Die Zeit: Die richtige Quote, von Giovanni die Lorenzo

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ZEIT

WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR

EIN JAHR NACH FUKUSHIMA

Die Macht im Netz

Wann werden Menschen aus Schaden klug?

Wie das Internet den Ton der politischen Debatte verschärft. Und wie es Staat, Wirtschaft und Medien verändert

Was im Reaktor wirklich geschehen ist. Wie die Menschen in Japan heute leben. Was die Energiewende in Deutschland kostet Dossier, Wirtschaft, Wissen, Feuilleton

Titelillustration: Nana Rausch für DIE ZEIT

POLITIK SEITE 3–5

Mandys Wahrheit

Merkels Draufgabe Die richtige Quote Sosehr die Hilfen für Griechenland schmerzen: Brandmauern sind immer noch besser als ein unkalkulierbares Risiko VON JOSEF JOFFE

Hunderte von Journalistinnen fordern mehr Macht in der Führung deutscher Medien. Soll man das erzwingen? VON GIOVANNI DI LORENZO

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en Sinn von Quoten habe ich nie verstanden. Vor Jahren sprach ich mich beispielsweise gegen Quoten für Migranten aus, vielleicht auch, weil ich in dieser Frage einen blinden Fleck habe. Doch waren auch rationale Argumente gegen die Quote schnell zur Hand: die Angst, dass sie ebenfalls als eine Form von Diskriminierung angesehen werden könnte, wenngleich als eine positive. Die Überzeugung, dass die Einführung des Individualrechts anstelle des Gruppenrechts (sprich: des ständischen) eine zivilisatorische Errungenschaft ist. Die Verlegenheit, zu begründen, warum man der einen Gruppe die Quote gewährt, der anderen aber nicht. Die Erfahrung, dass Begabung immer noch das beste Qualifikationsmerkmal ist. Und dabei wurde seinerzeit noch gar nicht erörtert, welch bürokratisches Monster eine gesetzlich sanktionierte Quote schaffen könnte.

ngela Merkel als BDM-Mädchen in Nazi-Uniform oder als Fahrerin eines Panzers, dessen Kanone auf zwei kleine Griechen zeigt: Diese Karikaturen der griechischen Presse sind schlimmer als schändlich. Sie sind falsch – ein klassisches Mittel, um davon abzulenken, dass Griechenland eine gescheiterte Wirtschaft hat und ein scheiternder Staat ist. Nazi-Deutschland hat den Griechen unsägliche Grausamkeiten zugefügt, seine Erben haben im Bundestag mit einer Mehrheit von 84 Prozent für das zweite Rettungspaket gestimmt. Die schiere Hoffnung war den Abgeordneten immerhin 130 Milliarden Euro wert. Denn im kalten Licht der Fakten betrachtet, ist Hellas nicht mehr zu retten. Wie denn, wenn die Zinsen für Zehnjahresanleihen auf 40 Prozent zulaufen und ihr Marktwert auf ein Viertel geschmolzen ist? Doch die Deutschen zahlen – nicht weil sie so selbstlos wären, sondern weil es im deutschen wie im europäischen Interesse liegt. Wilhelm II. und »Adolf Nazi« wollten Europa unterjochen, Angela Merkel will es retten; das ist der Unterschied. In einer existenziellen Krise ist ihr die Führung Europas zugefallen – nicht weil sie danach griff, sondern weil es außer ihr niemanden gibt: Frankreich wackelt, England ist draußen, Italien und Spanien blicken auf die eigene Insolvenz.

