Paraguas 13

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paraguas MAGAZIN FÜR JUNGE KUNST

MIT BEITRÄGEN ZUM THEMA

ATHEISMUS

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intro ES GIBT KEINEN GOTT - Über diese Aussage lässt sich streiten wie über viele andere Dinge. Dennoch ist die Glaubensfrage einer der beliebtesten Streitpunkte unserer Kultur. Die einen wehren sich dagegen, dass ihnen die Wissenschaft zunehmend ihr Weltbild verloren geht. Andere wiederum wehren sich gegen die Institution Kirche, die mit konservativen Richtlinien noch immer unsere westliche Welt bestimmt. Wir haben uns für diese Ausgabe zwischen den beiden Stanpunkten bewegt. Wir haben Internetforen durchforstet und überprüft, wie konservativ die Kirche heute wirklich noch ist. Wir haben uns kundig gemacht, Titelbild: Rainer Sturm/pixelio.de

inwieweit Homosexualität noch immer ein No-Go in katholischen Kreisen ist. Und wir haben mit einem gesprochen, der mit einem Atheismus-Bus durch Deutschland getourt ist, um aufklärerische Werte zu vermitteln. Zudem haben uns dieses Mal besonders viele Kunstbeiträge erreicht, von denen sich wie gewohnt eine Menge im hinteren Teil des Magazins befinden. Das PARAGUASTeam wünscht wie immer viel Spaß beim Lesen! Mark Heywinkel im Namen des PARAGUAS-Teams

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inha PROJEKT

Peder Iblher Mit dem Bus durch Deutschland touren und f체r aufkl채rerische Werte werben - was bewegt einen dazu, gegen Gott zu wettern? Peter Iblher stand uns Rede und Antwort.

INTERNET Gummichrist Wie denken moderne Christen, was treibt sie ins Netz, was treiben sie in der digitalen Welt? Wir haben einmal nachgesehen ...

ZUM THEMA Gedanken von Andreas Matt Religion und Atheismus sind weite Felder. Unser PARAGUAS-Kolumnist Andreas Matt hat sich da so seine Gedanken gemacht.

GESELLSCHAFT Goliath gegen David Homosexualit채t und die katholische Kirche ist das noch immer zwei Antipoden? Stefan Hornbach hat sich kundig gemacht.


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INSPIRATIONSFUNDUS

Was uns bewegt Filme, Musik und Bücher begleiten uns durch den Alltag. Aber nur wenige schaffen es, uns wirklich zu bewegen ...

ARCHITEKTUR Le Corbusier Ein Architekt ist Atheist - kann sich das in seinen Bauten wiederspiegeln?

IMPRESSUM Paraguas.de Verantwortlicher: Mark Heywinkel Team: Ulf Biallas, Manuel Förderer, Stefan Hornbach, Joel Krebs, Christina Krieglstein, Andreas Matt, Diana Schormann und Antonia Wille Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht zwingend die Meinung des gesamten Teams wieder. Die Urheberrechte aller Beiträge verbleiben bei ihren jeweiligen Verfassern.

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PROJEKT

ATHEISTEN AUF DEUTSCHLANDTOUR


Mit ihrer Buskampagne ist eine Gruppe von Atheisten durch deutsche Städte getourt, um für aufklärererische Werte zu werben. PARAGUAS traf einen der Aktivisten. Interview: Mark Heywinkel Fotos: Buskampagne.de

Herr Iblher, auf der Website der Buskampagne finden sich vom Atheisten bis zum Säkularen unterschiedliche Definitionen vom Gottlosen. Wo ordnen Sie sich da ein? Das gewöhnliche Wort „Atheist“ trifft´s wohl. Natürlich ist keine Erkenntnis absolut, das ist mir dabei klar. Ohne christliche Werte würde unserem Rechtssystem die Grundlage fehlen. Wie reagieren Sie auf solche Aussagen? Ich halte das für Unsinn. Ohne Aufklärung und Emanzipation hätten wir heute noch einen gottgewollten Kaiser. Die Menschen verkennen, wie tief unsere Gesellschaft auf Gedanken fußt, die gegen die Kirche durchgesetzt werden mussten. Das Alltagsleben im Abendland ist längst zu 80 % säkular organisiert. Danach christlich, aber es gibt auch auch vorchristliche, muslismische oder buddhistische Einflüsse. Ihre Buskampagne haben Sie nach dem Vorbild aus Großbritannien nach Deutschland gebracht. Gibt es bei Ihrer

Version grundlegende Unterschiede im Denken? Die englische Kampagne hatte ja etwas ganz charmantes und unschuldiges in ihrer Entstehungsgeschichte. Das kann man nicht nachahmen, im zweiten Anlauf wird es zwangsläufig „verkopfter“. Vielleicht waren wir auch eher deutsch und gründlich im Denken, wir wollten da sehr viel reinpacken. Das tut der Debatte sachlich gut, kommt aber nicht so cool rüber. Natürlich haben wir uns auch mit Ariane Sherine abgestimmt, dass sie dahinter stehen kann. Mit einem Bus durch Deutschland touren und für humanistische Moral werben – ist das nicht auch eine Art Missionierung? Wir rechnen ganz schlicht nicht damit, jemanden von seinem Glauben abzubringen, das wäre doch naiv. Für unsere Moral müssen wir die Trommel rühren, weil sie uns einfach ständig abgesprochen wird. Und sicher bringt das einige Leute aus einer indifferenten Haltung heraus dazu, sich offener zu äußern – auf beiden Seiten.

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“Ich kann die Leute in Deutschland nur ermutigen, nicht so ängstlich zu sein.”

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Der WDR zeigte vor kurzem aufgebrachte Münsteraner, die Ihren Bus ganz schnell wieder loswerden wollten. Andere zeigten sich begeistert von Ihrer Idee. Damit, dass es fast überall so freundlich wird, hatte ich nicht gerechnet. Wir hatten uns ja warm angezogen, aber da ist nichts. Ein paar Leute sind spontan etwas aufgebracht, aber sobald man zeigt, dass man es ernst meint – und sie auch ernst nimmt –, kommt man ins Gespräch. Ich kann die Leute in Deutschland nur ermutigen, nicht so ängstlich zu sein. Diese Sache mit den religiösen Gefühlen – das muss man einfach gegenseitig aushalten in einer pluralistischen Gesellschaft. Wer unterstützt Ihre Kampagne: Eher junge oder eher ältere Menschen? Lustigerweise geht es quer durch die Bevölkerung, auch sozial. Die jüngeren sind etwas entspannter, die älteren haben oft noch herbe Erfahrungen, durch die sie zu ihrer Ansicht gekommen sind. Meine Großmutter ist als Protestantin in einem katholischen

Internat gewesen. Die wollte mit dem Verein nichts mehr zu tun haben. Die „Süddeutsche Plakatmission“ hat, im Gegensatz zu Ihnen, in manchen Städten Anzeigen mit christlichen Botschaften aufhängen dürfen. Wie beurteilen Sie das? Großes Fragezeichen für mich, dieser vorauseilende Gehorsam an deutschen Schreibtischen. Ich glaube es ist eher Angst, sich da zu exponieren. Dass alle Glaubensrichtungen werben dürfen war bis vor kurzem kein Thema, das steht jetzt plötzlich infrage. Und andererseits wird es künftig in Deutschland noch etwas normaler sein, offen zu sagen „Ich glaube nicht an Gott“.


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Mit dem Bus durch Deutschland: Zu den Stationen der Buskampagne gehörten u. a. Stuttgart, Dortmund, Hamburg, Berlin, Dresden, Nürnberg und München.


