Forellenquintett

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FORELLEN QUINTETT

LEE, K YLIÁN, SCHLÄPFER


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FORELLENQUINTETT Choreografien von Douglas Lee, Jiří Kylián und Martin Schläpfer

Exklusiver Partner Ballett Zürich

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Inhalt A-Life Douglas Lee Seite 5 Wings of Wax Jiří Kylián Seite 31 Forellenquintett Martin Schläpfer Seite 55 Ballett Zürich Biografien Seite 84

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A-LIFE Douglas Lee

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A-Life  ist die Abkürzung für Artificial Life  und bezeichnet nicht nur einen Forschungszweig, sondern auch eine mit ihm verbundene Kunstrichtung. Darüber hinaus ist der Begriff aber auch auf jede Art einer künstlich erschaffenen Bühnensitua­tion anwendbar. Artificial Life untersucht Lebens- und Entwicklungsprozesse mit Hilfe von Simu­lationen. Einen Widerhall fand der Begriff im Zusammenhang mit der Krea­tion meiner ersten Choreografie für das Ballett Zürich, wo das der Choreo­ grafie zugrunde liegende roboterartige A-Life-Bewegungsmaterial letztendlich eine menschliche, von Emotionen geprägte Struktur annimmt. Zwischen den Elementen eines Systems findet ein Energiefluss statt, aus dem heraus immer wieder neue Eigenschaften entstehen. In einer künstlich erschaffenen Welt stossen Mensch und Maschine, das Digita­le und das Emotionale aufeinander. Dieser Kontrast von Physikalität und Emo­ tio­nalität, das Entstehen von choreografiertem menschlichen Gefühl in einer künstlichen Umgebung ist der Leitgedanke meines Stücks. Douglas Lee

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AUF DER SUCHE NACH VERBORGENEN GESCHICHTEN Douglas Lee erkundet in seinem ersten Stück für das Ballett Zürich den Tanz in künstlichen Welten. Ein Gespräch mit dem englischen Choreografen

Douglas Lee, über viele Jahre waren Sie einer der prägenden Tänzer des Stuttgarter Balletts. Wie haben Sie Ihre Begeisterung für den Tanz entdeckt? An einer Londoner Privatschule, die auf Künste spezialisiert war. Die Hälfte des Tages hatten wir akademischen Unter­richt, aber den Rest des Tages beschäftigten wir uns mit Ballett zwischen Spitzentanz und Jazz Dance, mit Schauspielerei und Gesang. Ich hatte einen Riesenspass an all den künstlerischen Dingen, wobei ich zugeben muss, dass ich den Ballettunterricht am Anfang hasste. Nach drei Jahren ermutigten mich die Lehrer, mit dem Tanzen weiterzumachen, und ich wechselte an die Royal Ballet School. Als ich hörte, dass Reid Andersen Ballettintendant in Stuttgart werden würde, habe ich mich dort beworben. Es war eine dieser Entscheidungen, bei denen einem anfänglich gar nicht klar ist, dass sie das ganze Leben prägen werden. Aber so war es natürlich. Ich bin fünfzehn Jahre in Stuttgart geblieben, bis 2011. Schon während Ihrer Zeit als Tänzer haben Sie begon­nen zu choreogra­ fie­ren. Was war die «Initialzündung»? Wie viele Stuttgarter Tänzer beteiligte ich mich an der «Junge Choreografen»-­ Werkstatt der Noverre-Gesellschaft. Das Tanzen allein hat mich nicht hun­dert­pro­zentig ausgefüllt. Ich hatte das Gefühl, auf andere Art und Weise kreativ werden zu müssen. Wahrscheinlich war da auch der Wunsch, mit

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Tanz etwas auszudrücken, was ich in den Choreografien, die ich bisher getanzt habe, noch nicht gefunden hatte. In Stuttgart wurden ständig Uraufführun­gen gezeigt, und für mich war es aufregend, Teil eines kreativen Prozesses zu sein und Schritte und Bewegungen im Dialog mit den Choreografen zu entwickeln. In Stuttgart haben Sie mit den «Big Names» des moder­nen Tanzes zu­sammengearbeitet. Wie findet man da zur eigenen Signatur? Für einen Tänzer aus England war die reiche deutsche Choreografenlandschaft ein Paradies. Gerade in Stuttgart gaben sich die berühmtesten Choreografen der Welt die Klinke in die Hand. Ikonen wie van Manen, Tetley, Forsythe und Kylián öffneten mir die Augen für die vielen unterschiedlichen Möglichkeiten des Tanzes. Wie beim Erlernen einer Fremdsprache hört man am Anfang sehr auf seine Lehrer, als wolle man sicher gehen, dass man das neue Idiom wirklich fehlerfrei spricht. Aber nach ein paar Stücken kam ich zu dem Schluss, dass ich mich davon frei machen muss, um meine eigene Hand­ schrift zu finden. Inwiefern haben Ihre Rollen als Tänzer diese «Handschrift» beeinflusst? Bei den Stücken aus meiner Zeit als Tänzer spürt man, wie sehr sie von meiner eigenen Art, sich zu bewegen, ge­prägt sind. Was sich für meinen Körper richtig anfühlte, habe ich vorgemacht – und daraus entstand dann meine Cho­reo­grafie. Heute, wo ich älter bin, schöpfe ich mehr aus der Fantasie und entwickle spezifische Ideen für bestimmte Tänzer. In den Proben arbeiten Sie meist mit einem kleinen, ge­heimnisvollen Büchlein. Ist da die jeweilige Choreografie in allen Details festgelegt? In dem Büchlein sind nur die sogenannten Counts, die Zählzeiten für die Tänzer, fixiert. Die musikalische Struktur einer Komposition muss mir völlig klar sein, bevor ich anfange zu choreografieren. Was Bewegungen und Schritte angeht, versuche ich, so flexibel wie möglich zu bleiben. Wenn ich zu Hause alles bis ins letzte Detail planen würde, wäre das keine wirklich neue Kreation für mich. Sicher komme ich mit einer bestimmten Vorstellung

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in den Ballettsaal, aber wenn sich dort etwas entwickelt, was besser oder interessanter ist, habe ich kein Problem, meine ursprüng­liche Idee zu verwerfen. Oft scheint man sich in Ihren Choreografien in einem hieroglyphischen Labyrinth zu bewegen, aus dem kein Ariadne-Faden hinausführt. Ist «Enigma» das Schlüssel­wort? Mich fasziniert, wenn Ballett nicht nur reine Abstraktion ist, sondern mit narrativen Elementen spielt. Die dürfen allerdings nicht glasklar sein, sondern werden erst spannend, wenn der Betrachter seine eigene Imagination ein­ setzen, nach einer verborgenen Geschichte suchen oder Dinge neu zusammen­ setzen muss. Wenn Tänzer regel­recht darum kämpfen, mit Armen, Beinen und ihrem Kopf etwas auszudrücken, dann ist das so, als ob jemand im Ge­spräch um den richtigen Ausdruck ringt. Genauso muss Tanz für mich sein. Klassische Elemente spielen eine wichtige Rolle. Aber wenn ich sie ausreize, denke ich nicht etwa über eine Erweiterung der Grenzen des Balletts an sich, sondern eher über die Verschiebung meiner eigenen Grenzen nach. Das mag egoistisch klingen, doch wenn ich choreografiere, geschieht das nur in meiner eigenen kleinen Welt. Das Thema Ihrer ersten Choreografie für das Ballett Zürich sind Lebens­prozes­se in künstlich erschaffenen Umgebungen. Auf den ersten Blick scheint das ein recht sperriges Thema für ein Ballett zu sein... Auch Theater, Oper und Ballett sind letztlich nichts anderes als künstlich er­schaffene Welten, in denen Gefühle artifiziell erzeugt und sozusagen auf Knopfdruck re­pro­­duziert werden müssen. Mittlerweile gibt es nicht nur einen als «A-Life» (Artificial Life) bezeichneten For­schungs­zweig, sondern auch eine damit verbundene Kunst­richtung. Beide beschäftigen sich mit Lebens­systemen in ihrer Prozesshaftigkeit. Dabei verwenden sie Computer­ simulationen, Robotertechnik und Erkenntnisse aus der Biochemie. Ich habe mir die Frage gestellt, wie eine Installation die Bewegung von Tänzern beeinflussen kann. In meinem neuen Stück bewegen sie sich in einer Box, auf deren Wände verschiedene Formen und Schatten projiziert werden. Es ist aufregend zu beobachten, wie die durch Video bestimmte Veränderung des

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Raumes sich auf die Choreografie und die Qualität der Bewegungen auswirkt. Den uniformen maschinenartigen oder roboterhaften Bewegungen in den grossen Gruppenpassagen werden menschliche Bewegungen für ausgewählte Tänzer gegenübergestellt, die organischer und fliessender wirken. Einer maschinell erzeugten Künstlichkeit steht ein menschlicherer Teil gegenüber, wo drei Tänzer in einer Art Liebesdreieck aufeinander treffen. Wie bei den meisten Ihrer Stücke sind Sie auch hier Choreograf, Bühnenund Kostümbildner in einer Person. Steht da der Wunsch dahinter, nichts dem Zufall zu überlassen? Zusammenzuarbeiten heisst, dass man zu einem sehr frühen Zeitpunkt zu­­sammenkommen muss. Obwohl ich das gern öfter praktizieren würde, finde ich es schwierig. Bereits beim Anhören von Musik entwickeln sich erste Vorstellungen. Vielleicht stelle ich mir schon eine bestimmte Farbe für ein Kostüm vor oder habe eine Idee, wie ich den Raum strukturieren möchte. Mir gibt diese Art des Arbeitens eine grössere Freiheit. Oft überraschen Ihre Stücke durch Ihre aussergewöhn­liche Musikaus­ wahl. Welche Qualitäten muss eine Komposition haben, damit sie Sie zu einer Chorografie inspiriert? Wenn ich beim Hören zu Hause das Gefühl habe, dass ich in den Ballettsaal gehen und daran arbeiten möchte, dann ist es genau richtig. Ich muss mit der ausgewählten Musik ja über einen Zeitraum von mehreren Wochen leben, und so stelle ich mir immer die Frage, ob die erste Faszination nicht schon nach wenigen Tagen verfliegt. Ich arbeite viel mit Minimal Music, bei der ich auch nach mehrmaligem Hören immer wieder neue Dinge entdecke. Doch auch der erste Eindruck muss stark genug sein, denn der Zuschauer sieht ein Stück in der Regel ja nur ein einziges Mal. Mein Musikgeschmack ändert sich, je älter ich werde. Viele Kompositionen aus früheren Stücken würde ich heute wahrscheinlich nicht mehr verwenden. Und die Aussicht, dass ich in zehn Jahren sicherlich wieder ganz andere Musik verwenden werde als im Moment, macht mich glücklich. Noch mehr als zwischen verschiede­nen Genres zu wechseln, interessiere ich mich meist für einen einzelnen Komponisten

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oder eine Komponistengruppe. Ich finde etwas in einem Stück, das mir gefällt, und das führt mich fast automatisch zum nächsten. Aber nach fünf, sechs Balletten in Folge gibt es meist eine komplette Neuorientierung. Wo finden Sie die thematische Inspiration? In vielen meiner Stücke reflektiere ich meine eigene Vergangenheit. Obwohl mich viele Dinge interessieren, spielt meine Kindheit wohl eine entscheidende Rolle. In IRIS, meiner Choreografie für das Junior Ballett, gibt es beispielsweise diesen Verweis auf die Spieldosen meiner Kinderzeit. Man blickt auf Dinge zurück und versteht, warum man einst fasziniert von ihnen war oder sieht sie heute in einem anderen Licht. Kreativität hat viel mit Spielen zu tun, dieser «sense of play» und die Freude an einer Sache sind mir sehr wichtig. In Ihren Choreografien begegnet man immer wieder skulpturalen Ele­menten und aufs komplizierteste ineinander verschlungenen Tänzer­ leibern. Entspringen diese Konstellationen Ihrer Fantasie oder haben sie ihren Ursprung im «richtigen Leben»? Als Tanzpartner vieler Ballerinen hatte ich reichlich Ge­legen­heit, sie ausgiebig zu studieren und zu beobachten – ihre Körper, ihre Art, sich zu bewegen. Mit einer be­freundeten Tänzerin habe ich dann ein Stück entwickelt, in dem ich erstmals versucht habe, Tänzer unter einem skulpturalen dreidimensionalen Blickwinkel zu sehen. Die vielen verschiedenen Körperausrichtungen, zu denen Tänzer in der Lage sind, liessen mich den Körper mehr als Skulptur und nicht notwendigerweise als mensch­li­ches Wesen begreifen. Man könnte von einem physischen Äquivalent zum Dramatisch-Sein sprechen. Aber letzten Endes werden die «Skulpturen» immer in Bewegung aufgelöst. Ich liebe es, Phrasen zu entwerfen und dann zu­rückzugehen und an Details zu arbeiten. Das ist, als wenn man etwas vergoldet oder mit dem ganz feinen Pinsel arbeitet. Wie erleben Sie die Arbeit mit den Zürcher Tänzern? Besonders gefällt mir, wie individuell sie sind. Als Choreograf muss man ein Gespür dafür entwickeln, wie man seine Wünsche einem Tänzer vermittelt.