Es gilt das Vorsichtsprinzip, nicht die Flucht nach vorn »Mutti« schimpft und fordert, aber zum Schluss gibt sie doch. Macht sie’s richtig? Das wissen wir nicht, können wir nicht wissen. Wir wissen nur aus der Geschichte, dass der Kollaps der kleinen österreichischen Creditanstalt 1931 die erste Weltwirtschaftskrise und der Fall des Hauses Lehman 2008 die zweite auslöste. Lehman stand damals mit 130 Milliarden Dollar in der Kreide; Athen wankt unter Schulden von einer halben Billion. Wer wagt hier zu sagen: »Den Bankrott der Griechen stecken wir weg, ihren Euro-Austritt auch«? Im Nebel kann man nur stochern. Es gilt das Vorsichtsprinzip, nicht die Flucht nach vorn. Athen ist pleite, richtig, aber was kommt, wenn der Euro geht? Das Lehrbuch und zuletzt der Staatsbankrott Argentiniens, das in einer Art Währungsunion mit dem Dollar steckte, raten Athen: Raus aus dem Euro, Abwertung auf ein Viertel, Schuldenschnitt von 75 Prozent. Aber: »Don’t worry, be happy.« Argentinien kriegte ein paar Jahre lang keinen Cent mehr; heute wächst es mit acht Prozent, und sein Defizit ist kleiner als das deutsche. Also: »Jassas, liebe Griechen; auch ihr werdet es schaffen.« Sie werden es nicht schaffen. Argentinien hatte eine Industrie, Agrarexporte, Gas und Öl, die von der Abwertung profitierten. Athen hat hauptsächlich Megaschulden – ein Spiegelbild staatlicher Verantwortungslosigkeit. Aber die ei-

1. März 2012 DIE ZEIT No 10

gentliche Ursache ist die wirtschaftliche Schwindsucht eines Quasi-Entwicklungslandes, dessen Industrie gerade mal ein Zehntel des Inlandsproduktes hergibt. Das Land prunkt mit einem aufgeblähten Staatssektor, der sich leider im Ausland schlecht vermarkten lässt. Wein und Öl stellen andere Mittelmeerländer effizienter her. Zwei Zahlen: Obwohl drastisch sinkende Löhne eine interne Abwertung erzwungen haben, stiegen die Exporte im letzten Jahr um nur vier Prozent. Derweil ist das Leistungsbilanzdefizit um fast 20 Prozent angeschwollen! Mit anderen Worten: Selbst wenn man das weltweite Beben nach der Euro-Flucht beiseiteschöbe (was absurd wäre), blieben die Griechen ein europäischer Sozialfall. Selbst wenn ihre Schulden auf ein Viertel gestaucht würden, bliebe ein Haushaltsdefizit von sieben Prozent (2012), das man getrost in die Zukunft verlängern darf. Ergo muss Athen sich abermals Milliarden pumpen, die der Markt wegen des Staatsbankrotts nicht mehr hergeben wird. Ergo muss Europa, Deutschland vorweg, trotzdem zahlen. Euro-Flucht oder Hartz IV für Hellas, teuer wird beides. Also gehupft wie gesprungen? Nicht ganz. Was der Bundestag gerade abgesegnet hat, erkauft kostbare Zeit. Die Wirtschaftsdaten stehen dagegen. Trotzdem hilft Zeitgewinn im Sinne des Vorsichtsprinzips. Verhindert wird so Lehman-hoch-zwei, die globale Feuersbrunst. Hinzu kommen diverse »Brandmauern«: eine zweite halbe Billion der EZB für wacklige EUBanken, ein Rettungsschirm (ESM), der für eine halbe Billion Euro gut ist, aber sicherlich verdreifacht werden wird. Der geldpolitischen Zucht und Ordnung dienen solche Manöver im Nebel nicht; da haben die Kritiker recht. Aber auch wenn Bild »Stopp!« brüllt und sich die probaten Experten-Zitate holt, was wäre denn die Alternative? Ein Run auf Italien und Spanien, die gerade aus dem tiefsten Schlamassel klettern? Der Kollaps der Weltfinanzen, gefolgt vom Zusammenbruch des Welthandels, der die deutsche Exportmaschine auf Touren hält? Das kann im Ernst niemand wollen. Das muss nicht so kommen? Zurück zum Vorsichts- oder Merkel-Prinzip. Wenn das Risiko unkalkulierbar wird und das mögliche Desaster die Vorstellung sprengt, sind Brandmauern und Versicherungsprämien, seien sie scheinbar auch unsäglich hoch, die beste Vorsorge. Es ehrt die Opposition, dass sie diesen Weg mitgeht. Auch sie weiß es nicht besser. »Es wird teurer«, sagt Peer Steinbrück, »als es die Bundesregierung uns weismachen will.« Er hat recht. Aber »wie ich selber weiß, steht nichts Hilfreiches in den Lehrbüchern«. Und wenn uns Euro und Europa doch unter den Händen zerplatzen? Dann wird die Geschichte wenigstens sagen, dass wir viel, sehr viel dafür getan haben, um die Tragödie zu verhindern. www.zeit.de/audio