LE CORBUSIER Ein Architekt der neue Maßstäbe setzt. Alle Welt spricht von seinen Bauten und Kunstwerken. Aber was inspiriert ihn zu seinen größten Meisterwerken? Er sei Atheist, doch ist es dann angebracht Kirchenbauten zu errichten? Text: Diana Schormann

Charles Edouard Jeanneret Grishieß alias Le Corbusier. Er benennt sich 1917 mit diesem Pseudonym nach seinem Urgroßvater Lecorbésier, bezieht sich auch auf seinen Lehrmeister L´Eplattenier. „Le Corbeau“, der Rabe, dem er im Profil so gut glich. Der 78 Jahre alt gewordene Künstlerarchitekt kann nur mir Picasso gleichgesetzt werden. Verstorben ist das Multitalent der klassischen Moderne 1965 im Mittelmeer an einem Herzschlag. Ein typischer Tod für einen Wegweiser; mitten in der kraftvollsten Anspannung seines Körpers. Sein Leben lang treibt er sich und seine Projekte voran. Der schweizerisch- französischer Architekt beschäftigt sich zeitlebens nicht nur mit der Architektur, sondern auch mit der Architekturtheorie und mit der Stadtplanung, er war Maler, Zeichner, Bildhauer und Möbeldesigner. 1922 gründet der Visionär mit seinem Vetter Pierre Jeannert ein Architekturbüro. 1924 richtet er sich zusätzlich ein Atelier in einem Gang eines ehemaligen Jesuitenklosters ein. Man kann ihn zu den bedeutendsten und einflussreichsten Architekten des 20. Jahrhunderts zählen. Seine neuen Ideen lösen viele kontroversen aus. Als junger Architekt ist er für den Funktionalismus bekannt, er verkündet das rationale Bauen. Die Aufgabe des Architekten sei zweckmäßig, funktional und wirtschaftlich zu planen. Das Ornament verabscheut er. Klare und einfache Körper aus geometrischen Grundformen will er schaffen. Seine Stadtplanung ist erbarmungslos. In einer menschenfeindlichen Vision will er den historischen Stadtkern von Paris ausradieren, um ihn mit rasterförmig aufgestellten Hochhäusern und dazwischen liegenden Schnellstraßen zu füllen. Wie das Auto oder das Flugzeug ist auch


die Wohnung eine Maschine. Was ist mit dem Menschen? Soll er auch funktionieren? Seine politische Haltung ist nicht ganz klar. Man vermutet er hat in den späten 1930er Jahren eine Symphatie für die politische Rechte. Seine Mitarbeiter distanzieren sich darauf von ihm. In den 50er und 60er Jahren entstand der „beton brut“, der Brutalismus, wörtlich „roher Beton“. Die Geometrie ist die Grundlage, der Träger der Symbole, die Vollkommenheit, die das Göttliche bezeichnet. Der Erfinder der Wohnmaschine bezeichnet sich selbst als Atheist. Allerdings ist er für spirituelles durchaus empfänglich! „Was den Glauben angeht: Ich verstehe die Wunder des Glaubens nicht, aber ich kenne jene des unsagbaren Raumes.“ 1955 bekommt er den Auftrag die Wallfahrskapelle Notre– Damedu- Haut bei Ronchamp (unsere liebe Frau von der Höhe) zu bauen. Zuerst weigert Le Corbusier sich für eine tote Organisation wie die Kirche zu arbeiten. Der radikale Denker nahm den Auftrag erst nach längerer Überzeugungsarbeit durch den Dominikanerpater und Kunstkritiker Marie- Alain Couturier auf. Seine anfängliche Ablehnung schlug schnell in Begeisterung um. Eine komplexe Recherche startete. Bei einem ersten Besuch vor Ort sieht er die zerstörte Marien- Wallfahrtskirche auf dem Bourlémat hoch über Ronchamp. Diese war für ihn eine magische Stätte. In seinen Entwürfen nimmt er Bezug auf die Landschaft, die vier Himmelsrichtungen und das Gemurmel des Ortes. Kritiker werfen ihm vor, er hätte seine Prinzipien verraten. Die Kirche ist nicht funktionell, sondern romantisch! Die calvinistische Strenge ist vorbei. Der Bauplatz auf dem Berg ist einmalig. Er liegt über 100m höher als die Stadt Ronchamp.

Die Anhöhe besteht aus einer Lichtung, die sich in alle vier Himmelsrichtungen öffnet. Der Kirchenbau ist somit weithin sichtbar und ermöglicht einen Panoramablick ins Umland. Als neues Stilmittel geht er auf Naturformen wie Knochen, Schalentiere und Muscheln in poetischer Inspiration ein. Woher plötzlich der Sinneswandel? Ist es die Beschäftigung mit dem heiligen Ort? Verändert das Magische oder Kultische den Menschen? Da die Kapelle nur 200 Gläubige fasst, baut Le Corbusier zusätzlich eine Außenkapelle. Nimmt er Bezug zur einstigen Kultstätte der Kelten, die ihre Götter immer unter freiem Himmel ehren? Woher kommt der Naturbezug? Zeichnet er sich durch einen neuen Lebenswillen nach dem Krieg aus? Die neue Betonskelettkonstruktion ist mit Bruchsteinen der zerstörten Kirche ausgefacht. Ein praktischer Gedanke. Ein Erinnern an das, was ihn beim ersten Betrachten in seinen Bann zog? Sein Bau verkörpert das bekannteste Gotteshaus der Moderne und ist ein Prototyp zeitgenössischer Sakralarchitektur. Es entsteht eine akustische Skulptur, die organisch geformt ist. Sie strahlt in den Raum hinaus und fängt das Echo der Landschaft wieder ein. Le Corbusier schafft einen geheimnisvollen Raumbezug. Der Werkstoff des Betons machte es möglich. Noch zu Lebzeiten Le Corbusier´s fand eine Wallfahrt zur Kapelle statt, an denen 250 000 Pilger zu ihr strömen. 1960 folgt ein weiterer Sakralbau, das Kloster Sainte- Marie de La Tourette. Später widmet sich der Architekt ganz der Malerei und entwickelt Theorien wie den Modulor. Heute ist die Wallfahrtskapelle der Ort, an dem die Kirche sich mit der modernen Kunst versöhnt.

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INTERNET

DER AUFGEKLร RTE GUMMICHRIST Text: Manuel Fรถrderer

Foto: Claudio35/Pixelio.de


Am Anfang war die Verblüffung. Und die Verblüffung – blieb. Nachdem der Autor sich dafür entschieden hatte, sich aus gegebenem Anlass für einige Stunden in den christlichen Foren des Internets umzutun, stellte sich schon nach wenigen Seiten eine leicht verwirrte Stimmung ein. Vielleicht eines zuvor: als man dem Autor vor mehr als zwei Jahrzehnten eine Schale Wasser über den Kopf schüttete, hatte ihn zuvor niemand gefragt. Seither steuert er auf seine erste Kirchensteuerzahlung zu. Kürzer: Atheist, oder doch eher: intellektueller Agnostiker. Sich einzugestehen, dass man nichts weiß, höchstens ahnt, ist weitaus schwieriger, als sich auf eine der beiden Seiten zu schlagen und mit der Gewissheit für oder wider den Glauben zu argumentieren. Vorweg beruhigten den Autor die teils recht unaufgeregten Namen der Foren und der Nutzer. „Glaubenslust“, „Himmlisch Plaudern“, „Christpark“, alles irgendwie verdaubar, „Forum bekennender Christen“, gut, geht auch noch, „Gnadenkinder“, na ja, warum nicht. Und dann der Ton. Man diskutiert offen und freundlich, man tauscht sich aus, man gibt Anregungen, Tipps und irgendwie wartet der Autor auch noch viele Klicks später auf den fundamentalen Querschläger. Nichts. Nur eins bleibt seltsam und wird mit jedem neuen Thread mehr Gewissheit: Man liest sich durch eine Welt aus Gummi. Alles scheint letztlich miteinander vereinbar. Alles scheint unter christlichen Vorzeichen deutbar.

