschuhe, zerzaustes Haar. Er setzt sich vor das Mikro und beginnt zu singen. Seine einzige Begleitung: eine rote „Tschaika“-Ziehharmonika, die er virtuos beherrscht. Ein suggestiver Song folgt auf den nächsten: „Kosakenlied“, „Der Russische Weg“, „Kamille“ und der Superhit „Kombajnjory“ (Mähdrescherfahrer) – die Festivalbesucher können ihn mitsingen. Der junge Mann auf der Bühne hält kurz inne und sieht auf das Publikum. Zehntausende jubeln. Ihm stockt der Atem, er lacht schüchtern, bedankt sich. Igor Rasterjajew, der YouTube-Star mit Harmonika, ist überwältigt.

GEBURTSJAHR: 1980 BERUF: VOLKSSÄNGER

Igor Rasterjajew wird 1980 in Sankt Petersburg geboren. 2002 absolviert der damals 22-Jährige in derselben Stadt die Theaterhochschule und arbeitet danach als Schauspieler beim Theater Buff. 2004 kommen seine „Wolgograder Gesichter“ heraus, 2006 erhält er einen überregionalen Schauspielpreis für „originelle Nebenrollen“. 2009 erfolgt sein Durchbruch in der Musik: Er schreibt den Song „Kombajnjory“ – Mähdrescherfahrer – und wird über YouTube damit in der gesamten Russischen Föderation bekannt. Im Februar 2011 präsentiert Igor Rasterjajew sein erstes Album „Der Russische Weg“, einige Monate später wird ihm der Musikpreis „Steppenwolf“ verliehen. Seine mit dem Handy aufgenommenen YouTube-Videos erreichten im Sommer 2011 über neun Millionen Klicks.

Zwischen Stadt und Dorf

ZITAT

"

DMITRI LEKEI_KOMMERSANT

Sieht man seine Videos im Netz, könnte man meinen, Igor fahre tagtäglich mit dem Traktor über die weiten Kornfelder Südrusslands, kippe gläserweise Selbstgebrannten, um dann zu seiner Harmonika zu greifen und Lieder über den Alltag auf dem Land oder den Großen Vaterländischen Krieg zu singen. Auf seinen per Mobiltelefon aufgenommenen Clips sieht man Dorfbewohner bei der Arbeit, wogende Felder oder Schnee, so weit das Auge reicht. Und ihn mittendrin. Um das Klischee perfekt zu machen, fehlte nur noch die „Schapka-Uschanka“ – die Pelzmütze. Doch ganz so einfach lässt sich die Geschichte Rasterjajews nicht erzählen. Er singt zwar über das Dorfleben, hält sich aber nur saisonweise auf dem Land auf. Eine „doppelte Staatsbürgerschaft“ hat er, wie er sagt. Igor Rasterjajew stammt aus einer Sankt Petersburger Künstlerfamilie und lebt heute in einer typischen Platte. Er ist gelernter Schauspieler und arbeitet seit acht Jahren in einem Musik- und Dramentheater. Davor spielte er für Kinder, und da meistens das Krokodil. „Am Anfang jeder Vorstellung musste ich erklären, was ich überhaupt darstelle“, erinnert er sich lachend. Auch heute übernimmt er keine Titelrollen, son-

Erst lernte Igor Rasterjajew Gitarre. Dann kam er zum ureigensten russischen Instrument: der „Tschaika“-Zieharmonika.

RASTERJAJEW ÜBER DAS DORF RASTERJAJEWO

dern „markante Charaktere“, wie er es nennt. „Beatboxer, Alkoholiker, am besten gelingen mir Soldaten“, gibt er zu, und seine grünen Augen blitzen schelmisch.

ten, begleitet von seinen Zeichnungen der Menschen, die darin vorkamen. An der Fortsetzung arbeitet er seit sieben Jahren. „Langsam müsste ich es mal beenden“, sagt er nachdenklich und nippt an seinem „Sbiten“ – einem meist alkoholfreien Heißgetränk aus Honig und Gewürzen. Apropos Alkohol: Igor trinkt keinen – dem ersten Eindruck zum Trotz –, sogar Nichtraucher ist er.