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Bei manchen muss man sehr definiert und körperlich arbeiten, bei anderen hilft ein mehr improvisatorisches Herangehen. Ich arbeite hier viel gross­flä­chi­­ger und mit stärkerer Besetzung als sonst und sehe mit grosser Freude, wie die kleineren menschlichen Pas de deux und Solos im Kontrast zu den «automatisierten» Gruppenstücken ganz anders zur Geltung kommen Manche Tänzer haben eine ganz un­verwechselbare Art, sich zu bewegen. Mit Katja Wünsche, Viktorina Kapitonova und Juliette Brunner habe ich Tänzerinnen mit drei ganz unterschiedlichen Quali­­tä­ten, die zu dem Stück passen und die ich in der Cho­reografie prominent herausstellen möchte. Viktorina Kapitonova zum Beispiel ist sehr emotional in der Aussage ihres Körpers, während Juliette Brunner diese faszinierende Echsenhaftigkeit hat. Zu erleben, wie sich die Tänzerinnen und Tänzer mein neues Stück zu eigen machen, begeistert mich jeden Tag aufs Neue. Das Gespräch führte Michael Küster

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SCIENCE FICTION? VON WEGEN! Ingo Neumayer

Künstliche Intelligenz ist erst in ferner Zukunft von Bedeutung? Intelligente Systeme findet man bislang höchstens in Forschungslaboren? Falsch gedacht. Auch heute schon sind wir in unserem Alltag von intelligenten Maschinen und Computern umgeben. Und es werden immer mehr.

Fotografieren und Filmen Nahezu jeder Fotoapparat und jede Videokamera hat heute Elemente der Künstlichen Intelligenz (KI) in sich. Die Kameras messen mit Sensoren die Helligkeit und passen Blende und Verschlusszeit darauf an. Wenn es zu dunkel ist, wird automatisch der Blitz ausgelöst. Digitalkameras stellen selbstständig die Schärfe für Bereiche ein, die sie für wichtig halten. Die Erkennung von Personen hat ebenfalls grosse Fortschritte gemacht. Moderne Kameras erkennen Gesichter und fokussieren diese selbstständig und lösen teilweise erst dann aus, wenn die fotografierte Person lächelt. Auch geschlossene Augen werden von manchen Kameras erkannt. Der Fotograf erhält dann sofort einen Hinweis und hat die Möglichkeit, noch einmal auf den Auslöser zu drücken. Die Kamera der Zukunft, so die Prognosen, wird viele Schritte, die man heute nachträglich mit dem Bildbearbeitungsprogramm am Rechner macht, selbstständig durchführen. Sie korrigiert Unschärfen und hebt Kontraste hervor, färbt rote Augen um und korrigiert sogar Hautunreinheiten. Auch die Sortierung und das Wiederfinden von digitalen Bildern soll erheblich vereinfacht werden. Die Kamera versieht die Bilder automatisch mit wichtigen Schlagwor-

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ten, erkennt die Personen darauf und ermittelt mittels GPS (Global Positioning System) den Aufnahmeort. So lässt sich später leichter das Bild finden, auf dem «Lukas» im «Korsika»-Urlaub in «blauer Badehose» ins «Meer» gesprungen ist.

Assistenten im Auto und auf der Strasse In modernen Autos wird inzwischen eine Vielzahl von KI-Technologien angewendet. Sensoren messen Temperatur, Strassenzustand und den Abstand zu anderen Autos und ermahnen den Fahrer, seine Geschwindigkeit anzupassen. Wenn er die Hinweise ignoriert, greift das System direkt ein und bremst ab, um einen Unfall zu verhindern. Intelligente Lichtsysteme leuchten die Fahrbahn in Kurven optimal aus und schalten je nach Verkehrslage das Fernlicht ein und aus. In manchen Autos wird die Fahrspur mit Infrarotsensoren abgetastet, die den Sitz vibrieren lassen, sollte man die Fahrbahn verlassen. In der Oberklasse werden auch Wärmekameras mit Personenerkennung für Nachtfahrten eingebaut. Und es gibt immer mehr Kameras, die den Verkehr beobachten: Sie registrieren Verkehrsschilder, helfen beim Einparken oder dabei, automatisch den Abstand zum Vordermann zu halten. Anti-Blockier-Systeme für die Räder und Bremsassistenten, die den Bremsweg verkürzen, gehören bei Neuwagen schon längst zum Standard. Doch nicht nur das Fahrzeug selbst, auch der Verkehr wird mit KI-Systemen gesteuert. So erfassen auf viel befahrenen Autobahnen Sensoren in der Fahrbahn oder in Kameras am Strassenrand den Verkehr. Sie helfen so, den Verkehr durch Geschwindigkeitsbegrenzungen, Warnhinweise oder Umleitungsempfehlungen flüssiger zu gestalten. Auch in Städten werden an Ampeln immer öfter Anforde­ rungssysteme installiert, die erst auf Grün schalten, wenn auch tatsächlich Fahrzeuge warten. Die Zukunft dieser Steuerungsmöglichkeiten könnte so aussehen, dass ein Zentralrechner die Daten aller Autos in einem bestimmten Bereich er­ fasst und so schneller Hinweise auf mögliche Staus oder schlechtes Wetter geben kann. Auch Autos ohne Fahrer sind denkbar. Prototypen solcher autonomer Autos sieht man manchmal auf den Strassen Berlins, wo die Freie Universität ein entsprechendes Forschungsprojekt durchführt.

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Die Suchmaschine weiss, was ich will Eine Situation, die jeder von uns kennt: Ich suche eine Strasse bei Google, und noch bevor ich «Mozartstrasse, Köln» fertig getippt habe, bietet mir die Suchmaschine den korrekten Begriff an. Oder ich gebe nur «Mozartstrasse» ein und bei den ersten Treffern wird die Kölner Mozartstrasse aufgeführt und nicht die in Essen, Stuttgart, Regensburg oder Künzelsau. Die automatische Ergänzung funktioniert deshalb, weil sich der Computer meine vorherigen Suchen – etwa in der Routenplanung – speichert und daraus schliesst, dass ich in Köln wohne. Entsprechend wahrscheinlicher ist es für ihn, dass ich die Kölner Mozartstrasse suche und nicht die in Wiesbaden. Ein weiterer Faktor der «Intelligenz» der heutigen Suchmaschinen basiert darauf, dass viele Begriffe zusammen gesucht werden. So bietet Google Anfang 2013 «Twitter» als ersten ergänzenden Vorschlag an, wenn man «Boris Becker» eingibt. Das liegt daran, dass Becker inzwischen mehr Aufmerksamkeit durch seine Tweets als durch seine Tennis-Vergangenheit erregt. Das spiegelt sich auch in den Suchanfragen und den entsprechenden Ergänzungsvorschlägen wider. Wie genau die Algorithmen aussehen, nach denen Suchmaschinen wie Google funktionieren und personalisierte Suchergebnisse und Vorschläge ausspucken, ist ein gut gehütetes Geheimnis.

Vom Callcenter zu Siri «Es tut mir leid, ich habe Sie nicht verstanden! Bitte wiederholen Sie Ihre Antwort.» Jeder kennt die Computerstimmen, die einen beim Anruf in Callcentern schier in den Wahnsinn treiben, weil sie auch beim dritten Mal das einfache Wort «Rechnung» nicht verstehen. Ganz anders die Situation bei modernen Smartphones: Dort vollbringen Sprachassistenten Höchstleistungen. Sie verfassen Mails und Notizen, die man ihnen diktiert, tragen Termine ein und rufen in der Kita an. Aber wieso funktioniert das eine System so erstaunlich gut und das andere sorgt ständig für Klagen? Der Unterschied liegt vor allem darin, dass die Systeme in Callcentern auf viele verschiedene Benutzer eingestellt sind und die

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Informationen über die Telefonleitung meist in minderer Qualität ankommen. Spracherkennungen wie Apples Siri oder die Sprachsuche von Android sind dagegen direkt mit dem Benutzer verbunden, der in der Regel immer derselbe ist. Ausserdem sind sie lernfähig und bei häufigem Gebrauch immer besser in der Lage, die sprachlichen Eigenheiten des Benutzers zu erkennen.

Der Computer als Übersetzer Nicht nur das gesprochene, auch das geschriebene Wort wird von Computern immer besser verarbeitet. Es gibt im Internet jede Menge kostenlose Über­set­ zungs­programme, die einen Text zumindest so gut übersetzen können, dass man seinen Sinn in etwa versteht. Das Problem dieser Programme ist logischerweise nicht die Bedeutung eines Wortes; Computer können problemlos tausende Wörter­bücher speichern und darauf zurückgreifen. Kompliziert wird es bei Gram­ matik, Satzbau und Sprachstil. Eine Möglichkeit ist ein Übersetzungs­speicher mit häufigen Formulierungen und deren Übersetzungen, auf den das Programm zurückgreifen kann. Doch auch wenn die Übersetzungsprogramme immer besser werden und vor allem die Kaufversionen inzwischen weit mehr leisten können als Gratisprogramme wie Babelfish : Bis ein Computer einen Text so gut und genau übersetzt wie ein Mensch, werden noch Jahrzehnte vergehen – wenn über­haupt.

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DOUGLAS LEE Choreograf

Douglas Lee stammt aus England. Seine Ballettausbildung absolvierte er an der Arts Educa­tional School London und an der Royal Ballet School, die er 1996 abschloss und dabei mit dem Alicia Markova Award ausgezeichnet wurde. 1996 wur­de er Mitglied des Stuttgarter Balletts, wo er in der Saison 2001/02 zum Halb-Solisten und ein Jahr später zum Solisten ernannt wurde. 2002 erfolgte die Ernennung zum Ersten Solisten. Sein Repertoire umfasste Titelrollen in Onegin (Cranko), Romeo und Julia (Cranko), Apollo (Balanchine) und Edward II. (Bintley). Ausserdem tanzte er Armand Duval (Die Kameliendame; Neumeier), Albrecht (Giselle; Anderson/Savina) sowie weitere Hauptrollen in Balletten von Balanchine, Forsythe, Kylián, MacMillan, Robbins, Tetley und van Manen. 1999 gab Douglas Lee sein Debüt als Choreograf in der Reihe «Junge Cho­reografen» der Stuttgarter Noverre-Gesellschaft und erhielt danach den Auftrag für eine neue Choreografie für das Stuttgarter Ballett. Am New York Choreographic Institute arbeitete er zweimal mit Tänzern des New York City Ballet. Bis 2010 entstanden für das Stuttgarter Ballett Choreografien wie Viewing Room, Dummy Run, Leviathan und Nightlight. In seiner Zusammen­arbeit mit dem Stuttgarter Ballett fand Douglas Lee zu einer unverwechselbaren cho­ reo­grafi­schen Sprache. Seit 2011 ist er international als freischaffender Choreograf tätig. Seine für das Stuttgarter Ballett entstandene Cho­reo­grafie Fanfare LX wurde vom Staatsballett Ber­lin über­nommen. Weitere Arbeiten waren Fractured Wake und 5 for Silver für das Norwegische Nationalballett, Rubicon Play für das Königliche Ballett Flandern, Lifecasting für das New York City Ballet (Übernahme ans Stutt­­garter Bal­lett), Miniatures für das Stuttgarter Ballett, Souvenir für das Ballett Perm (No­minierung für die «Goldene Maske»), Legion für das Nederlands Dans Theater, The Fade für das Ballett Mainz, Doll Songs für das Ballett Nürnberg und Piano Piece für das Ballett Dortmund.

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Daníel Bjarnason/Ben Frost Komponisten Daníel Bjarnason (*1979) stammt aus Island. In Reykjavik studierte er Klavier, Komposition und Dirigieren. An der Musikhochschule in Freiburg (Breisgau) setzte er seine Studien fort. Seine Kompositionen führte er u.a. mit dem Los Angeles Philharmonic Orchestra, dem Ulster Orchestra, der Britten Sinfonia und dem Nieuw Ensemble Amsterdam auf. 2010 arbeitete er mit dem Australier Ben Frost (*1980) zusammen. Dieser heute in Reykjavik lebende Komponist ist mit Minimal Music und experimentellen Kompositionen bekannt geworden. Er hat mit zahlreichen Tanzformationen und Choreografen zu­sammengearbeitet, u.a. mit Chunky Move, der Icelandic Dance Company und dem englischen Choreografen Wayne McGregor. Inspiriert von dem gleichnamigen Roman Stanislaw Lems und dem Film von Andrej Tarkovsky, komponierten Bjarnason und Frost Solaris für Streichorchester, Percussion, präpariertes Klavier und Elektronik.