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Merkwürdig, wie homogen und hermetisch Redaktionen oft noch sind Nun haben mehr als 300 Journalistinnen auf Initiative einiger meist junger Kolleginnen – von denen einige bislang dachten, sie würden Kämpfe dieser Art eher der Welt von gestern zuordnen – einen spektakulären Aufruf unterzeichnet. Darunter sind auch zwanzig Mitarbeiterinnen von ZEIT und ZEIT ONLINE. Sachte im Ton, aber bestimmt in der Sache, fordern sie Chefredakteure, Intendanten und Herausgeber deutscher Medien auf, innerhalb von fünf Jahren »mindestens 30 Prozent der Führungspositionen« mit Frauen zu besetzen, auf allen Ebenen der Hierarchie. Namens der Chefredaktion der ZEIT erkläre ich: Wir nehmen den Ball auf und werden alles in unserer Macht Stehende tun, dieser Forderung auch gerecht zu werden. Wie das? Die Argumente von einst sind ja nicht obsolet geworden. Warum also jetzt diese Wende? Es ist die Konfrontation mit einer Realität, der wir glaubwürdig nichts entgegenhalten können: 360 Tages- und Wochenzeitungen haben die Initiatorinnen in Deutschland gezählt, nur klägliche zwei Prozent dieser Blätter werden von Frauen geführt. In den meisten Redaktionen steigt der Frauenanteil rapide, an den Journalistenschulen sind Frauen oft schon in der Mehrheit. Aber ein Frauenanteil von 30 Prozent unter den Führungskräften in den Redaktionen binnen fünf Jahren wird schon als Fortschritt angesehen. Die Diskrepanz zwischen ihrer Präsenz und ihrer Beteiligung an der Macht in Redaktionen ist nicht zu rechtfertigen – selbst wenn man berücksichtigt, dass geeignete junge Frauen noch ein paar Jahre brauchen, um in leitende Positionen zu gelangen, und es hin und wieder auch Frauen gibt, die sich eine hierarchische Aufgabe nicht antun wollen. Was also, wenn guter Wille und gute Frauen allein keine guten Ergebnisse erzielen? Dann ist eben doch die Zeit

