Mag sein, wer weiß?

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14 WEGBEGLEITUNG Die Südtiroler Frau, 1. 12. 2014/Nr. 23

Eine Geschichte zum Nachdenken und zum Weiterschenken

Mag sein, wer weiß? Weise Geschichten können unsere Gedanken bereichern und eine willkommene Anregung für unseren Geist sein. So manche dieser Geschichten kann uns für unser Leben manchmal mehr bewusst machen als tausend gute Ratschläge. Die Geschichte, die ich heute erzähle, möge Sie anregen, „sich mit sich“ zu befassen. Ich wünsche Ihnen dabei eine inspirierende Reise in Ihre Gedankenwelt.

Foto: Shutterstock

In einem kleinen chinesi­ schen Dorf lebte zurzeit La­ otses ein alter Mann. Er lebte zusammen mit seinem ein­ zigen Sohn in einer kleinen Hütte am Rande des Dorfes. Ein wunderschöner Hengst war ihr einziger Besitz, um den sie alle Dorf bewohner beneideten. Es gab schon un­ zählige Kaufangebote, diese lehnten die beiden jedoch im­ mer strikt ab. Sie brauchten das Pferd bei der Erntearbeit, und es gehörte zur Familie, fast wie ein Freund. Eines Tages war der Hengst plötzlich verschwun­ den. Nachbarn kamen und sagten: „Du bist ein Dumm­ kopf, warum hast du das Pferd nicht verkauft? Jetzt

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ist es weg, du musst die Ern­ te einbringen, und du hast gar nichts mehr, weder Pferd noch Geld für einen Helfer. Was für ein Unglück!“ Der al­ te Mann schaute sie an und sagte nur: „Unglück – mag sein, wer weiß? Das Leben geht seinen eigenen Weg, man soll nicht urteilen und kann nur vertrauen.“ Für Vater und Sohn muss­ te das Leben jetzt ohne Pferd weitergehen, und da gerade Erntezeit war, bedeutete das unheimliche Arbeit für die beiden. Es war fraglich, ob sie es schaffen würden, die ganze Ernte einzubringen. Nach einigen Tagen war der Hengst wieder da. Das Pferd war in Begleitung eines Wildpferdes gekommen, das sich dem Pferd angeschlossen hatte. Jetzt waren die Leute im Dorf begeistert. „Du hast „Recht gehabt“, sagten sie zu dem alten Mann. „Das Un­ glück war in Wirklichkeit ein Glück. Dieses herrliche Wild­ pferd als Geschenk des Him­ mels, nun bist du ein reicher Mann …“ Der Alte sagte nur: „Glück – mag sein, wer weiß? Das Leben geht seinen eigenen Weg, man soll nicht urteilen und kann nur vertrauen.“

Die Dorfbewohner schüt­ telten den Kopf über den wunderlichen Alten. Warum konnte er nicht sehen, was für ein unglaubliches Glück ihm widerfahren war? Am nächsten Tag begann der Sohn des alten Mannes, das neue Wildpferd zu zähmen und zuzureiten. Beim ers­ ten Ausritt warf ihn ­d ieses so heftig ab, dass er sich bei­ de Beine brach. Die Nach­ barn im Dorf versammel­ ten sich und sagten zu dem alten Mann: „Du hast recht gehabt. Das Glück hat sich als Unglück erwiesen, dein einziger Sohn ist jetzt ein Krüppel. Und wer soll nun auf deine alten Tage für dich sorgen?“ Aber der Al­ te blieb gelassen und sagte zu den Leuten im Dorf: „Un­ glück – mag sein, wer weiß? Das Leben geht seinen eige­ nen Weg, man soll nicht ur­ teilen und kann nur ver­ trauen.“ Der alte Mann musste nun allein die Ernte einbringen. Zumindest war das neue Pferd so weit ge­ zähmt, dass er es als zweites Zugtier für den Pflug nutzen konnte. Mit viel Schweiß und Arbeit bis in die Dunkelheit sicherte er das Auskommen

Dr. Carmen Willeit Psychologin und Hebamme www.praxis-wegbegleitung.it

für sich und seinen Sohn. Ein paar Wochen später begann ein Krieg. Der König brauchte Soldaten und alle wehrpflich­ tigen jungen Männer … Was könnte uns der al­ te Mann mit seinem Verhal­ ten lehren? Meistens sind wir davon überzeugt zu wis­ sen, was und welche Zustän­ de in unserem Leben gut oder schlecht für uns sind. Wir er­ kennen nicht nur das, was für uns persönlich gut ist, sondern auch, was für un­ sere Mitmenschen gut oder schlecht ist. Der alte Mann lehrt uns, dass dies ein eingeschränkter Blick auf das Leben in seiner Ganzheit sein kann. Im Leben ist alles miteinander wech­ selseitig verbunden. „Mag sein“, dass manchmal im Le­ ben die Totalität der äußeren Erscheinung, die wir wahr­ nehmen und analy­ sieren, mehr bein­ haltet als die Summe jener Teile, die uns bewusst sind. „Mag sein“ ist der Ausdruck des weisen Mannes dafür, all dies, was ihm geschieht, ohne Bewertung und da­ mit ohne Widerstand anzunehmen. Er ak­ zeptiert den Moment als solchen und ver­ sucht in einem zwei­ ten Schritt, das für ihn möglichst Beste da­raus zu machen. Quelle: www.fuehrung-phasen.de/ geschichten.html

03.02.15 11:58


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