Mary Ellen Childs Komponistin Mary Ellen Childs, geboren 1957, ist eine amerikanische Komponistin und Multimedia-Künstlerin. Als Gründerin des Ensembles «Crash» verbindet sie in ihren «Visual Percussion Pieces» auf originelle Weise Musik, Tanz und Theater. Sie komponierte für den Akkordeonisten Guy Klucevsek, das Kronos Quartett, das Ethel String Quartet, das Saint Paul Chamber Orchestra, die Black Label Movement Company und das Nautilus Music Theater. Ihre Werke wurden u.a. im Walker Art Center, beim «Bang On A Can Festival», im New Yorker Lincoln Center, beim Festival «New Music America» in Miami und beim «The Other Minds Festival» in San Francisco aufgeführt.

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Phil Kline Komponist Phil Kline ist ein amerikanischer Komponist und Sound-Künstler. Aufgewachsen in Akron (Ohio), studierte er an der Columbia University in New York. Er gründete die New Wave-Band «The Del-Byzanteenes» und spielte Gitarre im Glenn Branca Ensemble. Wichtige Kompositionen sind das Weihnachtsstück Unsilent Night, der Liederzyklus Zippo Songs, der mit Mustern der Minimal Music operierende Zyklus The Blue Room and Other Stories für das Ethel String Quartet und die Theatermusik Locus solus nach dem Roman von Raymond Roussel. Ausserdem entstanden Kompositionen für die Vokalformation «Lionheart», die Choreografin Wally Cardona und das St. Luke’s Chamber Ensemble. Zusammen mit Jim Jarmusch schreibt Kline zur Zeit an der Oper Tesla in New York.

Frank Henne Komponist Frank Henne studierte Elektrotechnik in Esslingen. Nach einem Aufenthalt in Australien gründete er mit zwei Designern das New Media- und Designbüro «Jealouskid» in Stuttgart. Er schuf Musik für Werbeclips und eigene Kompositio­ nen im Bereich der elektronischen Musik. Eine enge Zusammenarbeit verbindet ihn mit dem Choreografen Douglas Lee. Für ihn entstand Musik zu den Ballet­ ten Fractured Wake, Rubicon Play, Viewing Room, Dummy Run, Leviathan, Nightlight, 5 for Silver, Miniatures  und IRIS.

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WINGS OF WAX Jiří Kylián

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Jiří Kyliáns ChoreografieWings of Wax ent­stand 1997 für die Tänzerinnen und Tänzer des Nederlands Dans Theaters, dessen Profil der tschechische Choreograf fast drei Jahrzehnte lang ge­prägt hat. Die Schwingen aus Wachs, die der Titel beschwört, bezie­hen sich auf den Mythos von Ikarus, der auf der Flucht mit seinen durch Wachs zusammengehal­ tenen Flügeln der Sonne zu nahe kam und ins Meer stürzte. Inspiriert wurde Kylián von einem Gedicht des englischen Dichters W. H. Auden. In Musée des Beaux Arts  meditiert er angesichts des Ge­mäl­des Landschaft mit dem Sturz des Ikarus von Pieter Brueghel über «das schreckliche Martyrium» des Jünglings und muss desillusioniert feststellen, dass das Leben auf der Erde ungerührt weitergeht – auch ohne Ikarus. Das Bühnenbild von Michael Simon erinnert an einen auf den Kopf gestell­ ten Kosmos: Unablässig umkreist ein Scheinwerfer im gegenläufigen Uhrzeiger­ sinn einen aus dem Schnürboden in umgekehrter Richtung herabragenden Baum. In vier Abschnitten zu einer passacagliahaften Mysterien-Sonate für Solo­ vio­line von Heinrich Ignaz Franz Biber, einer kurzen Passage aus John Cages Meditationsmusik für präpariertes Klavier, einem Satz aus dem Streichquartett Nr. 5 von Philip Glass und einer Streicherfassung der 25. Variation aus Bachs Goldbergvariationen  lässt Kylián aus dem Dunkel heraus vier Paare in Ganz­ körpertrikots von Joke Visser auftreten. In unterschiedlichen Gruppierungen – meist als Pas de deux, wenigen Soli, nur ausnahmsweise auch als kollektives Ensemble – zelebrieren sie ihre meist zeitlupenhaften skulpturalen Figurationen, wo­bei die nackten Arme oft wie Körperzweige in den Raum ragen. Bei nur spar­ sam arrangierten raschen Sequenzen und Sprüngen fügen sich die Bewegungen zu einer ritualhaften Aktion, die – inspiriert vom unablässig wiederholten musi­ kalischen Motiv der Rosenkranz-Sonate von Biber – eine mysterienhafte Atmosphäre der Unausweichlichkeit beschwört. Michael Küster

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W.H. Auden

Musée des Beaux Arts Was immer das Leiden angeht und seinen Rang – die Alten Meister, da sahn sie durch! Wie die verstanden, es einzuordnen ins Menschenleben. Und wie so was abläuft, das Unerhörte, indessen irgendwo wer am Futtern ist Oder öffnet grad wo ein Fenster Oder schlendert gelangweilt wohin – oder aber, wenn in Ehrfurcht die Alten Und inbrünstig harren auf die Wunderheilige Die Geburt Dann sind da immer auch noch Kinder und Gar nicht ergriffen von dem, was passiert Wenn sie leicht hingleiten auf ihren Kufen Über das Eis, hart am Gehölz übern Weiher Die Alten Meister, so was wussten die eben: Grad das Martyrium, das Schauderschlimme Geht seinen Gang nebenbei in einer gammligen Ecke, wo Hunde hinleben, wie Hunde halt leben Wo des Folterknechts Gaul sich am Baumstamm Schubbert das schuldlose Hinterteil Nimm nur den ICARUS, den von Breughel Sieh, wie da alles sein‘ Gang geht, gemach – Katastrophen, wen kümmern die gross Der Pflüger da hat es womöglich gehört Wie der Körper aufschlug aufs Wasser, den Abgegurgelten Schrei. Ach, der unerhörte Fall – für ihn war‘s eben keiner. Die Sonne Was soll sie auch anders, sie schien auf Beine, weisshäutige, wie grad des Wassers Grün sie verschluckt. Noch auch das kostbare Kauffahrerschiff, sah da kein Aas denn Nicht irgendwiewowas Erstaunliches geschehn: Ein Junge! wie er kippt aus dem Himmel... Nichts. Es ist auf dem Weg nach irgendwohin – und segelt gelassen davon. 39


MAKE A STORY FOR YOURSELF! Roslyn Anderson tanzte in vielen Kylián-Produktionen des Nederlands Dans Theaters und studiert heute weltweit die Werke des tschechischen Choreografen ein

Roslyn Anderson, warum ist Jiří Kylián so zurückhaltend, wenn es um Kommentare zu seinen Stücken geht? Kylián war und ist es sehr wichtig, die Sichtweise des Zuschauers auf seine Choreografien nicht durch Erklärungen zu beeinflussen. Das Publikum ist auf­gefordert, seine eigene Interpretation zu finden. So verschieden die Zuschauer sind, so individuell werden sie empfinden und auf die verschiedenen Aspekte des Bühnengeschehens reagieren. Sie haben die Karriere Jiří Kyliáns fast vierzig Jahre lang begleitet, von 1972 bis 1986 als Tänzerin im Nederlands Dans Theater und seither als Ballettmeisterin. Welche Erinnerungen haben Sie an die ersten Be­­­geg­nungen mit Jiří Kylián? Da war zunächst einmal seine grosse und schlaksige Statur, die die Blicke auf sich zog. Bei seiner ersten Choreografie für das NDT wollte er, dass wir uns wahnsinnig schnell bewegen. Wir sollten auf Spitze tanzen, doch wir konnten ihn davon überzeugen, dass wir in Schläppchen eine weitaus grössere Ge­ schwin­digkeit als in Spitzenschuhen erreichen und uns viel freier be­wegen würden. Bevor ich zum NDT kam, hatte ich in sechs Jahren beim Australian Ballet bereits einige schöne Sachen getanzt und mit einer Reihe von Choreografen gearbeitet. Die Begegnung mit Kylián kann ich nur mit einem Schock ver­glei­chen. Ich empfand das damals als totalen Kontrast zu allem, was ich bis dato getanzt hatte und war be­­geistert, wie organisch, fliessend und musikalisch die Bewegungen waren, die Kylián kreierte. Er war keiner von den Choreo­

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grafen, die einem gleich am An­fang mitteilen, was man zu fühlen hätte. Wie sein Publikum hat er auch uns Tänzer die eigene Reaktion, das eigene Gefühl für die jeweilige Musik und die entsprechenden Schritte finden lassen. Das war sehr aufregend und damals eine echte Herausforderung. Es gibt keine Kylián-Technik, dennoch kann man eine Kylián-Choreogra­ fie unter Hunderten erkennen. Was sind typische Elemente? Zwischen den Stücken, die ich mit ihm getanzt habe, und seinen jüngeren, viel mehr mit dem Element der Improvisation spielenden Balletten liegen fast vierzig Jahre. Was all seine Choreografien auszeichnet, ist ihre Musikalität, ihre choreografische Finesse und Präzision. Ganz wesentlich ist die Beziehung zwischen den auf der Bühne agierenden Tänzern. Immer wieder stellt sich die Frage: Mit wem tanzen wir? Es gibt immer Be­ziehungen, Verbindungen. Wings of Wax war das letzte Stück, bei dem ich Kylián assistiert habe, seither hat sich sein Stil in eine cineastische Richtung entwickelt. Wichtige Ausdrucksmittel, die einen Wiedererkennungswert haben, sind beispielsweise die kleinen typischen Kylián-Bewegungen des Verbergens, die leicht gewinkelte Hand vor einem Auge, einer Gesichtshälfte, der Kopf zwischen zwei Händen oder das Paar, das am Ende Richtung Hintergrund schreitet. Und ganz sicher war Kylián einer der ersten Choreografen, der mit der Ausdruckskraft von Rückenansich­ten seiner Tänzer experimentierte, u.a.am Beginn von Symphony of Psalms, in Forgotten Land, am Schluss von Sinfonietta. Der Rücken wird unverzichtbar für den Gefühlsausdruck. Inwieweit sieht man in den frühen Stücken schon den späteren Cho­reografen? In den jüngeren Stücken findet man Phrasierungen, die man bereits in älteren Werken beobachten konnte. Kyliáns Weg führte von einer mehr romantischen Periode in eine abstrakte Phase, wo vor allem der Einsatz des Lichtes eine ganz neue Bedeutung gewann. In den sogenannten «Schwarz-­Weiss-­Balletten» definierte er die Bühne allein durch den gezielten Einsatz von Licht. Der Ver­zicht auf jedes Dekor führte zu der im Grunde simplen Kombination von Black Box und Licht.

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Im Laufe der Jahre haben sie Kyliáns Ballette mit mehren Generationen von Tänzern einstudiert. Wie unterscheiden sich die heutigen Tänzer von denen Ihrer Generation? Sie haben eine ausgefeiltere Technik und ein Bewusstsein für das, was sie können. In den späten 70er Jahren waren wir technisch ganz sicher nicht so stark wie die meisten Tänzer hier, aber wir hatten das Glück, diese Offenbarung durch Kylián und seine Ballette aus erster Hand mit­zuerleben. Wir haben damals alles Menschenmögliche versucht, um seine choreografischen Vorstellungen zu realisieren. Heute geht man ins Internet und ist mit ein paar Klicks bei Wings of Wax  oder jedem anderen Ballett. Dieses Sich-Anstrengen-­ Müssen, um etwas zu sehen und zu erleben, ist weniger geworden. Was sollte ein Tänzer, der Kylián tanzt, unbedingt verstanden haben? Er sollte die Bedeutung finden, die hinter jedem Schritt steht. So wie Kylián sein Publikum zu individuellen Reaktionen ermutigt, sagt er auch zu den Tänzern: Make a story for yourself! Was bedeutet dieser Schritt für dich? Finde es heraus, denn erst dann wird dieser Schritt, diese Bewegung für dich einen Wert bekommen. Musikalität hat höchste Priorität: die Musik zu verstehen und sie im Inneren des Körpers zu spüren. Es ist mehr als Schrittmaterial, man muss zu Herz und Seele eines Stückes vordringen. In Wings of Wax bezieht sich Kylián auf W. H. Audens berühmtes Gedicht Musée des Beaux Arts. Aber im Grunde ist es ja eine von Kyliáns Ge­schichten, «ohne Geschichten zu erzählen». Das Gedicht führt zum Titel des Balletts und zu Brueghels Landschaft mit Sturz des Ikarus, das eines von Kyliáns Lieblingsbildern ist. Den Titelhelden muss man dort regelrecht suchen, weil das Leben so völllig unbeeindruckt von seinem Sturz weitergeht. Ein wunderbares Bild, das uns unsere eigene Bedeutungslosigkeit vor Augen führt. Wir sind nichts im grossen Weltgetriebe, Bedeutung ist nur eine Fiktion. Die «Wings» reflektieren das Fliegen: Jeder Mensch möchte das, und Tänzer ganz besonders. Sie stehen auf Spitze, springen in die Luft. Aber je höher man springen will, desto fester muss der Bodenkontakt sein. Und das Landen, das Fallen gehört natürlich dazu.