Alles ist durch Jesus schon erklärt worden. Kein Einspruch, als jemand schreibt, dass der moderne Sozialstaat nichts mehr sei, als die zur politischen Struktur gewordene goldene, christliche Regel: Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst. Nur kurzes Murren, als an anderer Stelle die Überzeugung getätigt wird, dass die Kirche die einzige normative Kraft sei, die nicht dem Zeitgeist unterworfen ist. Das zeigt sich dann auch in Äußerungen des Papstes zum Thema AIDS und Kondome – weitab vom Zeitgeist. Im gleichen Atemzug findet man das dann aber doch recht empörend. Kirche sei eben mehr, liest der Autor. Gut, je diffuser, desto kuscheliger. Worüber auch diskutiert wird (und das Spektrum reicht von Fragen wie „Darf ein christlicher Ehemann onanieren, wenn er dabei an seine Ehefrau denkt“ bis „Kann ein intelligenter Mensch ein guter Christ sein“), es mutet seltsam an, dass bei allen Kontroversen doch letztlich eine gewissen Harmoniesucht siegt. Dogmatik und das, was gemeinhin als Lebenspraxis bezeichnet wird, verneint sich zu einem kuriosen Gemisch, seltsam formlos, auf der einen Seite eine unklare Menge an Grundsätzen, die mal mehr, mal weniger streng genommen werden, auf der anderen Seite deren Anwendung auf das, was Alltag genannt werden könnte. Man will ja nicht unkritisch sein und ist es auch nicht, alles wird erst geprüft. Das Ergebnis präsentiert sich dem Autor als eine Summe von Attributen, die unter dem Titel

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„aufgeklärter Christ“ firmiert. Kann das alles sein? Einige Klicks und Seiten weiter stößt man endlich auf schärfere Töne, die sich hauptsächlich auf die nicht zu beweisende Evolutionstheorie beziehen, alles subjektiv, letztlich nur Gedankenspiele, irgendwo darüber schwebt wieder der Topos vom gütigen Gott, der, wie ein recht ekstatischer Forennutzer schreibt, sehnsüchtig darauf wartet, dass wir uns ihm zuwenden.

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Fazit: Die Evolutionstheorie ist nicht wahrer (oder falscher) als die Genesis und Gott wartet auf unsere Zuneigung. Zwischendurch liest man mal wieder davon, wie es eine junge Frau oder ein nicht mehr ganz so junger Mann geschafft hat, aus einer Spirale aus Alkohol, Sex, Vergnügungssucht und Sünde heraus zu Gott zu finden und allein die Tatsache, dass diese Geschichte in der immer gleichen Form immer wieder auftaucht, macht dem Autor zu schaffen – denn allzu lang kann es bei ihm selbst demnach nicht mehr dauern. Wenn man liest, dass man selbst Teil einer gefallenen Schöpfung ist, dann bedeutet das nicht, dass hier ein Hinweis auf einen defizitären Gott vorliegt, sondern ein Verweis auf den freien Willen des Menschen – der uns Böses tun lässt. Zum Beispiel Poker spielen, ein Spiel, das von einem Nutzer als „Okkultismus in reinster Form“ bezeichnet wird. Man ist sich einig, dass Kirche nicht alles sei, dass aber ohne Religion nur der blanke Materialismus herrscht, man empfindet keine Unterordnung, fordert

aber eine sinnstiftende Instanz, die den Rahmen für ein richtiges Leben vorgibt, man gerät auch mal einander – aber letztlich turnt man gemeinsam auf einem Seil, unter dem das epistemische Netz des unhinterfragbaren Glaubens aufgespannt ist (auch wenn überall versichert wird, dass Glauben eben nicht Wissen ist, man weiß es eben doch, oder ist sich zumindest sicher, dass man glaubt zu wissen, oder oder oder...). Man muss neidlos konstatieren, dass man eigentlich kein Thema auslässt und nach gründlicher Suche stellen sich auch die, wie der Autor verstohlen zugibt, erwarteten Hardliner-Antworten ein und doch: nach über drei Stunden eifrigen Klickens und Lesens bleibt eine unerwartete Leere zurück. Kein Gefühl religiöser Verklemmung stellt sich ein, kein „Ich hab´s doch immer schon gewusst“, wie ein Aal glitscht die Forengemeinde durch Hände und entschwimmt im trüben Wasser der modernen Verquickung von Glaube und Welt. Wahrscheinlich liege ich aber damit falsch. Das ist ja sicherlich kein Widerspruch. Irgendwie vereinbar. In diesem Sinne: Dominus vobiscum.


GEDANKEN ZUM THEMA VON ANDREAS MATT

Ich schlendere über die Strasse, wache auf, esse, setze mich hin, ruhe mich aus, denke, existiere. Jedenfalls könnte man das meinen. Die Wirkung nach außen war schon immer ein bisschen verzerrt, jedenfalls kann man nie genau sagen, was man wirklich tut. Der Moment ist heilig, bei jedem Menschen. Tragweite bedeutet Realität und Wahrnehmung des reflektierenden Ichs. Welche Bedeutung man den jeweiligen Attributen verleiht, hängt von einer individuellen Sichtweise ab. Besetzt man alle Eigenschaften mit einem höheren Bewusstsein, vereinfachten sich die Dinge. Ist das Leben aber auf eine menschliche Ebene reduziert, so erklären sich Umstände rationaler, die Menschen fangen an, sich mit einer intensiven Lebensweise zu beschäftigen. Verantwortung entgleitet einer göttlichen Fügung, des Schicksals oder einer kosmischen Macht. Reduktion auf das Wesentliche. Leben – Interaktion – Lernen – Erfahren. Eigenständige Gehversuche macht man im Kindesalter, trotzdem erscheint solch ein primitiver Drang zum selbstständigen Leben schwer. Das Ungewisse lauert hinter jeder Ecke, hinter jedem Stein oder jeder

Steigung. Allein durch Erfahrungen lassen sich Ängste oder Vorahnungen ausblenden und mit eigenen Emotionen verbinden. Es ließe sich leichter leben, wenn man eine gewisse Vorbestimmung hinter jedem dieser Schritte vermuten würde. Ein Fuß vor den anderen – bis zum Ziel mit dem Blick nach oben gerichtet. Doch manchmal vergisst man gerade dadurch das wesentliche Ziel, welches doch meistens direkt Voraus liegt, aus den Augen. Der Weg wird zu einem engen Pfad, das Gestrüpp am Wegesrand ragt weit in den Blickwinkel und lauernde Gefahren werden durch Schnelligkeit und Ignoranz ausgeblendet. Ein vorschnelles Urteil? Sicherlich lässt es sich mit einem gesunden Grad an Führung und Struktur einfach leben, aber vergessen wir dadurch nicht, flexibel zu bleiben? Soll man eine gut ausgebaute Straße verlassen, nur weil man sich sicher ist, dass der schmale Pfad schon da ankommen wird, wo man hin will? Genau dies liegt nicht im Spektrum einer höheren Macht, sondern bei jedem einzelnen Menschen selbst. Die Entscheidung über den Verlauf der Zukunft trifft man letztendlich doch – wenn auch nur im Kleinen – für sich.

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GESELLSCHAFT

GOLIATH GEGEN DAVID


„Schläft einer mit einem Mann, wie man mit einer Frau schläft, dann haben sie eine Greueltat begangen; beide werden mit dem Tod bestraft“, so deutliche Worte findet das Alte Testament für die Konsequenzen schwulen Geschlechtsverkehrs (Levitikus, 20,13). Und auch wenn es nicht umsonst ‘Altes’ Testament heißt, ist Homophobie ebenso aktuell wie Rassismus – mit dem ‘Vorteil’, dass sie gesellschaftlich stärker akzeptiert zu sein scheint. Von kirchlicher Seite ist kaum Hilfe zu erwarten – Grund genug, sich abzuwenden? Text: Stefan Hornbach Foto: Valentina Tubino Gibt man den Begriff „Homosexualität“ in der Google-Suche ein, liefert diese ergänzende Vorschläge wie „homosexualität bibel“, „krankheit“ oder auch „heilbar“. Folgt man letzterem, landet man schnell auf kreuz. net. Unter dem Deckmantel „katholischer Nachrichten“ wird hier gegen „Homo-Unzüchtige“, „Widernatürliche“ und „homofaschistische Aktivisten“ gewettert. Die anonymen Autoren, nur wenige sind namentlich bekannt, erfüllen durchaus den Tatbestand der Volksverhetzung – nur logisch also, dass ihr Server in den USA steht. Radio Vatikan und die deutsche sowie österreichische Bischofskonferenz distanzierten sich offiziell von kreuz.net. So hält die katholische Kirche Homosexualität an sich für keine Sünde, homosexuelle Beziehungen jedoch schon, bezeichnet sie als „Zerstörung von Gottes Werk“. Und auch in der evangelischen Kirche sind Einzelfälle bekannt, in denen schwule Pfarrer nach ihrem Outing zwangsversetzt wurden. Wäre es somit aus homosexueller Sicht nicht die logische Konsequenz, die Kirche abzulehnen und atheistisch zu denken, frei nach dem

