Musikdorf Ernen | In memoriam György Sebök

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In Erinnerung an György Sebök* Text: Jean Piguet

Als ich an der Indiana University erstmals den Saal betrat, in dem er seine Kammermusikkurse erteilte, wusste ich überhaupt nichts über ihn. Von anderen Studenten hatte ich lediglich gehört, dass sich dort Besonderes ereigne. Kaum stand ich auf der anderen Seite der Türe, begriff ich sofort, dass dies ein ganz besonderer Raum war und dass dieses Besondere von einem kleinen Mann ausging, der bescheiden, aber unerhört präsent hinten im Saal sass und alles mit wohlwollendem Scharfsinn beobachtete. Dieser Mann war György Sebök. Beim Unterrichten hatte er denselben durchdringenden Blick, diese Fähigkeit, in den Gedanken seiner Schüler zu lesen und physische oder psychische Hindernisse, die sie an der vollen Umsetzung ihrer musikalischen Absichten hinderten, sofort aufzuspüren – ganz gleich, ob sie Geiger, Pianisten oder gar Saxophonisten waren! Nie hielt er sich lange an Einzelheiten auf, immer ging er stracks auf das Wesentliche los, obwohl die Wege dahin auf den ersten Blick oft krumm oder gar abwegig schienen. Wenn er sich ans Klavier setzte, um sein Denken verständlich zu machen, öffnete sich, selbst nach dem Vorspiel eines Schülers von höchstem Niveau, eine andere Welt. Mitte der achtziger Jahre hatte er eine Zukunftsvision: ein Kammermusikfestival in Ernen, und zwar mit jenen früheren Schülern, mit denen ihn eine besondere Gemeinsamkeit verband – gewissermassen ein Wunschtraum für ein Dorf mit 400 Seelen. Hätte er wohl gedacht, dass er dieses Festival 13 Mal selber leiten würde? Vielleicht, aber jedenfalls würde es nach ihm nicht mehr weiterbestehen. Das war sein einziger Irrtum. Offen gestanden: Wir hatten schon unsere Zweifel am Fortbestand, denn schliesslich war György Sebök der Motor und Inspirator, ja die Seele des Festivals. Völlig einig waren wir uns jedoch im Bestreben, das Festival im Geist seines Gründers am Leben zu erhalten. Der Erfolg der 12 Fortsetzungen, die seither stattgefunden haben, hat uns recht ge4

geben. Das Musikdorf Ernen wurde sogar beträchtlich erweitert, zu einem wesentlichen Teil dank der Begeisterung, der Beharrlichkeit und dem einmaligen Organisationstalent von Francesco Walter. Wenn wir, die das Privileg hatten, mit ihm zu musizieren, uns an György Sebök erinnern, sehen wir in ihm nicht nur einen grossen Musiker, sondern auch einen weisen und wahrhaftigen Musikphilosophen. Unsere grosse und tiefe Dankbarkeit gilt diesem Mann, der unser Leben bereichert, verschönert, ja verwandelt hat.


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