MAG 11: Die Soldaten

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Geniale Stelle 27

Geheimnisvoll einstimmig Eine Tonfolge aus dem ersten Akt von Vincenzo Bellinis «La straniera»

Bellinis Musik ist immer essentiell und auf das Wesentliche reduziert. Das gilt auch für die selten gespielte Oper La straniera, die ich kompositorisch für ein bahnbrechendes Werk halte – Bellini zeigt sich hier so radikal, unkonventionell und experimentierfreudig wie in kaum einer seiner anderen Opern! Eine besondere Stelle findet sich im ersten Akt der Straniera. Es handelt sich um eine einstimmige Linie in den Violinen, Bratschen, Celli und Kontrabässen, die sehr leise und zart zu spielen ist, mit einem kleinen Seufzermotiv am Anfang. Auch wenn nach vierzehn Takten die Stimme der Sängerin hinzutritt, bleibt es bei dieser Einstimmigkeit im Orchester, ganz ohne jede harmonische Ausfüllung. Handelt es sich hier um eine Begleitfigur? Um eine Melodie? Ist es ein Vorspiel? Die Tonabfolge ist schwer einzuordnen, wie so vieles in dieser Oper. Für mich ist es eine Melodie, bei der man nie so recht weiss, wo man landen wird. Wie ein Perpetuum mobile zieht sie sich über vier Klavierauszug-Seiten und wird nur zweimal durch ein rhythmisch verwandtes Arioso kurz unterbrochen. Dieser Melodie wohnt etwas kreisend Irreales inne. Die Passage ist exemplarisch für die Atmosphäre des Romantisch-Geheimnisvollen in dieser Oper. Sie klingt neblig und fahl und wird nicht durch die Verwendung eines Dämpfers erzeugt, sondern allein durch die tiefe Lage in den Streichinstrumenten, die per se nicht brillant ist. Ich finde, dass diese Stelle schon weit in die Zukunft des modernen Musiktheaters weist, denn der Orchesterpart beleuchtet hier die innere Welt der Figuren: diejenige der Straniera,

der verbannten Königin von Frankreich, und ihres Bruders Valdeburgo. Man hört die innige, ja verschwörerische Verbindung zwischen den beiden Geschwistern, die sich nach langer Zeit zufällig wieder gefunden haben und gemeinsam fliehen wollen. Gleichzeitig mutet dem Motiv durch seine ständige Wiederkehr etwas Schicksalhaftes an. Tatsächlich werden die beiden in dieser Szene von Arturo beobachtet, der Valdeburgo fälschlicherweise für seinen Rivalen hält und ihn kurze Zeit später zum Duell herausfordern wird. Auch in formaler Hinsicht ist die Stelle äusserst unkonventionell, denn eigentlich erwartet der Zuhörer vor einem Finale ein Rezitativ. Bellini unterläuft diese Erwartung jedoch, indem er dem eigentlichen Finale dieses Terzettino voranstellt – ein Bruchstück eines Rezitativs erscheint dann erst sehr versteckt zu einem späteren Zeitpunkt, mitten im Finale. Das ist etwas sehr Untypisches für die italienische Oper dieser Zeit und lässt durchaus an Carl Maria von Weber denken, der dieses Terzettino wohl «Szene» genannt hätte. Für mich ist das einmal mehr ein Beweis für die europäische Dimension Bellinis, die ihn in diesem Punkt auch deutlich von Donizetti unterscheidet – Bellini war auf jeden Fall der reifere und komplettere Musiker!   Fabio Luisi


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