Motto: wo kein Gott ist, droht auch keine Strafe? Eine Befragung junger schwuler Männer zeigt den Unterschied zwischen persönlichem Glauben und der Kirche als selbsternannte Vertretung Gottes: Mattis, 18 Jahre, glaubt „nicht direkt an Gott, aber daran, dass es irgendjemanden da oben gibt, der die Strippen in der Hand hält“, und auch Sebastian, 22, gibt an, nicht an „die Definition Gott aus der Bibel“ zu glauben, viel eher „an was Großes, was sehr Altes und Weises, an Energien und Karma.“ Auch Dominik, 21, will nicht an Gott glauben. Aber daran, „dass es eine größere Macht gibt, dort oben oder auch dort unten. Ich glaube, dass es irgendein kosmisches Gleichgewicht gibt. Dass alles was man aussendet auch wieder auf einen zurückfällt.“ Der Kirche und ihren Anhängern begegnet er mit Toleranz, auch wenn er die „Ausübung des Glaubens, im Sinne von Beten, in die Kirche gehen, Opferlamm, etc. eher als Werkzeug, als Hilfsmittel“ sieht, „um irgendwie Nähe zu dieser größeren Macht zu schaffen“. Man muss

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“Benjamin leitet seit zehn Jahren eine ‘Katholische Junge Gemeinde’. Auch für ihn ist Gott Auslegungssache.” nicht Theologie studiert haben, um festzustellen, dass diese Vorstellungen keinesfalls atheistisch sind, sich zwar von einem Gott abzugrenzen versuchen, aber etwas beschreiben, dass man auch einfach beim Namen nennen könnte.

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Das meint auch Benjamin, 25 Jahre, der seit gut zehn Jahren eine ‘Katholische Junge Gemeinde’ in Rheinland-Pfalz leitet. Auch für ihn ist Gott „Auslegungssache“, da man seine Existenz letztendlich nicht beweisen könne – genauso wenig wie seine Nichtexistenz. Benjamin arbeitete bereits als Erzieher in mehreren katholischen Kindergärten und sitzt als Jugendvertreter im Pfarrgemeinderat. Dass er schwul ist, hat er weder verheimlicht noch an die große Glocke gehängt – gestört hat es bisher keinen. „Vielleicht habe ich aber auch einfach Glück gehabt“, gibt er zu bedenken. Dass die katholische Kirche homosexuelle Liebe ablehnt, müsse man im Falle eines Engagements „hinnehmen“, sich fragen: „Kann und will ich das?“ Außerdem hält er genau das für den „christlichen Grundgedanken“ - Andersdenkenden „wohlgesonnen“ zu begegnen.

Seine Junge Gemeinde positioniert sich auf ihrer Homepage „für eine demokratische, gleichberechtigte und solidarische Gesellschaft und Kirche“, die „ jede Art der Ausgrenzung und Unterdrückung“ ablehnt. Ob es sich hierbei um einen Einzelfall handelt oder nicht: Eine solche gelebte Offenheit wäre auch den Chefetagen im Vatikan zu wünschen. Letztendlich muss man sich als Mensch, ganz gleich welcher Sexualität, mehrfach entscheiden: Für oder gegen den Glauben an einen Gott, und recht unabhängig davon für oder gegen die Kirche. Man könnte aus Protest austreten, oder sich aus Protest für sie engagieren – und vielleicht etwas verändern. Und solange man keine offizielle Korrektur des Alten Testaments erreicht, sollte man dieses vielleicht einfach nicht zu wörtlich nehmen. Denn verboten ist hier nicht nur Sex unter Männern, sondern unter anderem auch der mit einer menstruierenden Frau. Umso erstaunlicher, als David, der einst Goliath besiegte, nach Jonatans Tod spricht: „Du warst mir sehr lieb. Wunderbarer war deine Liebe für mich als die Liebe der Frauen.“ (2. Samuel, 1,26)


inspirationsfundus

WAS UNS BEWEGT - GESTERN UND HEUTE: FILME, BÜCHER, MUSIK DIETMAHR DATH DIE ABSCHAFFUNG DER ARTEN In Analogie an Darwins Entstehung der Arten lässt Dietmar Dath in seinem Buch nichts unversucht, um dem Leser die Idee der Menschheit, ihre biologische als auch kulturelle Evolution suspekt zu machen. Die uns bekannte Phase der „Langeweile“ wurde abgeschafft und die Tiere, die Gente, regieren – eine moderne Fabel, ja, und ein intellektuelles Überwerk, sperrig und schön, traurig und humorvoll. Wer schon immer wissen wollte, wie sich Liebe zwischen Wolf und Luchs anfühlt, der erfährt es hier. Manuel Förderer MISTER SUSHI SO ELEKTRISCH So elektrisch wie der Titel befürchten lässt, klingt das Debüt der fünf Leipziger von Mister Sushi gar nicht. Stattdessen gibt´s mit der Platte guten deutschen Rock auf die Ohren. Einige der Songs mit Zeilen wie “Ich brauche nichts zu leben, wenn es nichts zu leben gibt” gehen richtig tief, ohne übertrieben schmalzig zu sein. “Kellerschrank” und “Keine Lust” sind wiederum wunderbar tanzbar. Auf “So elektrisch” befinden sich 13 Tracks, die jeder Radiomoderator ohne schlechtes Gewissen spielen könnte - am besten gleich alle am Stück. Mark Heywinkel

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beiträge Klaus Roth zwischenzeit

tage wie kahle zimmer mit dem echo von vorgestern oder übermorgen

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das schweigen der ungläubigen sirrt in den gassen manchmal bebt die erde manchmal bebt der himmel die gottlosen kommentare der raben noch im ohr erinnere ich mich an ein großes ketzerwort und gebe mir selbst ein alibi

Klaus Roth, 1957 geboren, lebt in München. Literatur-Übersetzer, bildender Künstler und Autor (Lyrik, Essay). Bild- und Textbeiträge in Anthologien sowie in Literatur-, Kunst- und Kulturzeitschriften. Autorenseite: www.klausroth-texte.de


Thom Delißen Abendlicht Ich weiß es noch wie heute. Es war ein schwüler Frühlingstag. In Berlin hielt dieser kleine Mann mit der bösen Stimme, die oft im Radio zu hören war, eine große Versammlung ab. Ich kannte sein Bild aus der Tageszeitung. Mein Großvater, ein eigensinniger, ein eigenartiger Mann, der mich 10-jährigen Knirps sonst zu ignorieren pflegte, hatte mich eines Morgens auf seine Knie gezogen, gewaltsam fast. Dann hatte er in der einen Hand die Zeitung, mit dem Zeige- und Ringfinger der anderen auf diese Schwarz-Weiß-Fotografie gestochen. „Soviel Hass, Junge! Soviel Hass!“ „Lass den Bub zufrieden, Vater!“ hatte die Mutter gesagt. „Du bringst uns noch ins Unglück!“ All das und noch viel mehr raste gerade jetzt in einem wilden, ungebremsten Karussell durch meine ungeformten Kindergedanken. Ich kam aus dem HJ-Fähnlein, nahezu jeden Nachmittag versammelten wir uns. Mir gefiel es gut, bei diesen Zusammenkünften. Das lag vor allem an Adam, den ich nun schon seit einem Jahr kannte. Adam war ein blitzgescheiter Kerl, auf den Tag zwei Monate älter als ich. Irgendwie verband uns das. Wir führten für unser Alter sehr intensive Gespräche, ich fühlte mich wohl in seiner Gegenwart. Er war mein Freund geworden, wie ein Zehnjähriger nur einen Freund haben kann. Nun, heute war Adam nicht bei der Gruppe. Ein Judenschwein sei er. Sagte Robert. Aufgeflogen. Hatten die anderen gesagt. Endlich hätten sie es herausgefunden, aber man hätte es ja