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Was macht Wings of Wax innnerhalb von Kyliáns Werk zu etwas Be­ sonde­rem? Die Musikzusammenstellung fasziniert mich immer wieder. Diese Mischung aus Biber-Sonate, Cage, Glass-Quartett und Bach. Fast unmerklich gleitet man vom 17. ins 20. Jahrhundert. Aber auch das Bühnenbild, das die Idee des Lebenbaums mit dem Tod, dem Sturz des Ikarus verbindet, ist von grosser Eindrücklichkeit. Da ist der den Baum umrundende Scheinwerfer, der an die sich unablässig weiter drehende Erde erinnert und sein Tempo in Abhän­gig-­ keit vom Geschehen auf der Bühne verändert. Und da sind die Arme der Tänzer, die sich wie Äste dem Lebensbaum entgegenrecken. Als Einstudierende tragen Sie eine grosse Verantwortung. Sehen sie die Gefahr, dass es sich bei Ihren Einstudierungen irgendwann um «Kreatio­nen von Roslyn Anderson nach Jiří Kylián» handeln könnte? Im Laufe der Jahre habe ich gelernt, Gefühle auszudrücken, von denen ich weiss, dass es Jiřís Gefühle wären. Wenn er in den Ballettsaal käme, würde er den Tänzern wahrscheinlich die gleichen Dinge sagen wie ich. Ich drücke den Werken keinen Roslyn-Anderson-Stempel auf. Ich habe Jiří assistiert, als er dieses Stück kreiert hat, und versuche heute, seinen ursprünglichen In­tentionen so nahe wie möglich zu kommen. Allerdings habe ich nicht selbst in diesem Stück getanzt und deshalb natürlich keine physische Erinnerung an diese Choreo­grafie. Vielleicht würde ein Tänzer noch eine andere Dimension in die Ein­studierung hineinbringen. Welche Bedeutung haben seine früheren Arbeiten für Jiří Kylián? Ich erlebe ihn immer sehr bewegt, wenn er eines seiner älteren Ballette sieht. Ungeachtet einer natürlichen Distance, ist er manchmal von der Qualität der eigenen Stücke regelrecht überrascht. Er lehnt diese Arbeiten keineswegs ab, aber er geht neue Wege, interessiert sich sehr für den Film und will diesen Aspekt seiner Kreativität weiterentwickeln. Wir stehen in regelmässigem Kontakt, und wir sind ein Jahrgang. Das verbindet! Das Gespräch führte Michael Küster

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Der Dialog in meinem Werk ist immer heftiger und freier geworden; manchmal intimer, manchmal brutaler. Es ist eine bleibende Suche nach neuen Formen einer persönlichen Ausdrucksweise, wobei das Publikum einer der wichtigsten Faktoren ist. Das Publikum muss sich kreativ an der Vorstellung beteiligen: sich anstrengen, um mit den eigenen Erfahrungen das, was es auf der Bühne sieht, zu vervollständigen. Jeder für sich... Jiří Kylián


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JIŘÍ KYLIÁN Choreograf

Jiří Kylián wurde 1947 in Prag geboren und be­gann seine Ballettausbildung an der Schule des dortigen Nationaltheaters im Alter von neun Jahren. Mit fünfzehn wurde er ins Prager Konservatorium aufgenommen. Ein Stipendium des British Coun­cil ermöglichte Kylián 1967 ein Studium an der Royal Ballet School in London. Ein Jahr später wurde er Mitglied des Stuttgarter Balletts. Als erste choreografische Arbeit entstand Paradox für die Noverre-Gesellschaft. Nach drei Stücken (Viewers, Stoolgame und La Cathédrale Engloutie) für das Nederlands Dans Theater wurde er 1975 Künstlerischer Direktor der in Den Haag be­heimaten Compagnie. Den internationalen Durchbruch brachte 1978 sein Werk Sinfonietta zur Musik von Leoš Janáček. Aus seiner Zusammenarbeit mit dem Nederlands Dans Theater sind bis heute über 100 Choreografien entstan­ den, die mittlerweile auf der ganzen Welt zu sehen sind. Kylián choreografierte nicht nur für das NDT, sondern auch für das Stuttgarter Ballett, das Ballett der Pari­ser Oper, das Bayerische Staatsballett, das Schwedische Fernsehen und das Tokyo Ballett. Neben seiner choreografischen Arbeit schuf er auch neue Struktu­ ren inner­halb des NDT. Zusätzlich zu dem bereits renommierten NDT I grün­ de­te er 1978 das NDT II, eine jüngere Compagnie, die jungen Tänzern den Ein­stieg ins Berufsleben ermöglicht, und 1991 das NDT III, das in der Tanzge­ schichte eine Vorreiterfunktion übernahm, da es erstmals eine Compagnie für sehr erfahrene Tänzer und Tänzerinnen über 40 darstellte. 1999 zog sich Jiří Kylián von der Position des Direktors zurück, gab allerdings die enge künst­le­ri­ sche Verbindung zum NDT nicht auf. Bis Dezember 2009 war er der Compag­nie weiterhin als Hauschoreograf und künstlerischer Berater verbunden. Jiří Kylián hat mit namhaften internationalen Künstlern zusammengearbeitet, u.a. mit den Komponisten Arne Nordheim (Ariad­­ne, 1997), Toru Takemitsu (Dream Time, 1983), den Designern Walter Nobbe (Sinfoniet­ta, 1978), Bill Katz (Symphony of Psalms, 1978), John Macfarlane (Forgotten Land, 1980), Michael Simon (Stepping Stones, 1991), Atsushi Kitagawara (One of a Kind, 1998), Susumu

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Shingu (Toss of a Dice, 2005) und Yoshiki Hishinuma (Zugvögel, 2009). In Zu­ sammenarbeit mit dem Filmregisseur Boris Pavel Conen entstand 2006 vor der Kulisse eines tschechischen Braunkohletagebaus der Film CAR MEN. Für den Film Between Entrance & Exit wurde er 2013 beim Holländischen Filmfestival in Utrecht für den «Gouden-Kalf-Preis» nominiert. Für die Triennale im japani­ schen Nagoya entstand die Tanz-Film-Produktion East Shadow, die den Opfern des Tsunami von 2011 gewidmet war. Für sein Werk wurde Jiří Kylián mehrfach ausge­zeichnet. Er ist Offizier des Ordens von Oranje-Nassau, Ritter der franzö­ sischen Eh­ren­le­gion und Ehrendoktor der Juilliard School in New York. Zwei Mal erhielt er den Prix Benois de la Danse, drei Nijinsky-Preise mit dem NDT (Bester Choreograf, Beste Compagnie, Bestes Stück), die Ehrenmedaille des Präsi­denten der Tschechischen Republik und 2008 die Ehrenme­daille des Ordens von Oranje-Nassau. 2011 wur­de ihm vom tschechischen Kulturministe­rium der «Lifetime Achievement Award» verliehen.

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Michael Simon Bühnenbild und Lichtgestaltung

Michael Simon arbeitet als Bühnenbildner und Lichtdesigner für Oper, Tanz und Schauspiel seit 1983 unter anderem für William Forsythe, Jiří Kylián, Pierre Audi, Christof Nel, Peter Greenaway, Stefan Pucher und Stefan Bachmann in Amsterdam, Berlin, Frankfurt, Los Angeles, Madrid, Paris, New York, Oslo, Peking, Tokio und Zürich. Als Regisseur kooperierte er zuerst mit Heiner Goebbels 1990 am TAT Frankfurt, um ab 1992 in den Sparten Schau­spiel und Oper an Theatern in Basel, Berlin, Bonn, Bremen, Düsseldorf, Dresden, Frankfurt, Hannover, Karlsruhe, München, Paris und Wien zu inszenieren. Seit 2008 leitet er die «Vertiefung Bühnenbild Master of Arts» an der Zürcher Hochschule der Künste.

Joke Visser Kostüme

Joke Visser arbeitete zehn Jahre als freischaffende Kostümdesig­ne­rin für das Holländische Nationalballett, das Nederlands Dans The­a­ter und die Holländische Opern­­vereinigung, bevor sie 1987 fest beim Nederlands Dans Theater an­­gestellt wurde. Bereits zwei Jah­re später übernahm sie die Leitung der dorti­ gen Ko­stüm­ab­teilung. Seitdem hat sie alle Kostüme für Jiří Kyliáns Produktionen ge­schaffen. In den vergangenen Jahren kreierte sie die Kostüme für Bella Figura, Wings of Wax, A Way A Lone, One of a Kind, Indigo Rose, Half Past, Doux Mensonges, Arcimboldo 2000, Click-Pause-Si­len­­ce, Birth-Day, 27’52’’, Claude Pascal, When Time Takes Time, Far too close, Last Touch, Sleepless, Toss of a Dice, Chapeau, Tar and Feathers, Vanishing Twin, Gods and Dogs  und Mémoires d’oubliettes. Neben ihrer Arbeit für weitere Choreografen betreut sie die Kostüm­ ausstattung der Kylián-Ballette weltweit.

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Heinrich Ignaz Franz Biber Komponist Heinrich Ignaz Franz Biber von Bibern (1644-1704) war ein böhmischer Komponist und bekannter Geiger der Barockzeit. In einem Jesuiten-Gymnasium im schlesischen Troppau erhielt er seine musikalische Ausbildung. Vermutlich nahm er weiteren Unterricht bei Johann Heinrich Schmelzer oder dem Hof­kapell­ meister Antonio Bertali in Wien. Die erste Anstellung erhielt er 1668 als Musiker der Hofkapelle und Kammerdiener bei Erzbischof Karl LiechtensteinKastel­korn zu Olmütz und Kremsier. Von einer Reise nach Innsbruck kehrte er unerlaubterweise nicht zurück. In den letzten drei Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts wirkte Biber in Salzburg als Kapellmeister des Erzbischofs Maximilian Gandolph. Der Nachwelt blieb er vor allem als spektakulärer Violin­virtuose und als Komponist der in vieler Hinsicht rätselhaften Rosenkranz-Sonaten in Erinnerung; von seiner Kirchenmusik erfährt besonders die monumentale Missa Salisburgensis zu 54 Stimmen bis heute Aufmerksamkeit.

Johann Sebastian Bach Komponist Johann Sebastian Bach wird am 21. März 1685 in Eisenach in eine weitverzweig­ te Familie von Musikern geboren. Nach dem frühen Tod beider Eltern nimmt ihn sein älterer Bruder Johann Christoph zu sich nach Ohrdruf. 1700, Bach ist 15 Jahre alt, erhält er ein Stipendium an der Michaelis-Klosterschule in Lüneburg. Von dort unternimmt Bach mehrere Reisen nach Hamburg. 1703 wird er als Violinist am Hofe von Herzog Johann Ernst von Sachsen-Weimar an­ gestellt. Bereits nach wenigen Monaten verlässt er Weimar wieder, um in Arnstadt das Organistenamt an der Neuen Kirche zu übernehmen. Bachs beruf­liche Pflichten – Kirchendienst und Ausbildung von Schülern – lassen ihm genug Zeit, um seinen musikalischen Neigungen nachzugehen. Er schreibt seine ersten bedeutenden Orgelkompositionen. 1705 ist eine Reise Bachs nach Lübeck verbürgt, bei der er vom legendären Dietrich Buxtehude unterrichtet wird. Bach

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gerät mehrmals in Auseinandersetzungen mit seinem Arbeitgeber und muss sich vor dem Kirchenkonsistorium verantworten. 1707 ergreift er die Gelegenheit, Arnstadt zu verlassen. Er wird Organist der St.-Blasius-Kirche in Mühlhausen und heiratet seine Cousine Maria Barbara. 1708 wird er in Weimar Hoforganist und Kammermusiker des Herzogs Wilhelm Ernst. 1714 steigt er zum Konzertmeister auf – sein Ruf als Orgelvirtuose verbreitet sich rasch in ganz Deutschland. 1717 wird Bach von Fürst Leopold von Anhalt-Köthen zum Hofkapellmeister ernannt. 1720 stirbt seine Frau Maria Barbara. Ein Jahr später heiratet Bach zum zweiten Mal: die Musikertochter Anna Magdalena Wilcke. In Köthen entstehen vor allem Instrumentalwerke wie Violinkonzerte, Orchestersuiten und zahlreiche Klavierstücke. 1723 wird die Position des Thomaskantors in Leipzig vakant, auf die Bach sich bewirbt. Im April wird er in dieses angesehene Amt gewählt. Auf seiner letzten Lebensstation komponiert Bach seine grossen Vokalwerke Johannes- und Matthäuspassion sowie zahlreiche Kantaten und Motetten. Am 28. Juli 1750 stirbt Johann Sebastian Bach in Leipzig.

