MAG 19: Il ritorno d’Ulisse in patria

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Editorial 1

Der Revolutionär Verehrtes Publikum, eigentlich ist die Oper ein Irrtum. Denn als Kunstform ist sie aus einem Irrtum entstanden. Die Gelehrten der Floren­ tiner Camerata hatten Ende des 16. Jahrhunderts vor, das griechische Drama und die griechische Musik wiederzube­ leben. Sie sehnten sich nach Einfachheit, erhabener Textde­ klamation und antiker Grösse und wollten der damaligen Dominanz der Vokalpolyphonie den begleiteten Sologesang, die sogenannte Monodie, entgegensetzen. Aber ihr konser­ vativ sehnsüchtiges Zurück entwickelte sich zu einem revo­ lutionären Voran. Die Akademiker hatte nach dem Alten gesucht und den Impuls zu etwas tiefgreifend Neuem ge­ geben. Aus der Monodie erwuchs die Oper. Die Camerata hat allerdings nur die Zündschnur zur Ent­wicklung der vierhundert Jahre alten Operngattung ge­ legt. Den spektakulären Urknall gezündet hat ein anderer  – Claudio Monteverdi. Der gebürtige Cremoneser hat die Früh­form der Oper sogleich mit all dem aufgeladen, was bis heute ihre Faszination ausmacht: packende Dramatik, herz­ zerreissende Emotionen, formale Schönheit, betörende Virtuosität des Gesangs. So sinnlich und expressiv und Ichbewusst wie bei Monteverdi war der singende Mensch zuvor noch nie in Erscheinung getreten. Es ist schier unfassbar, wie es dem musikalischen Genie Monteverdi gelingen konn­te, die Kunstform aus der Taufe zu heben und sie zugleich zu ihrer frühen Vollendung zu führen. Monteverdi gehört un­ bestreitbar zu den grössten Revolutionären der Musikge­ schichte. In seinem Verständnis von Kunst war es selbstverständ­ lich, Regeln nicht zu befolgen, sondern sie kühn zu überschrei­ ten, erschlossenes Terrain nicht zu bewirtschaften, sondern

Grenzen zu überschreiten. Ganz so wie es sein erster Opern­ held Orfeo mit seinem berühmten Bittgesang am Ufer des Styx tut: Er versetzt den Fährmann Caronte mit seinem steinerweichend schönen Gesang in den Schlaf und verschafft sich – gleichsam durch Kunst – den Eintritt in das Reich der Toten. Mit dieser Urszene hat Monteverdi schon in seiner ersten Oper den Anspruch formuliert, dass die Gesangskunst jede Grenze zu überschreiten vermag. Zu den Unglaublichkeiten, die sich um den Komponis­ ten ranken, gehört freilich auch, dass er trotz seiner Bedeu­ tung für die Musikgeschichte bald nach seinem Tod in völ­lige Vergessenheit geriet. Erst im 20. Jahrhundert fingen Exper­ ten wieder an, sich für ihn zu interessieren. Und am Opern­ haus Zürich hat die Monteverdi-Wiederentdeckung, die sich in den letzten 30 Jahren zu einer regelrechten Monteverdi-­ Begeisterung ausgewachsen hat, einen entscheidenden Schub erhalten, denn hier haben Nikolaus Harnoncourt und JeanPierre Ponnelle Mitte der siebziger Jahre einen legendären Zyklus mit allen drei erhaltenen Opern des italienischen Komponisten auf die Bühne gebracht. Deshalb ist es für uns Vergnügen und Pflicht zugleich, die Zürcher Monteverdi-Tradition zu pflegen und fortzu­ schrei­ben. Wir tun das mit unserer Neuproduktion von Il ri­torno d’Ulisse in patria, die am 17. Mai Premiere hat, mu­ ­sikalisch geleitet von Ivor Bolton und inszeniert von Willy Decker. In unserem aktuellen MAG finden Sie, wie immer, viele Informationen rund um die Künstler, den Komponisten und die Hintergründe des Werks. Viel Vergnügen bei der Lektüre wünscht Claus Spahn

MAG 19/ April 2O14 Unser Titel zeigt Willy Decker, ein Interview mit dem Regisseur lesen Sie ab Seite 14 (Foto Florian Kalotay)


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