schon immer gesagt. Soviel Geld, wie die haben. Habe Roberts Mutter gesagt. Adam. Ein Jude! Eine Welt brach für mich zusammen. Aber er war doch Adam! Ich öffnete die Gartentür, der Flieder blühte in einem unwahrscheinlichen Blauton, die Luft roch nach surrenden Mücken, Libellen über dem kleinen Teich. Am Tisch, der am Rand der kleinen Terrasse unter einem Apfelbaum stand, saß meine Mutter und schälte Kartoffeln. Im Hintergrund hing die weiße Wäsche der Familie auf einer langen Leine. Bedrückt setzte ich mich neben sie an den Tisch. „Was ist dir?“ fragte meine Mutter besorgt, beugte sich zu mir hinüber und fühlte an meiner Stirn. Ihre kühle, weiche Hand war eine Wohltat. „Adam ist ein Judenschwein“ sagte ich mit tonloser Stimme. Ich weiß, dass mir Tränen über das Gesicht liefen. „Bitte?“ sagte meine Mutter in diesem unergründlichen Ton der unterdrückten Empörung, den sie nur hatte, wenn ihr etwas besonders ans Herz ging. „Was werden sie mit ihm machen? Sie werden ihn töten, nicht wahr? Wie all die anderen auch?“ fragte ich. Meine Mutter beugte sich erneut zu mir hinüber, zog mich an sich. Sie fuhr mir mit der Hand durch meine ohnehin schon zerzausten, lockigen Haare. „Horch gut zu, was ich dir nun erzähle!” Sie holte tief Atem, ihre Stimme wurde sanft. “Die Alten erzählen, dass wenn ein Kind in das andere Blau geht, wenn es stirbt, ein Engel zu

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ihm kommt, es bei der Hand nimmt.“ Sie sah mich, ob dieser Offenbarung ängstlich an. Die Kartoffeln hatte sie längst zur Seite gelegt. „Dann fliegen die beiden durch die Dimensionen, hin zu all den schönen Erinnerungen die das Kind hatte.“ Sie lächelte mich an. „Und da gibt es reichlich. In jedem dieser Momente darf das Kind so lange verweilen, wie es möchte. Es sind gar viele Kleinigkeiten und große Dinge, die uns dies rückhaltlose, unschuldige, innere Glück geben. “ Sie legte ihre Hand auf die meine.„Nur bemerken wie sie so selten.“ Ein wenig Traurigkeit schwang in den letzten Worten. Doch sofort gewann ihre Stimme wieder Frische, malte mir nun für meine Fantasie ein überirdisch schönes Bild. „An allen diesen Orten, weißt du, wird jeder einzelne dieser glücklichen Momente zu einer wunderbar schillernden Blume. Jeder Augenblick der aufrichtigen Freude in einer anderen, der Unbegreiflichkeit nahen Farbe. Ihre Augen strahlten. „Und ihm ist erlaubt, sie allesamt zu einem großen, in seiner Vielfalt und Pracht unerhörten Strauss zu sammeln.” Sie hatte eine ungewisse Sehnsucht, wie sie das sagte, dass es mir das Herz zerbrach. „Daraufhin fliegen die Beiden mit dem Strauss dieser wunderbaren Pflanzen an das Tor der Überwindung, wo sie auch das allerkleinste Trübsal noch hinter sich lassen, wenn sie es durchschreiten. Dort nun setzen sie die zu wunderbaren, ewig währenden Farbfantasien gewordenen Gelegenheiten, - die allerschönsten Dinge aus dem Leben des Kindes, zu all denen

der anderen Kinder, wo sie weiterwachsen und noch viel größer werden. Und schweben fortan im vollkommenen Glück.“ Lange lag ich wach, in jener Nacht. Die Sirenen heulten und ich dachte an die Minuten und Stunden, in denen Adam und ich glücklich waren.

Thom Delißen, siehe letzter Beitrag dieser Ausgabe


Tobias Grüterich Atheismus Atheist: jemand, der Gott den Humor zutraut, nicht zu existieren. (S. 35) Es waren einmal ein atheistisches und ein religiöses Pantoffeltierchen. Sie gerieten häufig in Streit, ob es den Biologen gäbe oder nicht, ob er gut oder böse, allmächtig oder machtlos sei und dgl. Das religiöse Pantoffeltierchen glaubte unbeirrt an den Biologen und betete viel. Das atheistische wunderte sich darüber, es wunderte sich im Allgemeinen sehr viel, bis ihm ein Wort in den Sinn kam: »Außerirdische«. Damit gab es sich zufrieden, und damit kehrte auch zwischen beiden Frieden ein. »Die Wege des Biologen sind unergründlich«, sagte das eine, und das andere war sich sicher: »Ich weiß nicht, was die Außerirdischen mit uns vorhaben.« Dies war fortan der gemeinsame Nenner. Beide wurden Theologen, auch wenn sich das atheistische Pantoffeltierchen nicht so nannte. Dem atheistischen gelang es, sich seine Welt verständlich zu machen. Das religiöse dagegen verfiel auf die Theodizeefrage: Wenn der Biologe gut und allmächtig ist, wie kommt dann das Böse in die Petrischale? (S. 43) (aus dem Band “Harte Kerne”, 2009)

Tobias Grüterich, geb. 1978 in Karl-Marx-Stadt/ Chemnitz; Studium der Geodäsie in Dresden; seit 2008 Vermessungsreferendar; wohnt in Bonn. Diverse Veröffentlichungen, weitere Informationen unter: www.aphorismania.de

Thomas Steiner zwei augen, groß & rund & gar nichts drum herum, als schwarz. ein leises rufen: wo bist du? das dunkel bleibt & eine antwort wird nicht kommen. Thomas Steiner, geboren 1961 bei Reutte (Österreich), lebt in Neu-Ulm. Veröffentlicht Gedichte und Kurzgeschichten in verschiedenen Zeitschriften und Anthologien. Redaktionsmitglied der Literaturzeitschrift außer.dem (www.ausserdem.de).

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Klaus Roth, siehe S. 18


Anja Flügge inter mundos bist du noch nie auf Heiliges gestoßen, an Thron und Altar, rufst du, steht man immer falsch das aus dem Einen sich Entfaltende, in ihm gespiegelte, kabbalistisch gerahmt? dies Gedankenbild ist farblich zu grell, findest du, und schlecht komponiert – die Fläche ist nicht bewältigt, da ist zu viel leerer Raum ums Göttliche und die Figuren stehen zu eng: wenn nur der Vater den Sohn und nur der Sohn den Vater kennt, dann bleibt alles familiär umzäunt und du lieber vor dem Tor – da ist die Straße breiter, die zur Erlösung führt und weniger sippschaftsverdunkelt

Anja Flügge, geb. 1976. Magisterstudium der Fächer Literaturwissenschaft und Kunst, zur Zeit Arbeit an einer literaturwissenschaftlichen Dissertation. Künstlerische Betätigungsfelder: Zeichnung und Lyrik. Gründungsmitglied der Autorengruppe „Kommando Schreibmaschine“. Seit 2007 regelmäßig Touren durch Deutschland, seit 2008 mit dem Projekt „Elektrolyrik“. Weitere Informationen unter: www.kommando-schreibmaschine.de

ohne festen Weltsinn stehst du beidfüßig stabiler im Tag als ich mit meinen Flatterfragen und dem ganzen Sündenballast, der mich aus dem Jetzt schiebt und büßend in die Bänke wenn du dem Lehmgeformten Gottgleichheit absprichst, dann wirkst du, die Sonne im Rücken, derart auratisch umkränzt, dass es mich drängt, auf die Knie zu fallen, in blinder Verehrung in dem, was sich betend um dich breitet, erkennst du die Todesbegegnung, eine stillgelebte Allegorie nicht zum Ersten oder Letzten, in die Mitte der Selbstentzweiung stellst du dich, mit den Händen in den Taschen, nicht den Wolken, aus denen es Gebote regnet