John Cage Komponist Zuerst wollte er Schriftsteller werden, dann aber wurde er doch Schüler von Arnold Schönberg. Streckenweise fühlte er sich unter Bildenden Künstlern mehr zuhause als unter Komponistenkollegen – und auf dem Gebiet der Pilzkunde kannte er sich aus wie kein Zweiter. Noch heute ist der Name John Cage (19121992) gleichbedeutend mit «Revolution im Musikbetrieb» und seine Skandale auslösende Musik, Nicht-Musik und Happenings sind legendär. Dabei war es eine kompromiss- und grenzenlose Offenheit, die vor allem in den 40er bis 60er Jahren als skandalös empfunden wurde. Diese Offenheit erlaubte es ihm, Gege­ benheiten nicht einfach hinzunehmen: Cage erfand das präparierte Klavier, nahm das Radio als Instrument mit auf die Bühne, komponierte nach ver­ schiedenen Zufallsverfahren und gab dem Geräusch, ja sogar dem Lärm den­ selben Stellenwert wie klingende Töne. Wie die Avantgardisten in Europa, so wollte auch John Cage so weit wie möglich ohne komponierendes Ich auskom-

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men, doch wählte er einen ganz eigenen Weg der Entsubjektivierung: Er be­ fragte das I-Ging, ein Jahrhunderte altes Buch aus China, dessen Symbole Cage dabei halfen, Zufallsoperationen zu initiieren. Somit erscheint der an der Westküste der USA aufgewachsene, später nach New York umgesiedelte Weltbürger als kulturelles, philosophisches und ästhetisches Prisma, welches westliches und östliches Denken auf eine ungewöhnliche Weise miteinander verbindet: «Zen zu praktizieren heisst, an die Dinge realistisch und letzten Endes humorvoll heranzugehen.»

Philip Glass Komponist Mit seinen Opern, Sinfonien, Kompositionen für sein eigenes Ensemble und seine genreübergreifenden Kooperationen mit Künstlern wie Twyla Tharp, Allen Ginsberg, Woody Allen und David Bowie gehört Philip Glass zu den einflussreichsten Künstlern unserer Zeit. Seine Opern, u.a. Einstein on the Beach, Satyagraha, Echnaton und The Voyage, werden weltweit aufgeführt. Er schrieb Schauspielmusik und komponierte die Musik zu den preisgekrönten Spielfilmen The Hours, Kundun von Martin Scorsese sowie zu Godfrey Reggios Koyaanisqatsi. Philip Glass wurde 1937 in Baltimore (USA) geboren. Er absolvierte an der University of Chicago ein Mathematik- und Philosophie-Studium, bevor er an der Juilliard School of Music in New York und bei Darius Milhaud in Aspen Klavier studierte. In Paris verbrachte er prägende Studienjahre bei Nadia Boulanger und arbeitete eng mit dem indischen Sitar-Virtuosen und Komponisten Ravi Shankar zusammen. Nach seiner Rückkehr nach New York gründete er das Philip Glass Ensemble. Philip Glass gilt als einer der Hauptvertreter des amerikanischen Minimalismus. In den vergangenen 25 Jahren komponierte er mehr als 20 Opern, neun Sinfonien, Konzerte für Klavier, Violine, Pauken und Saxophonquartett, Filmmusiken, Streichquartette und zahlreiche Werke für Klavier und Orgel. Er hat mit Robert Wilson, Paul Simon, Linda Ronstadt, Yo-Yo Ma und Doris Lessing zusammengearbeitet. Er hält Vorträge, leitet Workshops, gibt Klavierabende und tritt regelmässig mit dem Philip Glass Ensemble auf.

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FORELLEN QUINTETT Martin Schl채pfer

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IN EINEM BÄCHLEIN HELLE Gedanken zu Martin Schläpfers «Forellenquintett» Anne do Paço

Im Ballett finden wir den Flug der Träume wieder, jene seltsame Leichtigkeit, die uns im Schlaf gegeben ist... Jean Cocteau

Was auf den ersten Blick wie ein Naturidyll daherkommt, ist alles andere als ein harmloses Geschichtchen: Der scharfzüngige schwäbische Oppositionelle Christian Friedrich Daniel Schubart schrieb 1783 als politischer Gefangener Karl Eugens auf der Festung Hohenasperg sein Gedicht von jener ebenso unbesorgten wie launischen Forelle und ihrem diebischen Angler, dem es mit List und Tücke gelingt, die freie Kreatur zu fangen – und damit nicht nur eine Fabel auf sein per­sönliches Schicksal, sondern auch eine Warnung an alle Mädchen vor ihren Verführern. Franz Schubert vertonte die ersten drei der vier Strophen – die «Moral von der Geschicht» liess er weg, und dachte sie doch vermutlich mit in seiner bitter-süssen Musik. Es entstand jenes ebenso schlichte wie kunstvolle Lied, das jeder kennt und zu singen vermag – und eine Musik, die weite Kreise zog. Für Franz Schubert war das Singen wesentliches Thema seines Lebens und Schaffens. In über 600 Liedern verströmte er sich geradezu und sang immer wieder aufs Neue gegen seine Einsamkeit und Verlorenheit an: in grösstem Schmerz, in tiefstem Groll, in wunder Wehmut – und in einem völligen Der-Welt-­ Abhanden-Gekommensein, in das die kalte Realität mit umso verstörender Wucht hinein bricht. Doch auch den unbeschwerten, heiter-gelösten Tonfall kannte er. Immer wieder ragt seine Liedkunst auch hinein in die grossen Dimen­

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sionen seines Instrumentalschaffens, wie beispielsweise in das Streichquartett d-Moll D 810 «Der Tod und das Mädchen» oder aber in jenes A-Dur-Quintett D 667 mit der merkwürdigen Besetzung Violine, Viola, Violoncello, Kontrabass und Klavier, dem das Lied von der Forelle seinen Namen gab. 1819 hatte Franz Schubert dieses Werk im Auftrag des Steyrer Amateurcellisten und Musikmäzens Sylvester Paumgartner komponiert – und eine Partitur geschaffen, die zu seinen freudigsten und melodienseligsten Kammermusiken gehört, eine Partitur aber auch, die gerade in ihrer gelösten Heiterkeit ihre grösste Herausforderung findet. Formal würde die Komposition der für Sinfonien, Sonaten und Kammermusiken üblichen viersätzigen Anlage mit schnellem Kopfsatz, langsamem zweiten Satz, einem Scherzo an dritter Stelle und einem Finale folgen – hätte Schubert nicht Paumgartners Wunsch erfüllt, das Thema der ersten Strophe des «so köstlichen Liedchens» von der Forelle in fünf Variationen noch einmal auf rein instrumentaler Ebene zu reflektieren. Der für das Forellen-Lied so typische Klaviersatz mit seinen in der zweiten Takthälfte aufsteigenden Sextolen und anschliessenden Seufzerfiguren erscheint im Quintett dagegen erst am Ende des Satzes – als sei er Ergebnis der Variation und nicht Ausgangsmaterial. Vor dem Finale fand diese Musik ihren Platz und holte in die abstrakten Strukturen einer Kammermusik eine aussermusikalische Bilderwelt hinein. Eine Bilderwelt, die sich nun ein weiteres Mal öffnet hinein in ein Ballett-Theater, das zum magischen Ort eines märchenhaften Heute oder heutigen Märchens wird: Martin Schläpfers Choreografie für das Ballett am Rhein – Forellenquintett. «Manchmal sehe ich, wie durch einen Riss in unserer Welt, in etwas durch, das über unserer Welt ist, doch gar nicht in eine himmlische Welt, sondern in eine, deren Formen und Inhalt durchaus unserer Erde angehören. Aber es ist alles viel schwebender, viel mehr in sich selbst bewegt, zu sich selber zurückstrahlend. Das ist nur einen Augenblick, und es fällt dann wie ein Rolladen über mein Auge», schrieb der Schweizer Philosoph und Mediziner Max Picard. Als wäre es ein Traum, reibt sich eine Tänzerin die Augen, als sie plötzlich nach der lärmigen Aufforderung Don’t be shy von The Libertines mitten in einer anderen Welt steht: Ein Wald in einer Sommernacht vielleicht, ein glänzen­der See vielleicht, in dem sich das Licht des Mondes bricht – ein labyrinthischer Ort, der zu einem Treffpunkt unterschiedlichster Gestalten wird. Liebespaare

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begegnen sich und wechseln – gerade noch zärtlich umschlungen – in rasendem Tempo die Partner als wär’s ein Shakespearescher Sommernachtstraum, ein einsamer Poet, Sonderling und dem Weine zugetan, landet nie bei einer Frau und verwandelt sich urplötzlich mit wilden Sprüngen in einen kauzigen Kobold, eine einsame Elfe tanzt ihren Tanz, ein verzauberter Schwan hofft auf Erlösung, immer wieder blitzen Erinnerungen an Franz Schubert auf, liegt der Duft des Wiener Waldes im Raum oder die ausgelassene Fröhlichkeit eines Heurigen... Und: Es wird getanzt und getanzt und getanzt – auf Spitze, auf flacher Sohle, in Schläppchen und Gummistiefeln. In einer Art Reigen entfaltet sich das ganze Kompendium Schläpferscher Tanzkunst, welche die höchste Virtuosi­ tät des klas­sischen Balletts ebenso kennt wie den freien Wurf, volkstümliche, ja fast derbe Komik neben totale Verkunstung, feinsinnigen Humor neben dun­ kel­glü­hende Melancholie, grosses Pathos neben lapidare Trockenheit, Romantik neben Alltägliches, theatralische Formen neben absoluten Tanz zu stellen weiss. In vielen seiner Arbeiten wie 3, Reformationssymphonie, Streichquartett oder 24 Préludes ging es Martin Schläpfer immer wieder um das Erforschen der technischen und künstlerischen Möglichkeiten seiner Tänzerinnen und Tänzer, um einen Prozess des Weiterdenkens der unterschiedlichsten Techniken hin zu einer zeitgenössischen Tanzsprache, die ihren ganz eigenen Charakter durch die Fallhöhe zwischen einem im klassisch-akademischen Ballett basierenden Vokabular und seiner ungewöhnlichen Setzung erhält: ein permanentes Sichauf-dem-Grat-Befinden, das Abrutschen inbegriffen. All dies – aber auch das drängende, ja bedrängende Fragen wie in der Feldman-Beckett-Choreografie Neither – scheint in Forellenquintett einer heiteren Gelöstheit gewichen zu sein. Auf die Unbeschwertheit der Schubertschen Musik antworten die vielen schwe­ re­losen Sprünge, drehfreudigen Pirouetten, so weit wie möglich in die Höhe gehobenen Arabesquen und virtuosen Entrechats. Es ist der Mut, auf die Schönheit der Eleganz, die Kraft des Humors, den Zauber und die Poesie der Roman­ tik zu vertrauen, «die Ideen und Bilder fliessen zu lassen» (Martin Schläpfer). Das Unruhige, Flirrende, Wirre ist Programm. Doch zweimal bleibt die Welt stehen in diesem geradezu tollen Treiben. In einem lyrischen Ensemble, das an die Schwerelosigkeit der romantischen Actes blanches erinnert, zugleich aber im schier endlosen Stehen auf Spitze auch ein schmerzliches Aushalten

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ist – wie eine Yoga-Übung wachsen im langsamen zweiten Satz Architektur und Plastizität, Konstruktives und Ausdruckhaftes zu einer spannungsvollen Einheit zusammen, in deren hochkonzentrierter Schönheit etwas zutiefst Beunruhigendes mitschwingt. Dass Martin Schläpfer immer auch ein grosser Geschichten­ erzähler ist, zeigt dagegen der Forellen-Variations-Satz – ein Pas de deux, in dem sich das Geschichtchen von der Forelle zu einem teuflischen Kampf zwischen Mensch und Tier, Mann und Frau hin öffnet, der Fisch in märchenhafter Meta­ morphose auch Prinzessin und Dämonin sein kann, eine Szene, die – wie stets bei Martin Schläpfer – hinter aller heiteren Poesie und Romantik auch die Abgründe des menschlichen Daseins mitdenkt. Jeder in dieser Welt ist fähig, «über dem Abgrund zu schweben, zu stehen, leicht – wie nur Vögel wissend, dass man ihn überfliegen oder als ‹Spielplatz› wählen kann. Nicht zu ernst, nicht zu tief, nicht zu dramatisch – und doch erwachsen. Wie im Märchen ist alles gut» (Martin Schläpfer). Ein Tanzreigen, an dessen Ende auch wir Zuschauer uns in geheimnisvoller Benommenheit die Augen reiben, wie wenn man aus Träumen wiederkehrte.

