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the long distance howl 2003-2013 the track: axiom | s端dost


the track: axiom | südost [...] Vorweg ein paar gesicherte Aspekte: Ich hatte auf dem Balkan nie ein besseres Büro als die Gaststube des „Dunavski Pirat“, wo die Fischsuppe, das Bier und der Kaffee nie versiegten. Fischsuppe muß ich immer haben, wenn ich auch bloß in die Nähe von Gewässern komme. Ein Haus, das zur Hälfte auf Stelzen steht, weil der breite Fluß gelegentlich stark ansteigt. Der „Pirat“ befindet sich nahe Beograd, allerdings jenseits der Donau, auf der Seite, die nach Pancevo weist. Wenige Schritte davon entfernt liegt das Areal, auf dem sich das Kollektiv „Treci Beograd“ sein Haus der Kunst erbaut hat. Ich fand Gelegenheit, einige Schrauben und Nägel beizutragen. Trunken und fröhlich.

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Es waren die Tage, als wir „Treci Beograd“ und die „Kollektiven Aktionen“ zusammengebracht hatten, was wir, auf die weiteren Vorhaben bezogen, in einem freundlich gehaltenen Vertrag festschrieben. Egal, wo ich gerade bin, meine Erinnerungen ziehen stets Schleifen und durchsetzen die Gegenwart mit Teilchen älterer Ereignisse. Wir sind gerade auf dem Weg zu jenem Gleisdofer Kunstsysmposion, das uns am Vorabend zum symbolträchtigen Jahr 2014 einige Klarheiten für den Rückblick auf 1914 bescheren soll. Das führt, wie angedeutet, auch real auf balkanischen Boden, wofür es mehr Gründe gibt als mir gerade einfallen. [...]

Aus Martin Krusches Logbüchern, auf dem Weg zum Gleisdorfer Kunstsymposion 2013


ein wort an einer fernen stelle wo niemand mehr des weges kommt ein blinder fleck in der erinnerung schon sieht man nichts mehr auf den bildern und das gerede ist verstummt

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cover your eyes!

wenn es sich anfĂźhlt wie stahl im fleisch muĂ&#x; man vielleicht ganz leise werden und weich wie sand

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kein haken h채lt in solchem grund nur sternenstaub

nach solchen wesen greift man nicht man tr채umt sie sich bis regen f채llt und einen weckt

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Die ersten Elemente • • • • • •

Der Begriff Der Ort der Muße Die letzte Bibliothek Der handelnde Künstler Das Bündel Geschwätzigkeit Die blinde Sendung

2013 erstmals angeordnet in der Galerie Einraum, Gleisdorf

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Einzelner als Viele

Künstlerische Praxis als Raumphänomen Von Mirjana Peitler-Selakov Heutzutage scheint es, dass die Institution Museum sich die Kultivierung von Nostalgie zum Ziel gesetzt hat, die Erzeugung aufpolierter kollektiver Erinnerung, das Nähren unkritischer ästhetischer Empfindsamkeiten und die Absorption künftiger Entwicklungsmöglichkeiten an einem konfliktfreien Schauplatz. So betrachtet ist eine museale Ausstellung nicht unbedingt ein für sich sprechendes Medium zur Zusammenfassung der künstlerischen Praxis eines einst Netzkunstpioniers und Kulturaktivisten. Die Produktion und Distribution aus einem autonomen, aktivistisch-künstlerischen Engagement schließt jedoch die Nutzung institutioneller Strukturen und Ressourcen nicht aus; die Nutzung von Einrichtungen, in denen politischer Aktivismus nicht durch eine ausschließliche Reduktion auf Subversionen

innerhalb des institutionellen Rahmens oder symbolische Überschreitungen hinauslaufen muss. In dieser Ausstellung geht es nicht um „Repräsentation“ oder „Illustration“ eines Einzelnen, sondern um die Visualisierung des Einzelnen als Ensemble seiner gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse. Der Einzelne ist hier Vermittler und Mediator einer Idee, welche zur Fähigkeit der Menschen zur Selbstorganisation beiträgt, welche Inspiration und Motivation teilen lässt und welche dabei hilft, den Bereich des Benennbaren und Sagbaren auf einen partizipatorischen und innovativen Wege zu erweitern. Das geschieht genau so, wie die künstlerischen Experimente dabei helfen, die Bereiche des Wahrnehmbaren und des Ausdrückbaren zu erweitern. Schon vor zwanzig Jahren stand bei Martin Krusche das Experi7


mentieren mit dem Schreiben, im Geben und Nehmen eines autonomen Austauschs, vor den neuen Horizonten der Selbstorganisation. Und zwar mit der Absicht, seine Gigabyte-Brocken in einen sich ständig verändernden und antwortenden Mix namens Internet zu werfen, um eine Art des Lebensgenusses von Krusche zu sein. Der parallel öffentliche Raum, welcher aus der experimentellen Nutzungen des Netzes hervorging, entwickelte sich für ihn zum Raum für Kritik. Kritik der Kunst, hinsichtlich ihres normativen Rahmens, Kritik des Mediums selbst, bis zur gesellschaftlichen Kritik, immer aber von konkreten Umständen ausgehend. Aus dem Kritiküben ergab sich für den Künstler die Notwendigkeit des aktiven Handelns. Krusches Arbeit an der Gemeinschaft kennt keine fixe Form, sie kann nur ihrem Bestreben nach vorgesehen werden. Das endgültige Erscheinungsbild der Arbeit ist für ihn ohne jede Bedeutung. Umso schwieriger ist es, seine