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Sarah Katharina Kayß Jerusalem Geläutert geschändet und geweiht Nur zweimal poetisch Beachtung gefunden Und unbrauchbar gemacht Hauptsache die Besitzverhältnisse sind geklärt Vielleicht sollten wir dich umbenennen Konfliktlösung betreiben, ein Disneyland errichten lassen und die Gewalt so ersticken

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Kommt, wir lassen die Moschee abreißen und errichten auf dem Berg einen Streichelzoo Das Kleingetier kann nicht davonlaufen, weil wir die Tempelmauer erweitern werden um den gesamten Hügel herum Aus der großen Kirche machen wir eine WG Zeitgemäße Umfunktionierung nennt man das Dann vierteln wir die Stadt Gerne wird das Gerechtigkeit geschimpft Da haben wir Juden Da haben wir Palästinenser Mormonen dürfen auch kommen Und ein paar Araber Ausgebucht. Please call later on Wer will alles ein Stück? Oder bei Ebay versteigern für einen guten Zweck? Reißen wir sie nieder. Plattland. Wüste. Nichts. Und dann bekommen wir alleine Neue Jeder Kontinent eine Eigene Wenn das neue Reich anbrechen würde wären alle Probleme gelöst Beten wir zu den Göttern, dass sie Jesus bald auferstehen lassen Sarah Katharina Kayß, geboren 1985 in Koblenz, seit 2006 Studium der Religions- und Geschichtswissenschaften in Bochum, Prosa- und Gedichtveröffentlichungen, 2007 erschien der Gedichtband „Nichts – Abstrakte Lyrik“.

Maik Lippert RUSH HOUR da spürst du erneut gott ist gleich (gültig) ob autofahrer oder umweltticket benutzer bist du nur eine nanosekunde auf seiner zeitscheibe

Maik Lippert, 1966 in Erfurt geboren. Lebt und arbeitet momentan teilzeitig als Projektmanager für Wirtschaftsseminare in Berlin. Diverse Publikationen, weitere Details unter http://www.poetenladen.de/ maik-lippert.htm


Klaus Roth, siehe S. 18


Cornelia Koepsell Die Glocke Draußen läuteten Kirchenglocken. Sonntagmorgen. Widerwillig, stöhnend blinzelte Emma in das Licht dieses Tages. Sie zog die Bettdecke übers Gesicht. Das Geläute nervte und mahnte: „Komm! Komm! Es ist Sonntag. Der Tag des Herrn. Komm! Mach dich nicht unglücklich. Komm in die Kirche. Bim. Bam. Wo bleibst du denn? Hast du kein Gewissen? Du wirst – bim – in der Hölle braten – bam.

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„Ich will ja aufstehen“ dachte Emma. „Vielleicht sogar in die Kirche gehen. Bloß meine Beine sind so schwer. Sie gehorchen nicht. Mein Körper mag nicht. Ich hatte einen grausig schönen Traum, von einem Teufel mit schwarzen Hörnern und Pferdefuß, einem klaren, kantigen Gesicht, vollen Lippen und einem Jungenkörper. Wir haben uns geliebt. Es war teuflisch gut. Vielleicht bin ich jetzt keine Jungfrau mehr.“ Bim, bam läuteten die Kirchenglocken. „Komm zu mir. Es ist nicht zu spät zur Vergebung der Sünden. Bim. Gott ist gnädig. Bam. Er ist für dich am Kreuz gestorben. Bimmeldibamm. Selbst den Teufel hat er besiegt.“ Emma versuchte, den Zeh unter der Bettdecke hervorzustrecken. Es war kalt da draußen. Am liebsten würde sie wieder einschlafen und es noch mal tun. Warum war alles, was Spaß machte, Sünde? Sie wälzte sich auf die Seite und sah auf blankgeputzte schwarze Schuhe. Bim, bam, läuteten die Glocken. Der Vater stand im Zim-

mer. Emma hatte ihn nicht kommen gehört. Den schwarzen Anzug hatte er bereits angelegt. „Willst du am Tag des Herrn nicht aufstehen und in die Kirche gehen?“ fragte seine durch das Kissen an ihrem Ohr gedämpfte Stimme. „Ja, ja, ich würde ja gern“, sagte Emma und legte eine wehleidige Note in ihre Stimme. „Aber mir ist so übel. Richtig schlecht. Ich habe Bauchschmerzen. Krämpfe, glaube ich.“ Der Vater verstand. Ein Frauenleiden – das musste respektiert werden. „Kannst du es nicht trotzdem versuchen? Gott ruft dich“, fragte er. „Ja, ich weiß. Nächste Woche bestimmt. Aber ich kann nicht. Mir ist so übel. Außerdem hatte ich einen fürchterlichen Traum. Ich glaub, ich muss mich übergeben.“ „Ruhig liegen bleiben“, sagte der Vater. „Dann vergeht es wieder.“ Emma sah, wie sich die blankgeputzten Schuhe entfernten. Bim, bam, läuteten die Glocken schon viel leiser, verhaltener, bevor sie verklangen. Die Stille eines Sonntagmorgens, wenn alle anderen in der Kirche waren. Etwas Besseres gab es nicht. Emma dämmerte ein und träumte von ihrem persönlichen Teufel. Wenn sie die Wahl hatte, zwischen ihm und Gott, dann blieb ihr nichts übrig. Sie musste sich für ihn entscheiden.


Martin Dragosits Zwischenstand Der Geist ist willig, aber das Fleisch, ach ja, das Fleisch, es ist schwach. Emma konnte nichts dafür. Cornelia Koepsell, Jahrgang 1955, Studium Germanistik, Geschichte, Betriebswirtschaft, Beruf : Buchhaltung, Rechnungswesen, zahlreiche Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften, Anthologien und Internet.

Von den Göttern hört man schon lange nichts mehr, wie ausgestorben. Ihre Vertreter haben sinkende Ziffern oder gehen aggressiv in den Markt. Übliche Probleme beim Verkauf von Äpfeln und Birnen. Die Kunden zahlen auf jeden Fall den vorgegebenen Preis. Manche finden sogar das Produkt so gut, das sie freiwillig sterben. Nur blöd, dass es auf Dauer keine neuen Ziele gibt und von den Chefitäten keiner mehr das Gebiet betreut.

Martin Dragosits, geboren am 25.2.1965 in Wien, lebt dort; HAK (kfm. Matura); berufliche Erfahrung als Software-Entwickler, Projektmanager und Teamleiter.