Fische fangen und singen

Igor Rasterjajew hat trotz seiner äußerlich ruhigen Art ein überbordendes Temperament. Es könnte an den kosakischen Wurzeln seines Vaters liegen. Denen hat er es auch zu verdanken, dass er von klein auf jeden Sommer 36 Stunden mit dem Zug in das Dorf Rakowka fuhr, 170 Kilometer von Wolgograd entfernt. Wie in jedem Jahr hat er auch in diesem seinen 31. Geburtstag dort gefeiert. Stolz zeigt er auf dem zerkratzten Display seines Handys ein Video, auf dem man ihn sieht, wie er mit braungebranntem Oberkörper stolz einen Fisch präsentiert. „Nichts Besonderes, um die vierzig Kilo“, erklärt Igor. Seit Jahren gibt er in dem klei-

nen Ort Konzerte, immer auf einem der fünfzehn Höfe, in denen zum Großteil seine Verwandtschaft lebt. Früher war es die Gitarre, auf der er Rockklassiker zum Besten gab, mit 18 brachte ihm ein Kommilitone von der Theaterschule das Harmonikaspiel bei. „Das ist unser eigentliches Instrument, nicht die Balalaika, wie man häufig im Ausland denkt“, erklärt Igor, bevor er seine mittlerweile aus fünf verschiedenen Harmonikas bestehende Sammlung genau beschreibt. Nie hat er eine Musikschule von innen gesehen. „Was ist schon dabei, ist doch einfach“, sagt er achselzuckend. Aus seinen alljährlichen Sommerferien brachte Igor Geschichten mit, die er nach und nach ausformulierte. Eigentlich wollte er ja keine Lieder, sondern Bücher schreiben. Sein erstes veröffentlichte er 2004, „Wolgograder Gesichter“ hieß es: Kurzgeschich-

Buntes Russland: Das Bild des Tages auf Facebook

Die nächste Ausgabe erscheint

Im Sommer bin ich über die Felder gefahren. Sie gehörten meinen Vorfahren. Früher war dort ein ganzes Dorf. Heute sind es verfallene Häuser, verarmte Menschen. Als ich das sah, musste ich weinen.”

www.facebook.com/ RusslandHeute

Lieder über Menschen, die es nicht gibt

Dafür singt er in „Kamille“ über den Alkoholtod junger Dorfbewohner: „Keine Arbeit, kein Zuhause, nur das Fläschchen und das Gläschen. Statt Wasja und Roman – Kornblumen und Kamille auf ihren Gräbern.“ Rasterjajew singt über Russland auf eine Art und Weise, wie es lange niemand getan hat. Das erklärt die Millionen Klicks bei

YouTube, seinen Erfolg, den er selbst nicht versteht. Die plötzliche Berühmtheit ist ihm fast peinlich. Mit der Veröffentlichung seines Erfolgssongs über die Wolgograder Mähdrescherfahrer hatte er nichts zu tun. „Das ist ein altes Lied, ich habe es schon 2009 geschrieben, alle meine Freunde kannten es längst.“ Einer von ihnen nahm den Song mit dem Handy auf und stellte das Ganze online. Man sieht einen wie immer leicht zerknitterten Igor in der Küche, im Hintergrund eine Flasche Sonnenblumenöl. „Weit weg von den großen Städten, wo es keine teuren Läden gibt, dort leben andere Menschen, über die man sonst nicht singt. – Man zeigt sie in keiner Soap, denn sie passen nicht ins Bild. – Auch das Internet schreibt nicht über sie, es ist so, als gäbe es sie nicht“, singt er. Von seiner Ehrlichkeit könnten sich manche Stars etwas abschneiden, meinen seine Fans. „Du schreibst, wie du lebst, und lebst wie du schreibst“, kommentieren sie auf seiner Homepage.

Was ist Patriotismus?

Er selbst sagt: „Ich mache doch einfach nur das, was ich kann. Ich schreibe über das, was ich sehe.“ Patriotisch ist seine Erscheinung, ebenso wie die Texte seiner Lieder. Doch er behauptet, er könne mit dem Begriff „Patriotismus“ nichts anfangen. „Obwohl“, meint er dann nachdenklich, „diesen Sommer bin ich auf dem Motorrad über die Felder gefahren. Sie gehörten meinen Vorfahren. Früher war dort ein ganzes Dorf – Rasterjajewo. Heute sind das verfallene Häuser, verarmte Menschen, verlassene Felder, als ob eine Horde Barbaren durchgezogen wäre. Als ich das sah, musste ich weinen. Vielleicht ist das Patriotismus?“ „Der Russische Weg“, sein Lied über den Großen Vaterländischen Krieg, steht in den Radiocharts auf Platz eins. An ein Musiklabel binden will sich Igor Rasterjajew dennoch nicht. Seine Freiheit ist ihm mehr wert als Geld und Erfolg. Als der Chef des staatlichen Jugendkommitees ihm einen professionellen Videoclip über die „Mähdrescherfahrer“ anbot, willigte er erst ein und schickte das Filmteam später zum Teufel. „Das Musikarrangement hat sich überhaupt nicht nach mir angehört“, sagt er. „Ich bin nur dann kreativ und lebensfähig, wenn ich an nichts gebunden bin. Ich muss Gegensätze spüren, Unsicherheit und Chaos. Als ob das Eis, auf dem ich fische, einen ganz leichten Riss bekommt.“

Hier könnte eine Anzeige stehen. Ihre. Anzeigenannahme +7 495 775 31 14 sales@rbth.ru


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.