Migros Magazin 15 2011 d LU

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100 | Migros-Magazin 15, 11. April 2011

SERIE Reproduktionsmedizin schon ansatzweise geklappt hat. Im Labor erzeugten Forscher auf diesem Weg bereits Mäuse, wenn auch nur mit grossen technischen Schwierigkeiten. Bekannte Stammzellenforscher wie Miodrag Stojkovic sind über das Ergebnis dennoch hocherfreut. «Grundsätzlich funktioniert es, das ist erst einmal das Wichtigste», erklärte er gegenüber der «Süddeutschen Zeitung». Es zeige, dass die Probleme nicht biologischer, sondern technischer Natur seien. «Und an der Technik lässt sich schliesslich noch feilen.» Und diese Technik lässt die revolutionäre Technik, mit der das bekannte Schaf Dolly (siehe Seite 102) 1996 geklont wurde, alt aussehen. Darin sind sich führende Forscher einig: «Die ethische Diskussion über die Verwendung von Klonen als Ersatzteillager hat sich erübrigt», wie De Geyter stellvertretend sagt. «Es benötigt keinen ganzen Organismus, wenn man nur ein Ersatzteil will.» Denn es ist das erklärte Ziel der regenerativen Medizin, Ersatzteile zu züchten. Der 54-jährige Professor ist überzeugt: «In 30 Jahren können wir zum Beispiel eine Ersatzniere aus umgewandelten Hautzellen wachsen lassen.»

Mit Stammzellentests gäbe es keine Contergan-Kinder

Die aus Hautzellen oder jeder anderen Zelle erzeugten Stammzellen können aber noch mehr. Zum Beispiel lassen sie sich als Testzellen für Medikamente einsetzen. «Heute kommen Medikamente auf den Markt, ohne dass wir wissen, wie sie auf Keimzellen – also embryonale Zellen – wirken», so Christian De Geyter. Der Skandal um das Medikament Contergan ist nur ein Beispiel einer solchen Fehleinschätzung. Contergan wurde Ende der 50er-Jahre als harmloses Beruhigungs- und Schlafmittel vor allem auch als Mittel gegen die morgendliche Schwangerschaftsübelkeit verkauft. Der Wirkstoff Thalidomid galt aufgrund vieler Tierversuche als besonders sicher. Ein fataler Irrglaube: Je nach Schätzung kamen weltweit bis

1978: Das erste Retortenbaby

Bei ihrer Geburt ging ein Aufschrei durch die Bevölkerung: Am 25. Juli 1978 kam das erste in einem Reagenzglas gezeugte Baby zur Welt. Robert Edwards, einer der Erzeuger von Louise, bekam 2010 den Nobelpreis für diesen wichtigen Schritt in der Reproduktionsmedizin. Zusammen mit dem 1988 verstorbenen Patrick Steptoe ebnete er den Weg, um unzähligen unfruchtbaren Paaren den Kinderwunsch zu erfüllen.

zu 10 000 Kinder mit schwer missgebildeten Gliedmassen zur Welt. Ihnen fehlten Arme oder Beine und die zumeist verkrüppelten Hände oder Füsse wuchsen direkt aus den Schultern oder der Hüfte. Bei Mäusen – also den üblichen Versuchstieren – erzeugt Thalidomid keine Fehlbildungen bei den Ungeborenen. Versuche mit menschlichen Keimzellen hätten den Irrtum aufgedeckt. Das ist nur eines der Gebiete in denen De Geyter iPS im Einsatz sieht. «Auch industrielle Produkte wie Weichmacher in Kunststoffen könnte man so auf ihre Wirkung auf ungeborenes Leben testen.» Und das ganze ohne die ethische Diskussion. «Heute», schreibt dazu Davor Solter, Entwicklungsbiologe am Institut für medizinische Biologie in Singapur, «können wir mit menschlichen Embryonen nicht experimentieren. Das gilt als moralisch verwerflich.» Ganz abgesehen davon, dass diese Zellen schwer zu bekommen seien. IPS hingegen

könnten aus Hautzellen produziert werden. Davor Solter denkt aber noch etwas weiter. Denn iPS gelten als normale, gezüchtete Zellen. Also könnte auch niemand etwas dagegen einwenden, wenn an diesen Zellen genetische Veränderungen vorgenommen werden. Sie könnten zum Beispiel dazu benutzt werden, um für Forschungszwecke mutierte Embryonen zu erzeugen. «Und es wären einfach Forschungsobjekte und sie würden behandelt wie Objekte.» Doch ganz wohl bei diesem Gedanken scheint es auch dem Professor nicht zu sein: «Ich habe keine Ahnung, welche moralischen Werte oder Rechte wir diesen Embryonen zugestehen würden.» Dasselbe Dilemma zeigte sich schon einmal vor rund 33 Jahren. «Superbaby», wie die Medien das kleine Mädchen nannten, erblickte am 25. Juli 1978 das Licht der Welt. Die Eltern bevorzugten den weniger spektakulären Namen Louise Joy Brown für das erste im

Reagenzglas erzeugte Kind (siehe Box oben). Dazumal eine Sensation und ein Skandal, heute völlig normal. Genauso, denkt Solter, wird es vielleicht in 30 Jahren normal sein, wenn in den Zeitungen steht, dass jemand 20 000 Embryonen gezüchtet hat, um an ihnen zu forschen. «Wir werden es als richtig empfinden.»

Schwangerschaften ohne Mutter bald möglich?

Genauso als richtig empfinden könnte man in 30 Jahren die künstliche Gebärmutter. Dabei kann sich Davor Solter einen Fötus vorstellen, der in einer Flüssigkeit in einem Behälter schwebt und dessen Nabelschnur in einer Maschine endet. Eine Vorstellung, die auch für Scott Gelfand, den Direktor des Ethik-Zentrums der Universität Oklahoma, alles andere als abwegig ist. Schon heute überleben Frühgeburten ab 22 Wochen Schwangerschaft. Forschungen gehen dahin, dass in Zukunft vielleicht schon nach


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