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Ulrike Komzak Gott geht es wieder gut

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Nach reiflicher Überlegung war Gott zu der Überzeugung gelangt, dass es keine Gläubigen gab. Diese Erkenntnis versetzte Gott verständlicherweise in einen Konflikt höchsten Grades. Denn insofern die Existenz derer, die an Gott glaubten, tatsächlich nicht gegeben war, stellte sich die Frage: Wer war Gott überhaupt? Wenn nämlich Identität zu deuten war als die Summe der Merkmale, die ein Wesen ausmachen, und über die es sich selbst abgrenzt, dann war Gott mit dem Verlust des Glaubens an die Gläubigen eines der wichtigsten Merkmale abhanden gekommen. Und nachdem Gott selbst sich stets abhängig gewähnt hatte von der Beurteilung der Gläubigen und deren Glauben an Gott, war also eine gravierende, göttliche Identitätskrise die Folge. Göttliche Identitätskrisen wirken dementsprechend schwer und Gottes Reich verdunkelte sich zusehends, während Gott sich fragte, was Gott eigentlich geleistet hatte, und welchen Sinn alles machte, nachdem nun die Gewissheit in Gottes Bewusstsein gedrungen war, dass Gott für Gläubige gehandelt hatte, die es in dieser Form nicht gab. Für wen bin ich denn nun da, fragte sich Gott verzweifelt, und wie soll ich mich selbst ohne Gläubige definieren? Gott legte sich aufs Himmelsbett und fühlte sich mit einem Male alt und nutzlos. In früheren Zeiten war Gott durchaus gründ-

lich vom Glauben an die Gläubigen überzeugt gewesen. Nichtsdestotrotz hatte Gott dennoch stets danach gestrebt, auf jede nur erdenkliche Art und Weise zu belegen, dass es die Gläubigen tatsächlich gab – und sei es nur um die eigene Gewissheit zu stützen. Die Gläubigen verhielten sich im Übrigen auch nicht anders. Doch mit Voranschreiten der Zeit, und auch nachdem Gott die Praktiken aller Religionen eingehend studiert hatte, kamen Gott immer mehr Zweifel. Gott wälzte einen Gedanken nach dem anderen - und Gott besaß zweifelsohne eine Vielzahl von Gedanken – in dem Versuch, die Existenz von Gläubigen als Tatsache ausweisen zu können. Gott war weise und Gott war vorderhand auch ein Gott der Vernunft – und so war es nicht verwunderlich, dass Gott mit Logik an die Problematik ging: Wenn es tatsächlich wirklich und wahrhaftig Gläubige gibt, dachte Gott, so müssten sie gewissen wissenschaftlichen Kategorien entsprechen, aufgrund derer sich dann ihre Existenz verifizieren lassen könnte. Wie also, grübelte Gott, müssten die Gläubigen beschaffen sein, um ihr Vorhandensein beweisen zu können? Erstens, stellte Gott fest, müssten sie an mich glauben, unbedingt und ohne Zweifel; zweitens dürften die Gläubigen keinen anderen Gott haben außer mir; drittens – doch als Gott solchermaßen versuchte, wissenschaftliche Kategorien zu formen, fiel ihm auf, dass Gott nur die zehn Gebote nachbildete. Oder


die fünf Säulen des Islams. Oder Teile der Tora. Oder was auch immer die Gläubigen egal welcher Glaubensrichtung zusammengetragen hatten, alles in Gottes Namen. Gott dachte also weiter nach und analysierte, erstellte Gutachten und Expertisen, um auf empirschem oder heuristischem, induktivem oder deduktivem, qualitativem oder quantitativem, ja sogar auf kosmologischem Wege zum Ziel zu gelangen - doch immer größer wurden die Zweifel. Bis Gott am Ende feststellte, dass die Gläubigen wissenschaftlich nicht zu fassen waren. Nachdem alle Kausalketten und logischen Überlegungen selbst nach Jahrhunderten göttlicher Kopfarbeit keinerlei konkrete Schlüsse gebracht hatten, beschränkte Gott sich alsdann darauf, zu glauben, dass es wahre Gläubige gab. Gott gab sich den Glauben an die Gläubigen nun als Postulat vor, Gott glaubte um des Glaubens willen. Ich kann genauso gut glauben, dass es Gläubige gibt, wie ich glauben kann, dass es keine Gläubigen gibt, glaubte Gott, also glaube ich lieber daran, dass es Gläubige gibt. Daher beschloss Gott der Allmächtige, dass es die Gläubigen gab, einfach so. Denn wenn sich nicht einmal Gott auf den Glauben verlassen konnte, worauf ließ sich dann überhaupt noch vertrauen? Doch mit der Zeit wurde Gottes Glaube an die Gläubigen immer utilitaristischer, oder man-

chmal glaubte Gott, seinen Glauben unbedingt aufrechterhalten zu müssen, allein um das eigene Tun zu rechtfertigen. Das erkennend befand Gott, dass es unzureichend war, den Glauben an die Gläubigen als absolut hinzustellen – umso mehr, als die Gläubigen in keinerlei Hinsicht dem entsprachen, was Gott insgeheim von ihnen erhoffte. Ihr Glaube war weder zweifelsfrei noch unerschütterlich und schon gar nicht glaubten sie, so erkannte Gott schließlich, um Gottes selbst willen an Gott. Die Gläubigen gleich welcher Religion schrieben ihrem jeweilig Gott häufig recht sonderbare Kräfte und Fähigkeiten zu, wollten von Gott gerettet werden, und so weiter - für immer und ewig. Amen, Asalam alaikum, Jah Ribon. Außerdem konnte es einem wie Gott oft so vorkommen, als ob die Gläubigen teilweise nur aus Gründen der Langeweile und Frustration glaubten, oder weil ihnen über die Jahrtausende nichts Besseres einfiel. Weil sie von dem Glauben beseelt waren, dass es etwas Größeres geben müsse, irgendwo da oben im Himmel – und das war dann eben Gott. Ganz gleich, welcher. Aus diesen Gründen fühlte sich Gott zusehends als Lückenbüßer, und der Glaube an die Gläubigen und ihren Glauben geriet immer mehr ins Wanken. Auf seiner Suche nach den Gläubigen begann Gott, die Werke verschiedener Philosophen zu lesen. Nichts ließ Gott aus, in sämtlichen Werken fand er neue Erkenntnisse über sich

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und den Glauben und den Glauben an die Gläubigen und den Glauben an den Glauben der Gläubigen. Weil Gott ob all dieser Gedanken über Glauben und Gläubige jedoch bald einen regelrechten Knoten im göttlichen Kopf hatte und der skeptische Zustand, in dem Gott sich dennoch befand, nicht zufriedenstellend war, währte diese göttliche Phase hoher Philosophie nicht lange. Und dann eines Tages hatte Gott eine Offenbarung (die zweite, um genau zu sein): Gott erwachte, machte die Augen auf, blickte auf die Erde herunter und sah, dass es die Gläubigen, an die Gott so gerne glauben wollte, nicht gab – genausowenig, wie Gott dem Gott entsprach, an dem sich die Gläubigen festhalten wollten. Gott erkannte, dass der Glaube allein in den Köpfen existierte – im göttlichen Haupt, wie auch in den Gehirnen der Gläubigen. Und damit war auch Gottes Glaube an die Gläubigen nicht mehr, als bloß ein subjektives Bild der Wirklichkeit, welches Gott für sich erschaffen hatte. Und nicht real. So wenig wie die Gläubigen. Dieser Art waren die Abgründe der göttlichen Identitätskrise, der göttlichen Zweifel - und schlussendlich auch der göttlichen Angst, für nichts und niemand und zu gar nichts nutze zu sein. Gott hatte ein bedrückendes Tief. Von Schwermut gezeichnet lungerte Gott im Himmelsreich herum, manchmal stand Gott einen ganzen Tag lang nicht auf, dann

wiederum ging Gott tagelang nicht schlafen, sondern irrte bloß umher, wie ein staatenloser Flüchtling. Die göttliche Körperhygiene ließ mehr und mehr zu wünschen übrig, und von Jesus und Maria bis zu den Aposteln machte die Kunde die Runde, dass Gott einem göttlichen Nervenzusammenbruch so nahe war wie weiland bei der Geburt Jesu Christi. Doch Gott wäre nicht Gott gewesen, wenn Gott nicht einen Weg aus der göttlichen Identitätskrise gefunden hätte. Am dritten Tag (Gott hatte eine Vorliebe für dritte Tage) kam es Gott plötzlich, dass das Nichtvorhandensein der Gläubigen durchaus auch gute Seiten haben konnte. Es war im ersten Moment durchaus erschütternd, dass es die Gläubigen, auf die Gott vertraut hatte, nicht gab, und damit auch nicht den Glauben an die Gläubigen, sinnierte Gott, während die Sonne am Himmel aufstieg. Und auch, dass Gott selbst sich die Gläubigen bloß konstruiert hatte, um sich sicherer zu fühlen, um einen Sinn und ein Ziel zu finden im göttlichen Dasein, erschien auf den ersten Blick keineswegs befriedigend. Dann aber dachte Gott: Ich bin und bleibe dennoch ich. Ich bin und bleibe ich – und die Erklärung meiner selbst kommt auch ohne Gläubige aus. Und als Gott weiter darüber nachdachte, fühlte Gott auf einmal eine ungeheure Erleichterung. Befreit von sämtlichen Projektionen auf die ehemals Gläubigen und erleichtert um all die Vorannahmen, was diese von einem Gott erwarteten - oder wie sich ein Gott der-