für eine Quote gekommen. Sie ist kein Ziel an sich, aber sie ist ein Instrument, das Chefs und Frauen halb ermutigen, halb zwingen soll, sich anzustrengen, über ihren Schatten zu springen. Wenn man Ressortleiter und ihre Stellvertreter sowie die Seitenverantwortlichen in unserer Redaktion zusammenzählt, dann ist die Quote von 30 Prozent bei der ZEIT fast schon erfüllt. Aber das ist nur die halbe Wahrheit: Die Leitung so wichtiger Ressorts wie Politik, Wirtschaft, Feuilleton oder Wissen ist fest in Männerhand, ganz zu schweigen von der Chefredaktion oder der Herausgeberschaft (wobei Chefredakteure und Herausgeber von unseren beiden Verlegern und unserer Verlegerin berufen werden). Der Zeitverlag ist da mit einem Frauenanteil von mehr als 60 Prozent unter den Führungskräften schon wesentlich weiter. Und auch Neugründungen haben es naturgemäß leichter, Vorgaben zu erfüllen. Das in Berlin seit 2007 hergestellte ZEITmagazin hat eine Frauenführungs-Quote von 40 Prozent, sie wäre noch höher, hätte die stellvertretende Chefredakteurin vor Kurzem nicht aus familiären Gründen beschlossen, in die Leitung eines Ressorts in unserer Hamburger Zentrale zu wechseln. Aber unsere Defizite wollen wir beseitigen, und wir sind zuversichtlich, dass wir das bis 2017 schaffen. Und wenn wir die Quote verfehlen? Das wäre dann so peinlich für uns oder die Frauen oder beide, dass es nicht geschehen wird. Es wäre übrigens ganz falsch, mehr Frauen in der Führung nur als eine Frage der Gerechtigkeit anzusehen. Bestimmt ist es gerechter, doch das rechtfertigt vielleicht eine Frauenquote in der Politik, nicht hingegen eine in einer Zeitung. Die ist nämlich in erster Linie nicht dazu da, gerecht zu sein, sondern gut. Wir müssen den besten Journalismus machen, der uns möglich ist – und verkaufen muss er sich auch noch. Mit Sicherheit fördert eine Quote die Qualität von Zeitungen. Zudem: Zeitungen sind Seismografen der Gesellschaft, wie können sie das sein, wenn sie Frauen aus wichtigen Bereichen heraushalten? Hat sich bei Männern noch nicht herumgesprochen, dass das Leseverhalten in Familie und Gesellschaft in der Hauptsache von Frauen bestimmt wird? Frauen sind nicht die besseren Journalisten, sie führen auch nicht besser. Nur eben anders, meistens uneitler als Männer. Und Verschiedenheit, das ist etwas, woran es gerade in Zeitungen mangelt. Merkwürdig, wie homogen und hermetisch Redaktionen oft noch sind, und das in einer Branche, die von der Neugier und der Verschiedenheit lebt. Es fehlt ja nicht nur an Frauen, es fehlt auch an Migranten, es fehlt an Ostdeutschen. Es hat keinen Sinn, für alles und alle eine Quote einzuführen. Doch nach jahrelanger Debatte um den Anteil von Frauen in der Führung ist es mit dem Lavieren nun einfach genug. Siehe auch Feuilleton Seite 45 www.zeit.de/audio

Vor 20 Jahren wurde sie zur Prostitution gezwungen. Jetzt führt sie einen schier unglaublichen Prozess ZEITmagazin

ZEIT ONLINE Die deutsche Altersstruktur wird sich bis 2060 radikal ändern. Altern Sie mit! Ein interaktiver Demografie-Rechner unter: www.zeit.de/altersstruktur

PROMINENT IGNORIERT

Hollahi, hollaho! Der Kreuzfahrtreeder Costa macht sich verdient ums deutsche Liedgut. Vor sechs Wochen sank die Costa Concordia, jetzt brannte die Costa Allegra auf ihrer Fahrt von Madagaskar zu den Seychellen und wurde abgeschleppt. Den von Piraten bedrohten Passagieren werden Lieder wie Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord oder Eine Seefahrt, die ist lustig munter von den Lippen gegangen sein. Hollahi, hollaho! GRN. Kleine Fotos (v.o.n.u.): Toshifumi Kitamura/ AFP/Getty Images; Sigrid Reinichs für ZEITmagazin; ddp/AP

ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de; ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, 20079 Hamburg Telefon 040 / 32 80 - 0; E-Mail: DieZeit@zeit.de, Leserbriefe@zeit.de ABONNENTENSERVICE: Tel. 0180 - 52 52 909*, Fax 0180 - 52 52 908*, E-Mail: abo@zeit.de **) 0,14 € /Min. aus dem deutschen Festnetz, max. 0,42 € /Min. aus dem deutschen Mobilfunknetz

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