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Bestrebungen, die Jahrzehnte konsequenter Arbeit umfassen, in einen musealen Raum hineinzupressen und die Kontinuität einer fließenden Erzählung zu unterbrechen, um den Akt der Reterritorialisierung praktisch umzusetzen. Denn hier ist die Rede von mehreren ineinander verknüpften Prozessen, die sich zwischen virtuellen und realen (öffentlichen) Räumen ereignen. Manche davon verschwinden temporär, um nach einiger Zeit wieder aufzutauchen, um dann weitere Prozesse und neue Erzählungen zu initiieren. Krusches Kulturproduktion im weitesten Sinne setzt kollektive Arbeitssituationen und mehr oder weniger kooperative sowie selbstorganisierte Modelle voraus. Es gibt einen Konsens hinsichtlich des fundamentalen kollektiven Charakters von Kunst, sowohl in Bezug auf die sozialen Vermittlungsinstanzen als auch in Bezug auf die soziokulturellen Entwicklungen und Werte, die er vertritt. In seinem Werk ist eine Reihe von Widerstandsformen zu finden, wie zum Beispiel Autonomie gegenüber dem etablierten Kunstbetrieb oder Kritik des bürgerlichen Konzepts vom öffentlichen Raum. Er setzt auf nicht-hierarchische Prozesse der Gestaltung einer Kollektivpolitik, Selbstregelung und Selbstaufwertung der Aktionen – kurz


gesagt, er setzt auf Widerstand gegen den herrschenden Marktmechanismus, für den ein Wert immer noch in der Autorenschaft des „künstlerischen Genies“ besteht.

durch eine Strategie mehrseitig ausgerichteter Isolation und/ oder des Eroberns und Aneignens eines Raumes, der politische Qualitäten besitzt, verändert.

Im Allgemeinen ist Krusches Arbeit eine bestimmte räumliche Strategie immanent. Sie impliziert eine räumliche Schaffung, bei der es oft, aber nicht ausschließlich, um physischen Raum geht, um die Entwicklung von Raummetaphern.

Wie Krusche über die verschiedenen Strategien und Verfahren nachdenkt, mit deren Hilfe die Schaffung eines autonomes Feldes ermöglich wird, pendelt auch die innere Struktur seines Werkes zwischen den jeweiligen Dynamiken von Isolation und Okkupation. Beide Vorgehensweisen streben das gleiche Ziel an, nämlich einen Raum der Autonomie als Feld intensiver menschlicher und sozialer Interaktionen zu schaffen.

Seine Arbeit kann als ein räumliches Phänomen gesehen werden, das auf Widerspruch oder auf Erweiterung hin orientiert ist, indem es die räumlichen Qualitäten

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Während Maßnahmen der kollektiven Okkupation eine Reihe kollektiver Strategien zum direkten Einnehmen, Aneignen und Erobern öffentlichen und ideologischen Raumes bieten, funktioniert die Isolation als ein Prozess der Absonderung von Anderen, in welchem Fall „Exkursionen“ in die Außenwelt möglich sind. Dieser „Eskapismus“ in Krusches Arbeit entspringt nicht dem Bedürfnis nach Abgrenzung als solcher, sondern ist als Antwort auf Kontrolle und Machtmechanismen, als eine Suche nach einem Raum, der nicht von Ideologie und Kapital kontaminiert ist, zu verstehen. Die Strategien von Isolation und Okkupation, von Kontemplation und Aktion funktionieren nicht voneinander getrennt, sondern vielmehr dialektisch. Sie reflektieren somit die eigentliche Dynamik seiner künstlerischen Prozesse. Die räumliche Strategie von Krusche kennt verschiedene Handlungsbereiche. Vom physischen Raum der Stadt, in dem wir zu leben verurteilt sind, über Randzonen des Verbotenen, hin zu geopolitischen 10

Raumkonstruktionen mit ihrer irreführenden Homogenität und der Mikropolitik des Gemeinwesen, bis zu einem Raum physischer, historischer und ideologischer Sichtbarkeit und/oder Ausgrenzung. Die Produktion von Raum vollzieht sich als ein Kampf und eine Ausübung von Rechten, um die zugewiesenen räumlichen Verhältnisse, um territoriale Formen, kommunikative Kapazitäten und Regelungen in einer Weise umzugestalten, die den Raum von einem reinen Handlungsrahmen in geeignete relative und relationale Aspekte des Soziallebens überführen. Wenngleich der Kontext dieser Ausstellung ebenso durch komplexe Überschneidungen zeitgenössischer und historischer Perspektiven wie durch die kulturellen und geopolitischen Parallelen und


gung eines autonomen Objektes beschäftigt ist.