enthalben zu verhalten habe, fiel ein gewaltiger Druck von Gott ab. In der Feststellung, dass es allein die eigene Erwartungshaltung war, die Gottes Handeln bisher gelenkt hatte, fand sich eine ungeheure Freiheit. Denn war es nicht Gott selbst gewesen, der sich ungeheure Bürden auferlegt hatte? Gott lehnte sich zurück. Mit diesem Wissen um die Nicht-Existenz der Gläubigen ließ sich ein weit besseres Leben führen. Ein Leben ohne all die ungeheure Verantwortung, welche der Glaube an die Gläubigen Gott aufgebürdet hatte, ohne all die Zwänge und Rollen, in die Gott sich selbst gepresst hatte für seinen Glauben. Gott lachte laut auf vor Glück – wie frei Gott nun war, nachdem dieses Konstrukt von Gläubigen, das Gott sich erschaffen hatte, endgültig abgetragen war! Wie Gott nichts und niemandem mehr zu entsprechen hatte, und sich nunmehr bewegen konnte, wie es Gott gefiel. Hört auf zu glauben, und fangt an zu leben!, rief Gott übermütig zur Erde hinunter, um auch die ungläubigen Gläubigen oder gläubigen Ungläubigen an Gottes Erkenntnis teilhaben lassen. Und so geschieht es vielleicht auch irgendwann einmal. Ulrike Komzak, geboren am 15.2.1975 in Wien, lebt und arbeitet auch dort. Studium der Politikwissenschaft und Tätigkeit als freie Mitarbeiterin bei einer österreichischen Nachrichtenagentur.

Monika Dieck Ohne Titel Ohne Religion beginnt ein neues Leben. Ohne Religion bin ich befreit, ihr Götterfunken. Ohne Religion spüre ich mein Herz schneller schlagen. Ohne Religion bin ich der Welt so nah wie nie zuvor. Feuertrunken im Elysium Freude schöner Engelschar. Monika Dieck, geboren1975 in Köln. 1996-2002 Studium in Bonn (Philosophie/Germanistik) und Absolvierung des 1. Examens. 2003-2005 Referendariat und 2. Examen in Kleve. Seit Ende 2005 freiberuflich als Schriftstellerin tätig. 2006 Uraufführung ihres Theaterstücks „Zeitenflüsterer“. Diverse Veröffentlichungen, weitere Infos unter: www.monikadieck.de

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Thom Delißen Das Präsent

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Abungu erwachte, doch sie schlug die Augen nicht auf. Ihre Zunge lag ihr, wie die scharfkantige Scherbe einer Reisflasche, staubtrocken im Mund. Auch an diesem Morgen waren nicht viele Geräusche zu hören, in der kleinen Wellblechhütte, in der Abungu mit ihren Eltern, zwei Geschwistern, und der Nyanya lebte. Das Summen Hunderter von Fliegen, die sie auch im Schlaf mechanisch beiseite wischte, nahm sie nicht wahr. Die Großmutter atmete ihr keuchendes Schnaufen, die Bündel der zwei Kleinen waren vollkommen ruhig. Sie schliefen, seit Tagen schon. Sie öffnete die Augen zu einem kurzen Blinzeln, Vater saß zusammengesunken im Schneidersitz neben der schlafenden Mutter. Sie betrachtete die orange - und lilafarbenen Muster, die vor ihren geschlossenen Augen entstanden. Langsam tauchte sie aus der Umarmung der nächtlichen Schwingen vollends auf, wurde sich der Realität einmal mehr bewusst, öffnete die Lider. „Durst!“ Sie hatte es wohl tatsächlich ausgesprochen. Ihr Vater, das Häuflein Mensch dort auf der Matte, reagierte mit dem Versuch, seine Hand zu heben, um abzuwinken. Doch er war zu schwach. Abungu fiel siedendheiß ein: Heute war ein besonderer Tag! Sie probierte, sich aufzurichten, doch ein heftiger Schmerz in der Magengegend ließ sie

wieder zurücksinken. Sie meinte zu weinen, doch da waren keine Tränen, die sie hätte lecken können. Das Atmen der Nyanya war lauter geworden, hysterischer. Abungu presste ihre dürren Hände gegen die Ohren, um dieses bedrohliche Schluchzen nicht länger zu hören, vergebens. Dann urplötzlich unirdische Stille. Abungu wusste tief in ihrem Inneren, die Großmutter war jetzt über die Wolken gegangen, hin zum Anfang des großen Regenbogens, wo sie mit Löwen und Gazellen spielte und aus klaren Quellen süßes Wasser trank. Heute, an dem 6. Jahrestag ihrer, Abungus Geburt, war die Nyanya von ihnen gegangen. Der Vater kroch mühsam zu der Liegestatt der alten Frau. Sie hörte, wie ihm ein tiefes Stöhnen über die Lippen brach, Nyanya war seine Mutter. Wieder schloss das Mädchen die Augen. Was gab es zu sehen? Die faserigen Sonnenstrahlen in der stickigen Luft? Wenn doch noch ein wenig von dem Reis gestern Abend da wäre! Oder ein Stückchen feuchtes Moos, jenem wunderbaren Gewächs, von dem die Nyanya immer erzählt hatte. Doch Wälder, in denen diese feuchte Pflanze wuchs, kannte Abungu nur aus diesen Schilderungen. Schön mussten sie gewesen sein. Voller Leben, voller Tiere, voller Fröhlichkeit. Wieder spürte sie das Stechen in ihren Därmen. Sie blickte zur Seite.


Kwabena, ihr Vater, lag neben der Toten und jammerte nahezu unhörbar. Die Mutter war ebenfalls erwacht, sich richtete sich auf, kam auf die Knie und rutschte hinüber, um ihn zu trösten. Abungu wollte die Trauer der beiden nicht stören und wagte es nicht, sich bemerkbar zu machen. Eine ganze Zeit lang streichelte die Mutter ihrem Mann Kwabena über den krausen, grauen Kopf, während er mit dem Oberkörper pendelte und leise wimmerte. Endlich erhob sich die vielleicht vierzigjährige Frau, knochendürr, wankend wie ein Grashalm, kramte Abungu gegenüber an der Hüttenwand, wo sich der leere Mehlbehälter befand. Kurz darauf kam sie, sich mühevoll auf den Beinen haltend, zu ihr. Abungu konnte ihren weißen Zähne in dem Zwielicht der jetzt schon brütend heißen Hütte lächeln sehen. “Alles Gute zum Geburtstag, mein Sonnenschein!“ Die Stimme klang liebevoll, doch rau und brüchig. Mit weit aufgerissenen Augen, freudige Überraschung im Gesicht, sah Abungu zu der Blechdose voll brackigen Wassers auf, die ihr die todesschwache Frau hinhielt. “Trink, Kind. Es ist für Dich! Ich habe es für Deinen Geburtstag aufbewahrt!“ Abungu riss ihr, ohne dass sie es gewollt hätte, das Gefäß aus den Händen und schüttete das Nass in sich hinein. Dann erst wurde ihr bewusst, was sie getan hatte.

Zu Tode erschreckt hielt sie sich die Hand vor den feuchten Mund. “Die Anderen?“ flüsterte sie heiser. „Ach meine Tochter, die Kleinen haben alles zu trinken, was sie möchten, weißt Du? Sie schlafen schon so lange.“ Thom Delißen, Jahrgang 63. Geboren in Münster, lebt derzeit in Oberbayern. Verleger und Chefredakteur der Literaturzeitschrift “Schrieb”. Weitere Infos unter: www.tdelissen.de

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www.paraguas.de


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