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Christian Friedrich Daniel Schubart

Die Forelle

In einem Bächlein helle, Da schoss in froher Eil Die launige Forelle Vorüber wie ein Pfeil. Ich stand an dem Gestade Und sah in süsser Ruh Des muntern Fisches Bade Im klaren Bächlein zu. Ein Fischer mit der Rute Wohl an dem Ufer stand, Und sah‘s mit kaltem Blute, Wie sich das Fischlein wand. So lang dem Wasser Helle, So dacht ich, nicht gebricht, So fängt er die Forelle Mit seiner Angel nicht. Doch plötzlich ward dem Diebe Die Zeit zu lang. Er macht Das Bächlein tückisch trübe, Und eh ich es gedacht, So zuckte seine Rute, Das Fischlein zappelt dran, Und ich mit regem Blute Sah die Betrogene an. Die ihr am goldenen Quelle Der sicheren Jugend weilt, Denkt doch an die Forelle, Seht ihr Gefahr, so eilt! Meist fehlt ihr nur aus Mangel der Klugheit, Mädchen, seht Verführer mit der Angel! Sonst blutet ihr zu spät!




Nichts ist schwerer als die Unbeschwertheit dieses unvergleichlichen Stücks, das Apollo selbst, vom Parnass zum Wienerwald herabgestiegen, komponiert haben könnte. Seine graziöse Leichtigkeit darf nicht Lässigkeit, seine fabelhafte souveräne Schlendrigkeit nicht Schlendrian, seine Naturbeschwingtheit nicht «Ausflugs-Fidelität» werden. Nie sind es Biedermeierherren, sondern immer Genien, die da mit rhythmisch differenzierten undiffizilen Schritten durchs Grüne streifen, arkadische Wanderburschen, die ihrer Distinktion nur eine populäre Maske vorgebunden haben – und selbst diese Maske ist höchst kunstreich gefertigt. Karl Heinz Ruppel über Franz Schuberts «Forellenquintett»

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DER MARATHONMANN Martin Schläpfer gehört zu den bedeutendsten Schweizer Choreografen der Gegenwart. Ein Besuch in seiner Düsseldorfer Wahlheimat Dorion Weickmann

Die Vorgabe erfolgt knapp und präzis: «12 Pro­­zent schneller». Nicht etwa «ein bisschen mehr Dampf, bitte» oder «eine Nummer zackiger». Sondern so exakt wie ein Metronom: «12 Prozent schneller». Vermutlich gibt es im ganzen Trainingssaal überhaupt nur zwei Leute, die sol­che Nuancen spüren. Nämlich der wohlgelaunte Pianist, dem die Ansage gilt, und der Ansager selbst: ein Mann in blüten­weissen Hosen, der das, was aus dem Flügel perlt, wie das delikate Grund­ rauschen einer Orchesterprobe behandelt. Nur sind hier keine Geigen oder Posaunen zugange, sondern menschliche Instrumente: Tänzerkörper. Werkzeuge, die selbst­tätig nach Vollkommenheit streben, Tag für Tag für Tag. Diese Disziplin-Dauerschleife verlangt nach einem Dirigenten, der Bewegung modelliert und Phrasierungen schärft. Nach einem Komponisten, der am Ende die Einzelstimmen zum Klanggefüge bündelt, ohne die individuelle Note zu tilgen. Gerade so versteht der Mann, der hier in einem Atem­zug dirigiert und komponiert, sein Metier: «Du musst wis­sen, was du machst. Ich hatte als Tanzschüler das Glück, unablässig gefragt zu werden – was tust Du da, und warum? Die tägliche Klasse ist der Ursprungsort aller Krea­tivität, deshalb ist mir das Unter­richten so wichtig.» Wer Martin Schläpfer dabei zuschaut, wie er ein paar Dutzend Tänzer samt Pianisten durchs Exercice steuert, der fühlt sich danach angenehm berauscht, gerade so, als hätte er an Champagner genippt. Weil das, was Schläpfer veranstal­ tet, weder Routine hat noch Routine ist. Sondern eine Herausforderung. Der Direktor des Balletts am Rhein riskiert, dass «manche Tänzer lange schwimmen, bis sie sich in meinem Training zurecht finden. So lange stehen sie vor einem Rätsel.»

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Dieses Rätsel hat mit Kunst zu tun. Egal, an welchem Theater Schläpfer gerade wirbelt: Das Geschehen im Ballett­saal markiert unübersehbar die Vorstufe eines Schöpfungsakts. Der Choreograf taucht mit dem ganzen Körper in ihn hinein, sein Geist scheint die Physis der Tänzer zu umfangen. Schläpfer läuft und läuft und läuft zwischen den Stangen umher, rundet den Rücken und macht sich winzig, als wolle er gleich im Fussgelenk des einen, im Zeh eines anderen ver­ schwin­den. Kein Detail entgeht seinem Adlerauge. Kaum taucht er wieder auf, strafft er sich bis in die Fingerkuppen und wächst dem Neonlicht an der Decke ent­gegen. Sein Blick gleicht dabei einer Spiegelfläche: Jeder einzelne kann sich darin betrachten, kann erkennen, wo er noch feilen, nachjustieren, die Signatur seines Ausdrucks verfeinern oder verdichten muss. Dabei fällt kaum ein Wort. Denn das hier ist Schläpfers Atelier, an diesem Ort entstehen die Rohformate seiner Tanzgemälde, deren Farben intensiv nachglühen und sich ikonisch in die Köpfe der Zuschauer einschreiben. Er selbst würde das so nie formulieren. Statt­ dessen spricht sein Werk, jedes einzelne wie alle zusammen. Sie atmen völlig los­gelöst von dem, der sie hervorgebracht hat. Kunst kann das. Kunst wie das Forellenquintett von 2010, das Christian Spuck unbedingt für Zürich haben woll­­te. «Obwohl es schwierig ist», wundert sich Schläpfer, der ge­bürtige Schweizer, der wie so viele Landsleute die Heimat mit ihren Naturwundern und Kapitalismuswunden inniglich liebhasst. Umgehend erschien er am Zürichsee, um die Com­pagnie zu inspizieren. Als Trainings­ meister, versteht sich. «Was», sagt wiederum Spuck, «so wohltuend wie gewöh­ nungs­­bedürftig war, weil da kein Bein irgendwie in die Ge­gend gestreckt wird, sondern alles eine Bedeutung kriegt.» Genauso verhält es sich mit dem Forellen­ quintett, einem ty­pischen Schläpfer-Unikat: zum Auftakt eine Prise Irritation, dazu kristallin schraffierte Profile für jede Partie, hochdosier­te Spannung zwischen Soli, Zweier- oder Dreiergespannen und Tutti, schliesslich eine Tanztaktung, die das vertraute Metrum des Balletts zergliedert, aufspaltet und rigoros neu zusam­ men­setzt – bis es so elegant strahlt wie eh und je. Nur eben zeitgenössisch. Was das bedeutet, lässt sich an einer erzklassischen Pose ablesen, der arabes­ que penchée, bei der das Ballerinen-Decol­leté üblicherweise huldvoll gen Boden sinkt, während ein Bein sich schier endlos Richtung Bühnenfirmament dehnt. Die­se akademische Formel windet Schläpfer durchs Forel­len­quintett: als Gruppen­

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panorama, Mädchen-Gebinde, als Trophäenmanöver des Fischers wie als Mimi­ kry des Fischs. Aber er polt die gewohnte atmosphärische Aufladung um, ersetzt romantischen Lyrismus durch ein Schaukeln auf den Wellen des Abgrunds. Hier flirren weder Sterne noch blau geäderte Wolkenbänder über den Tanzhimmel, wie es seit den walzerseligen Nixen-und-Najaden-Idyllen des 19. Jahrhunderts Usus ist. Vielmehr schimmern bei Schläpfer ge­heim­nisvolle Untiefen, strudeln die Stromschnellen des Wassers dahin, durch die das Fischlein schiesst, der Angler watet, derweil sich ihre Entourage auf der sattgrünen Flur vergnügt – so ungeniert provokant wie einst die Ausflugsgesellschaft von Édouard Manets Le Déjeuner sur l’ herbe. Recht besehen, ist die Natur Martin Schläpfers wahres Zuhause. Obwohl sie in seinem Œuvre selten so freimütig aufscheint wie im Forellenquintett. Und obwohl er über die Jahre ein Theatermensch geworden, dabei jedoch «ein Einzel-Leber, Einzelgänger» geblieben ist. Einer, der hadert und ringt und immer «zwischen hell und dunkel» schwankt: «Es gibt Kollegen, die staune ich an. Die sind so erfüllt von ihrer Mission und glauben daran, dass ihre Kunst die Welt verändert. Da denke ich mir – haben die keine Fragezeichen?» Schläpfer beharrt auf seinen Zweifeln, ohne dem Schatten der Melancholie zu erliegen. Auch seine Werke, die inzwischen an Zahl die 54 Erdenjahre ihres Autors über­ steigen, taugen kaum als Trost. «Ich kann enorm fröhlich sein. Trotz­dem finde ich es schwer, den Tod zu akzeptieren. Es ist klar, dass wir Schönheit nur erleben, weil alles endlich ist. Aber dennoch ist da die grosse Unbekannte, das ständige Warum. Warum lebe ich?» Der kleine Martin war gegen solche Anfechtungen gefeit, ja «ein sonniger Bub». Geboren im Kanton Sankt Gallen, wächst er im Schoss einer fünfköpfigen Familie auf: Vater («Atheist, aber grosszügig»), Mutter («gläubig, aber ängstlich»), zwei ältere Brüder («der eine robust, der andere fili­­gran, der eine Herzchirurg, der andere Psychiater geworden») – was bleibt dem Nachzügler übrig, als beherzt übers Spannungstrapez dieser vier Temperamente zu turnen? In der Mitte zwischen den Eltern zu lavieren, deren «Welten nicht unterschiedlicher hätten sein können»? Im Haus von Generaldirektor Schläpfer, Vorstand eines Stahlhandels­unternehmens, wird oft und erbittert, zuweilen tränennass diskutiert. Über Politik, über die Schweiz, und natürlich auch darüber, was aus dem

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Jüng­sten werden soll. Angedacht ist die Laufbahn eines Primarlehrers, doch Martins Schulnoten geraten in den Sinkflug. Mit fünfzehneinhalb Jahren entdeckt er seine Passion fürs Tanzen. Ausgerechnet. Der Vater ist «not amused». So behände, wie Schläpfer im Gespräch zwischen Deutsch und Englisch hin und her springt, um zwischendrin auf einer Schwyzerdütsch-Insel anzulanden, jagt sein Denken von ei­nem Themen-Kontinent zum nächsten. Wieso er sich vom Tanz packen liess, weiss er nicht: «Ob es der Schlüssel zu ei­­­nem ande­ ren Leben oder der Geschmack von Freiheit war – keine Ahnung.» Resolut be­schreibt er sich dagegen als «lang­samen Steiger», eine Art Dauerläufer auf der Kar­riere-Strecke. Zunächst nimmt Marianne Fuchs den Halbwüchsi­gen unter ihre Fittiche, mit dem Prix de Lausanne gewinnt er ein Stipendium in Lon­don, geht anschliessend zu Heinz Spoerli nach Basel, von dort aus nach Kanada, dann wieder retour. Längst ist er ein fantastischer Solist. Doch professio­nelle Meriten sind das eine, der Mensch ist das andere. Dem geht es weniger glänzend: «Tanzen heisst, immer ein wenig in der Depression zu hocken – zu wenig Schlaf abzu­ be­­kom­men, zu viel Arbeit zu schultern. Davor hat mich keiner gewarnt, niemand bewahrt.» Was folgt, ist zwar kein Totalabsturz, aber eine tiefe Krise. Schläpfer ist «innerlich verloren», sehnt sich nach Alternativen, will den Tanz begraben und Biobauer werden. Wieder legt sich der Vater quer. So sehr die beiden sich aneinander entzünden, so eindeutig erkennt der Sohn die Seelenverwandtschaft: «still, aber auch autoritär», das ist das Wesenserbteil, das auf ihn kommt. Das materielle Vermächtnis ermöglicht ihm, die mittlerweile gegründete Ballettschule zu verkaufen, dabei gefahrlos einen sagenhaften Verlust einzufahren, ein paar Jahre zu vertändeln… und trotz aller Volten den eigenen Lebensfaden zu erhaschen. «Und dann hiess es plötzlich: Er wird Ballettdirektor in Bern.» Dieser Er ist beileibe noch kein choreografisches Ass. Die 1995 gezeigten Erstlinge nehmen sich wie brave Stilübungen aus, irgendwo zwischen konservativer Norm und tanz­thea­tralischer Versuchung angesiedelt. Dann aber vollzieht sich hinter den Kulissen offenbar eine Revolution: Seit 1996, seit Strange Fruit, bläst bei Schläpfer ein Wind daher, der Ideen in Überfülle vor sich hertreibt. Erfindungsreich, spie­lerisch, nie um einen Einfall verlegen, der solange geputzt und gegen den Strich gebürstet wird, bis das Erstbeste durchs Allerbeste ersetzt ist – so macht der «langsame Steiger» seinen Weg. Von Bern nach