Divergenzen verschiedene Örtlichkeiten definiert ist, so unternimmt sie doch nicht den Versuch, zu einer homogenen und abgeschlossenen „Entwicklungsgeschichte“ von Krusches Arbeit zu gelangen. Vielmehr bietet sie eine bestimmte „kollektiv-subjektive“ Vision, welche die einzelnen Positionen als Referenzpunkte umfasst und operative Methoden und Strategien untersucht, die mit Schwerpunkt auf Parallelen, substanziellen Wiederholungen und diversen Formen von künstlerischen und kulturellen Archiven in der Gegenwart wirksamen Nachhall finden. In dieser Hinsicht soll die Ausstellung nicht als Retrospektive wirken, sondern als Versuch mögliche Zukunftsstrategien zu umreißen. Wir stehen hier vor einem künstlerischen Akt, der weder sich selbst zugewandt, noch mit der Erzeu-

Stattdessen befasst sich der Künstler mit der Schaffung von neuen sozialen Feldern, von „Mikrokosmen“, die weniger physische, sondern eher symbolische „Nebenfelder“ sind. Diese können nur durch gemeinsame Anstrengungen geschaffen werden und nur durch diese erhalten bleiben. Hier geht es um den permanenten Aufbau eines offenen, freien Raumes, wo nicht nur Raum für Dialog geschaffen werden muss, sondern der Dialog selbst sich ereignen soll, samt allen Konflikten und Auseinandersetzungen, die das mit sich bringt. Denn bloß einen Raum für Möglichkeiten zu schaffen reicht nicht. Die Möglichkeiten müssen konkreter werden. Daran arbeitet Martin Krusche. Mirjana Peitler-Selakov ist Kunsthistorikerin, Kuratorin und Diplomingenieurin der Elektrotechnik. In der einen Eigenschaft war sie beispielsweise leitende Kuratorin des Medienkunstlabor (MKL) im Kunsthaus Graz. In der anderen war sie mit Bereichen der Automobilentwicklung und Funktionaler Sicherheit befaßt. Gründerin des GISAlab (Girls in Science & Art).

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Ein weiterer Indikator für das mangelnde Vertrauen in staatliche Institutionen ist die “magische” Kraft des Stempels. In meiner beruflichen Tätigkeit bin ich immer wieder auf dieses Phänomen gestoßen. Es wäre höchst interessant, die Kulturgeschichte des Stempels auf dem Balkan genauer zu erforschen. Ein Schreiben, ganz gleich, was in diesem festgehalten wird, wird als sehr dubios angesehen, wenn es zwar eine Unterschrift, aber keinen Stempel aufweist. Dies gilt nicht nur im Verkehr zwischen der Behörde und den Klienten, sondern auch unter den Behörden. Karl Kaser: “Freundschaft und Feindschaft auf dem Balkan” 2001

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sprachlos über leere brücken hab noch münzen in den taschen für ein billiges gedeck abends macht der wein mich trunken wünsch mich an den fluß zurück schweigsam über altem wasser

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fänge des nebels reißen kleine gedanken aus mir die laß ich auf den wegen als eine gabe dem vergessen und um dem zufall raum zu geben so geht das schon jahrzehnte seit ersten stürmen da war ich so jung und verwundbar ich hätte an küssen sterben können nun bin ich selbst ein sturm der stille bin eine klinge in den bächen und träume nachts vom schweigen das macht mich tags gesprächig 14


Alle Texte von Martin Krusche, außer Seite 7: Einzelner als Viele (Künstlerische Praxis als Raumphänomen) von Mirjana Peitler-Selakov und Seite 12: Zitat von Karl Kaser. Alle Bilder von Martin Krusche, außer Seite 3: Martin hat Tito gesehen, Unikat von Nikola Dzafo und Seite 12, oben: Axiom, Diptychon von Selman Trtovac. Die Bilder im Detail: Seite 1: Nikola Dzafo in Novi Sad, Seite 2: Das Prizren-Messer, Seite 4: Hannes Schwarz (Feature) und Bildserie Cover Your Eyes!, Seite 6: Elemente von Axiom (Galerie einraum). Seite 7: Elemente von Axiom (Galerie einraum), Seite 8: Mirjana Peitler-Selakov, Seite 9: Ein Moment in Novi Sad, Seite 10: Ein Mo-

ment in Gleisdorf, Seite 11: Elemente von Axiom (Museum im Rathaus) Seite 12: Ich kann das auch, Prozeß mit Selman Trtovac (Foto rechts oben), Seite 13: Momente von The Track: Axiom │ Südost, Seite 15: Imperium, Anordnung bei The Track: Axiom │ 2014, Seite 16: Schluß-Szene von The Track: Axiom │ Südost. Impressum 2014 │ kultur.at: verein für medienarbeit Florianiplatz 8, 8200 Gleisdorf ISBN: 978-3-902-423-04-7 Kofinanziert aus Mitteln des Landes Steiermark. Eine Publikation zu The Track: Axiom │ Südost im Rahmen von The Long Distance Howl: www. van.at/track/howl

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kuratorium für triviale mythen │ band #2 martin krusche │ the track: axiom isbn: 978-3-902-423-04-7


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