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Mainz nach Düsseldorf und Duisburg. Dort liegen sie ihm nunmehr regelrecht zu Füssen: die Kritiker, das Publikum, die Honoratioren von Kunstvereinen, Kommerz- und Kommunalbetrieben. Der Aufstieg kostet unendlich viel Kraft. Weil es ein Marathon ist, der kei­ ne Ziellinie hat. Weil der Druck, noch mehr zu machen, noch besser zu wer­den, nicht weicht. Vor Uraufführungen wächst er sich ins Gespenstische aus: «Da stehe ich um drei oder vier Uhr auf – ich muss ja wissen, was ich nachher auf der Probe will. Das ist eine Phase wie im Krieg. Du rennst und rennst und rennst im­merzu. Und zur Premiere bist du total erschöpft.» Kaum Kaffee, kaum Al­ ko­­­hol. Das Theater ist ein gefrässiges Tier, ein Produktionsmoloch, der einen blitz­schnell in die Enge jeder erdenklichen Sucht drängen kann. Davor schützt der Abstinenzriegel. Schläpfer hat ihn längst einrasten lassen: «eine bewusste Ent­schei­dung». Genauso bewusst wie der Entschluss, keinen Schwanen­see, kein Dornröschen zu machen. Jedenfalls bis auf Weiteres. «Dafür müsste es ein zwingendes Gegenwartsmotiv geben. Und ein unbeirrtes Wollen. Das Auge der Zeit geht weiter, wir können nichts festhalten, einfrieren, dürfen keine Inszenierung und kein Sujet dogmatisch verteidigen.» Dass so mancher Balanchine-Abend ins Wächserne vergreist, dass Jerome Robbins’ sinnlichste Tanzeskapaden allmählich ausbluten, mag Schläpfer als Ensemblechef nicht dulden. Da rüstet er schon mal klammheimlich die Lichtregie nach, sobald die jeweiligen Sachwalter abge­reist sind: «Dann sag ich mir – ach komm, Martin, kann nicht so schlimm sein, wenn’ s doch schöner wird.» Das allein zählt. Das Schönste, das Grausamste auch ist die Natur, die einer aus der Einsamkeit heraus belauscht. Hoch droben in den Tessiner Alpen besitzt Martin Schläpfer eine Hütte, karg und anspruchslos. Daheim in Düsseldorf streichen ihm fünf Katzen um die Beine, sofern sie nicht gerade durch seinen ver­wilderten Garten streunen oder mit ihm ins Aquarium stieren. Was alles nur ein Notbehelf ist. Denn nirgendwo ist er sich selbst so ausgeliefert wie im Niemandsland der Berge. Dort hat er zu schreiben begonnen. Hat sein Schweigen gegen das pausenlose Redenmüssen ge­setzt, die Schrift gegen die Glossolalie des Alltags, das Papier gegen die Amnesie einer technisierten Gesellschaft – die vor dem Theater nicht halt macht.

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Unlängst ist ihm ein Jahrhundertbuch in die Hände gefallen, Marlen Haushofers Die Wand. Es erzählt von einer Frau, die sich schlagartig abgeschnitten sieht von der Welt, mit nichts als einer Handvoll Tieren mitten in der Wildnis gefangen. Immer am Rand der Erschöpfung kämpft sie ums Überleben. Einer der letzten Sätze lautet: «Die Erinnerung, die Furcht und die Trauer werden bleiben und die schwere Arbeit, solange ich lebe.» Er passt gut zu Martin Schläpfer. Wenn nicht gerade ein Lächeln aus reinem Sonnenschein über sein Jungsgesicht fliegt.

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DER WANDERER Peter Härtling

... Er hat mit dem Vater gestritten, nicht zum ersten Mal und nicht so, dass die traurige Wut seine Rückkehr nicht erlaubt, denn er hat sich ernsthaft um eine Musiklehrerstelle bemüht, Salieri hat ihm ein Zeugnis ausgestellt, die Wiener Stadthauptmannschaft ebenso, er weiss, dass Spaun dem grossen Goethe zwölf Lieder schickte, die allerdings ohne jeglichen Kommentar zurückkommen werden, aber jetzt gibt er dem Impuls nach, irgendwo Ruhe und Zuflucht zu suchen, findet Unterschlupf bei Spaun, schafft es, wie auch später oft, in dem engen Zimmer, das sein Freund mit ihm teilt, nicht aufzufallen, morgens sich in der Arbeit, für die ihm kein Klavier zur Verfügung steht, so zu entfernen, dass er Spaun unheimlich wird, hält die abwartende Spannung zwischen dem Vater und sich ein paar Wochen lang aus, kehrt zurück, dient wieder als Hilfslehrer in der vom Vater geführten Schule, singt mit den Kindern, singt, wie er als Bub bei den Sängerknaben gesungen hat, kümmert sich nicht um seine Zukunft, komponiert, wenn die Zeit es ihm erlaubt, trifft sich mit den Freunden in Lokalen, trinkt und träumt, bis es dem Vater reicht, er ihn stellt, sie sich nichts zu sagen haben, nur ihren Trotz messen, und er, ohne sich zu verabschieden, fortgeht, das ist im Herbst 1816, als Gast von der Familie Schober aufgenommen wird, ein anspruchsloser Gast und ein nach dem vormittäglichen Arbeiten zu jedem Vergnügen abrufbarer Freund, doch in sein Tagebuch trägt er mit einer Kinderschrift, die schon lernt, übers Papier zu jagen, seine Antwort auf die Abenteuer mit Schober ein, «Leichter Sinn, leichtes Herz. Zu leichter Sinn bringt meist ein zu schweres Herz», das hätte noch lange so gehen können, wäre nicht die Nachricht gekommen, dass Schobers kranker Bruder, ein Offizier, aus Frankreich heimkehre und Schober sich auf den Weg macht, den Bruder abzuholen, der aber unterwegs stirbt, nur hat Schubert schon sein Zimmer geräumt und ist, da er so rasch keine neue Bleibe findet, keineswegs reumütig für ein paar Wochen heimgekehrt in das väterliche Schulhaus, meidet den Vater,

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beredet sich mit der zweiten Mutter, ist auf dem Sprung und sucht mehr denn je die Gesellschaft der Freunde, zieht allerdings mit um, als dem Vater ein neues Schulhaus angeboten wird, erkundet hartnäckig die Sonatenform und kann dem Vater die erste Veröffentlichung eines Liedes im «Mahlerischen Taschenbuch» vorlegen, nimmt, um seinen guten Willen zu beweisen, im Sommer 1818 eine Musiklehrerstelle beim Grafen Esterhazy in Ungarn an, schreibt dem Vater, wie gut es ihm gehe, schreibt den Freunden Schober und Spaun: «Unser Schloss ist keins von den grössten, aber sehr niedlich gebaut. Ich wohne im Inspectorat», schreibt, «Für das Wahre der Kunst fühlt hier keine Seele, höchstens dann und wann (wenn ich nicht irre) die Gräfin. Ich bin also allein mit meiner Geliebten, und muss sie in mein Zimmer, mein Klavier, in meine Brust verbergen», schreibt, «mehrere Lieder entstanden unter der Zeit, wie ich hoffe, sehr gelungene», doch nur drei bleiben erhalten, darunter «Einsamkeit», die ihm mehr und mehr zusetzt, so dass er im Herbst heimkehrt, jetzt so heftig mit dem Vater zusammengerät, dass keine Versöhnung mehr möglich scheint, er zu Mayrhofer zieht, der, wie Schober, für seine Vormittagsruhe sorgt, so dass er in den eineinhalb Jahren dieses Domizils das «Forellenquintett» schreiben kann, aber auch ungezählte Lieder, darunter den «Prometheus» und, wie immer, an den Nachmittagen und Abenden die Freunde um sich versammelt, neuerdings auch Moritz von Schwind, bis Schubert sich von Mayrhofer trennt, umzieht und zum ersten Mal ein Jahr lang ohne den Schutz eines Freundes wohnt, das jedoch lange nicht aushält, von neuem sich für zwei Jahre, 1822 und 1823, bei der Familie Schober einmietet, da schreibt er die «Wandererfantasie», die «Unvollendete», die «Mignon-Lieder» und die fünfte Fassung eines seiner bekanntesten Lieder, der «Forelle», da findet im Kreis der Freunde die erste «Schubertiade» statt, da gibt er den Versuchungen nach und holt sich die Syphilis, flieht, obwohl es ihm schwerfallen muss, für ein paar Wochen ins väterliche Schulhaus, bekommt von seinem Freund Huber einen Platz in dessen Wohnung angeboten, vergräbt sich wieder in die Arbeit und lässt Schober, der auf Reisen ist, in einem Brief wissen: «Fülle die Sehnsucht nach Dir nur einigermassen aus, indem Du mir schreibst, wie Du lebst und webst. – Ich habe seit der Oper [«Fierrabras»] nichts componirt, als ein paar Müllerlieder. Die Müllerlieder werden in vier Heften erscheinen, mit Vignetten von Schwind», versteckt sich eine Zeit lang

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in der Huberschen Wohnung, weil die Krankheit ihm ebenso zusetzt wie eine Kur, die Abhilfe schaffen soll, und am 24. Dezember 1823, am Heiligen Abend, kann Schwind Schober melden: «Schubert ist es besser, es wird nicht lange dauern, so wird er wieder in seinen eigenen Haaren gehen, die wegen des Ausschlags geschoren werden mussten. Er trägt eine sehr gemütliche Perücke», wobei es sich fragt, ob er sie bis zu seinem Ende trug, ihm ist es aber für den Augenblick gleich, er kann wieder unter die Leute, Schubertiaden finden wieder statt, Vogl singt seine Lieder, da hat er sich erneut, vielleicht noch des Ausschlags wegen, für den Winter ins väterliche Schulhaus geflüchtet, zum letzten Mal, und erträgt notgedrungen die Verachtung des Vaters, bezieht im Februar 1825 ein Zimmer, das er ganz für sich alleine hat, hält sich im Sommer in Oberösterreich auf, in Linz, Salzburg, Gmunden und Gastein, schreibt eine Symphonie, die verloren geht, befreundet sich mit Eduard von Bauernfeld, und schreibt, jetzt seiner sicher und gegen alle früheren Streitigkeiten an die Eltern: «In Oberösterreich finde ich allenthalben meine Compositionen», gibt, heimgekommen, dies drückt nichts aus als eine Bewegung, sein Zimmer auf, zieht in den Vorort Währing, und dieses eine Mal ist die genaue Adresse nicht bekannt, haust zeitweilig mit Schober und Schwind zusammen, und Schober ist es auch, der ihn im Herbst 1826 in seine neue Wohnung mitnimmt, während er an der Sonate in G-Dur arbeitet und das im Frühjahr komponierte Streichquartett in d-Moll («Der Tod und das Mädchen») zum ersten Mal aufgeführt wird, da entfernte er sich, über den Winter, aus Schobers Schutz, wohnt erneut allein, bekommt von der Leipziger «Allgemeinen musikalischen Zeitung» eine ausführliche Kritik der «Wandererfantasie», feiert mit Schwind, Schober, Spaun und anderen Freunden das neue Jahr, 1828, wobei Bauernfeld ein Gedicht vorträgt, das ihnen vorauseilt, scheinbar mehr weiss, «Es rollen die immer kreisenden Jahre/hinunter, hinunter – du hältst sie nicht!/Sie bauen die Wiege, sie zimmern die Bahre,/sie hüllen in Dunkel, sie zünden das Licht:/dem einen zur Freude, dem andern zur Klage/drängen und wechseln die flüchtigen Tage», und er hört zu und es fallen ihm Gedichte Heines ein, die ihn seit kurzem so mitnehmen, dass er einige von ihnen vertonen wird, doch jetzt, im März 1828, hat er längst die Wohnung auf der Bastei verlassen, weil er sie entweder nicht mehr zahlen kann oder einfach die Nähe Schobers braucht, bei dem er noch

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einmal unterschlüpft, was ihn nicht zurückhält, eine Zeit lang im Gasthof «Zur Kaiserin Österreich» zu wohnen, Kopfschmerzen plagen ihn jetzt, Unpässlichkeiten, er zieht sich zurück, fühlt sich bei Schober, dessen ausdauernde Heiterkeit ihn reizt, nicht mehr wohl, zieht im September 1828 zu seinem Bruder Ferdinand und schreibt, kaum hat er sein Kabinett nach der Strasse bezogen, in einem Monat, in einem Zug vier Kompositionen, mit denen er sich seiner Wanderschaft endgültig inne wird, die zur Winterreise gehören, in denen er seine Fremde stolz und unverhohlen bekennt: die drei Klaviersonaten in c-Moll, A-Dur und B-Dur und das Streichquintett in C-Dur, und auch sein Eifer, Verleger von Rang zu finden, nimmt noch einmal zu, er korrespondiert mit Schott, erwartet eine «erfreuliche und baldige Antwort», die ihn aber nicht mehr erreicht, denn seine Kraft schwindet, die Krankheit frisst ihn von innen her, und, als wolle er den fahrlässigen, doch treuen Gefährten bestätigen, sucht er ein letztes Mal Kontakt mit Schober, zwar auch mit einer Bitte, vor allem jedoch mit der Auskunft über das Ende der kurzen, unruhigen Reise: «Lieber Schober! Ich bin krank. Ich habe schon 11 Tage nichts gegessen und nichts getrunken und wandle matt und schwankend vom Sessel zu Bett und zurück. Rinna behandelt mich. Wen ich auch was geniesse, so muss ich es gleich wieder von mir geben», worauf er die Augen schliesst und jene Stimme hört, die immer zuerst seine Lieder sang: Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus. Am Mittwoch, den 19. November 1828, nachmittags um 3 Uhr, stirbt Franz Schubert. Als Todesursache wird Nervenfieber angegeben.

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MARTIN SCHLÄPFER Choreograf

Martin Schläpfer studierte Ballett bei Mari­an­ne Fuchs in St. Gallen und an der Royal Ballet School in London. Zu seinen wichtigsten Lehrern gehören Maryon Lane, Terry Westmoreland, David Howard, Gelsey Kirkland und Peter Appel. 1977 gewann er beim Prix de Lausanne den Preis für den besten Schweizer und wurde von Heinz Spoerli ins Basler Ballett engagiert, wo er schnell zum charis­ matischen Solisten avancierte. In zehn Jahren verliess er das Basler Ballett nur für eine Spielzeit, um ein Engagement beim Royal Winnipeg Ballet in Kanada anzunehmen. 1990 gründete er die Basler Ballettschule «Dance Place», an der er zu unterrichten begann. Zeitgleich studierte er Tanzpädagogik bei Anne Woolliams in Zürich und nahm Musikunterricht bei Harriet Cavalli. 1994 wurde er als Direktor zum Berner Ballett berufen und gründete die Stiftung «Visions of Dance». Von 1999 bis 2009 leitete Schläpfer das von ihm neu formierte ballett­mainz, das unter seiner Direktion in die erste Reihe der deutschen Ballett­ compagnien aufrückte. Mehrere seiner Choreografien wurden fürs Fernsehen aufgezeichnet. 2009/10 übernahm er als Direktor und Chefchoreograf das Ballett am Rhein Düsseldorf Duisburg, das die internationale Kritikerumfrage der Zeitschrift «tanz» bereits nach der ersten Spielzeit unter Martin Schläpfer mehrfach als «Kompanie des Jahres» nominierte und darüber hinaus ihren Direktor 2010 zum «Choreografen des Jahres» kürte und das Ballett am Rhein 2013 und 2014 als «Beste Kompanie» auszeichnete. Neben den Aufführungen in den Stammhäusern Düsseldorf und Duisburg tritt die Compagnie regelmässig bei Gastspielen im In- und Ausland sowie bei internationalen Festivals auf. Mit Jean-Philippe Rameaus Ballettoper Castor et Pollux an der Deutschen Oper am Rhein übernahm Martin Schläpfer 2011/12 erstmals auch eine Opernregie. Getreu seiner Überzeugung, dass eine Compagnie ihren Direktor und Chefchoreografen vor Ort präsent braucht, nahm Martin Schläpfer von den zahlreichen Einladun­gen, an anderen Häusern zu choreografieren, bis­her nur wenige an. So kre­ier­te er 2008 Viola­konzert/II auf Musik von Sofia Gubaidulina für das

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Bayerische Staatsballett und 2009 Lontano auf die gleichnamige Komposition von György Ligeti für Het Nationale Ballet Amsterdam. Nachdem Martin Schläpfer 2012 bereits für den Pas de deux The Old Man and Me als Tänzer auf die Bühne zurückkehrte, kreierte Hans van Manen zu Beginn dieser Saison mit Alltag erstmals eine Uraufführung für ihn als Solisten sowie ein kleines Ensemble aus Ballett am Rhein-Mitgliedern. Martin Schläpfer erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Kunstpreis des Landes Rheinland-Pfalz (2002), den Tanzpreis der Spoerli Foundation (2003), den in Moskau verliehenen Prix Benois de la Danse (2006), den Theaterpreis der Düsseldorfer Volksbühne (2012) so­wie 2009 und 2012 den deutschen Theaterpreis «Der Faust» für seine Choreo­gra­ fien Sinfonien sowie Ein Deutsches Requiem. 2013 folgte der Schweizer Tanz­preis und 2014 die Nominierung für den «Taglioni European Ballet Award» durch die Malakhov Foundation.

Keso Dekker Bühnenbild, Video und Kostüme

Keso Dekker, auf der holländischen Insel Ys­sel­monde geboren, studierte Kunstgeschichte, Niederländische sowie Klassische Sprachen und Literatur, bevor er sich der Malerei zuwandte. Nach­dem der Choreograf Eric Hampton ihn 1976 erstmals als Bühnen- und Kostümbildner engagierte, be­gann die intensive Zusam­menarbeit mit Hans van Ma­nen, die seit­her zu mehr als 60 gemeinsamen Kreationen führte. Über 400 Bühnen- und Kostümarbeiten entstanden für zahlreiche Theater- und Tanzmacher in Europa und den USA, darunter Cho­­reo­ grafen wie Renato Zanella, Bernd Bienert, Nils Christe und Heinz Spoerli (Ein Sommernachtstraum, Goldberg-Variationen). Er kre­ier­te TV-Programme, leitete Workshops, schrieb Bücher, gestaltete Innen- und Aussenräume so­wie Ausstellungen wie 1986 La Mode und 1994 The Art of Devotion 1300–1500  im Rijksmuseum Amsterdam. 2002 erhielt er den niederländi­schen Preis für Formgebung sowie den Grossen Preis der holländischen Tanzwelt. Mit Martin Schläp­fer arbeitete Keso Dekker bei den Uraufführungen Musica ricercata, Tanzsuite und Pathétique  für ballettmainz, Streichquartett und Lontano   für Het Nationale

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Ballet Amsterdam und Forellenquintett  für das Ballett am Rhein zusammen. 2013 folgte die gemeinsame Urauf­führung Johannes Brahms – Symphonie Nr. 2. Für die Feiern zum 50-jährigen Jubiläum von Het Nationale Ballet entwarf er einen Ballett­mara­thon mit neun Uraufführungen von u.a. Hans van Manen, Christopher Wheeldon und Alexei Ratmansky. Beim American Ballet Theater kam 2012 Symphony No 9  von Ratmansky in Dekkers Design heraus, gefolgt von der Neuge­staltung von Massines Choreartium beim Bayerischen Staatsballett. Darüber hinaus ar­bei­tet Keso Dekker an einer Design-Konzeption für die für 2016 geplante Ausstellung 500 Jahre Hieronymus Bosch.

Franz-Xaver Schaffer Lichtgestaltung und Video

Franz-Xaver Schaffer wurde in Duisburg geboren und absolvierte eine Ausbildung als Elektriker. 1982 trat er sein erstes Engagement als Bühnenbeleuchter an der Deutschen Oper am Rhein an. 2002 wurde er Beleuchtungsinspektor und 2008 Beleuchtungsober­inspektor. Seit seiner Lichtkonzeption für Tobias Richters Inszenie­r ung von Richard Strauss’ Capriccio ist Franz-Xaver Schaffer für zahlreiche Eigenproduk­tionen des Theaters Duisburg verantwortlich und betreut die Ballettproduktionen in Duisburg und Gastspiele des Balletts im In- und Ausland.

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BALLETT ZÜRICH


Die vollständigen Biografien kÜnnen Sie im gedruckten Programmbuch nachlesen. www.opernhaus.ch/shop


FORELLENQUINTETT Choreografien von Douglas Lee, Jiří Kylián und Martin Schläpfer Premiere am 8. Februar 2O14, Spielzeit 2O13/14 Wiederaufnahme am 8. November 2O14, Spielzeit 2O14/15

Herausgeber

Intendant

Opernhaus Zürich Andreas Homoki

Zusammenstellung, Redaktion Michael Küster Layout, Grafische Gestaltung Carole Bolli Anzeigenverkauf Opernhaus Zürich, Marketing

Schriftkonzept und Logo

Druck

Textnachweise: Für dieses Programmbuch führte Michael Küster die Ge­ sprä­­che mit Douglas Lee und Roslyn Anderson. Ausserdem schrieb er den Text zu «Wings of Wax» und die Kompo­ nisten­­biografien. – Douglas Lee schrieb seinen Text für dieses Programmheft. Übersetzung: Michael Küster. – Ingo Neumayer: Science Fiction? Von wegen. Zitiert nach: www. planet-wissen.de/natur_technik/computer_und_roboter/ kuenstliche_intelligenz/tempx_ki_alltag.jsp (31.01.2014). – W.H. Auden: Musée des Beaux Arts. In: Wolf Biermann: Fliegen mit fremden Federn. Nachdichtungen und Adap­ tio­nen. Hamburg 2011. – Zitat Jíři Kylián. In: Programmheft «Portrait Jíři Kylián» des Bayerischen Staatsballetts. München 2002. – Anne do Paço: In einem Bächlein helle. Ge­­­dan­­ken zu Martin Schläpfers «Forellenquintett». In: Programmheft «Forellenquintett». Ballett am Rhein Düssel­­dorf Duis­burg 2010. – Christian Friedrich Daniel Schubart: Die Forelle. In: Christian Friedrich Daniel Schubart. Poesie-

Telefon 044 268 64 14, inserate@opernhaus.ch Studio Geissbühler Fineprint AG

album 213. Berlin 1985. – Karl Heinz Ruppel: Über Schuberts «Forellenquintett». In: ders.: Grosse Stunden der Musik. München 1975. – Den Essay «Der Marathonmann» schrieb Dorion Weickmann für das Magazin des Opernhauses Zürich (Ausgabe 15/Januar 2014). – Peter Härtling: Der Wanderer (gekürzt). In: ders.: Der Wanderer. Köln 1995. Bildnachweise: Bettina Stöss fotografierte die Klavierhauptprobe am 4. Februar 2014. – Die Compagnie wurde portraitiert von Sir Robin Photo­gra­phy. – Pieter Brueghel: Landschaft mit Sturz des Ikarus. Mit freundlicher Genehmigung der Bridgeman Art Library. – Douglas Lee: die arge lola – Jíři Kylián: Dirk Buwalda – Martin Schläpfer: Gert Weigelt Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nach­richt gebeten.


Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden und Obwalden. PARTNER

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Präzision. Das verbindet uns mit dem Direktor des Balletts Zürich. Seit Jahren begeistert das Ballett Zürich mit seinen Auftritten Ballettliebhaber rund um die Welt. Christian Spuck verbindet Inspiration mit Präzision, um gemeinsam mit seiner Kompanie immer wieder über die eigenen Grenzen hinauszugehen. Auch wir sind in allen Bereichen der höchsten Perfektion verpflichtet, um im Interesse unserer Kunden immer einen Schritt voraus zu sein. Deshalb unterstützt UBS das Ballett Zürich seit 1997 als Partner.

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