ATLAS 03 Deutsch

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ATLAS

Die WeLT beWegT: DAS MAgAzin von gebrüDer WeiSS

Leidenschaft rAiner grooThuiS

Käse für Berlin AnDreAS ALTMAnn

»Nie kuhblöd an der Wirklichkeit vorbei.« WoLfgAng nieSSner

»You better start swimming or you’ll sink like a stone.« hArALD MArTenSTein

Feuerläufer, Fallschirmspringer und heiße Fußsohlen Außerdem: Rockstars, Radsport, das Gold des Nordens und die Liebe zum Detail

AuSgAbe 03



»Ich bin einfach lebendiger als die meisten ­a nderen. Ich bin ein störender Zitteraal, den es in einen Goldfischteich verschlagen hat.« Edith Sitwell

Ein Meter achtzig groß, extrem schlank, in rauschende Samt- oder Brokatgewänder gehüllt, die so gar nicht in die Mode der Zeit passen, den Kopf oft gekrönt von phantastischem Federschmuck, die Hände und Arme behängt mit unzähligen über­ großen Ringen und Reifen: Dame Edith Sitwell, britische Adlige, Essayistin und Dichterin (1887–1964), machte sich mit ihrem Auftreten und dem passi­o­ nierten Einsatz für moderne Kunst und Dichtung zeitlebens nicht nur Freunde. Aber: »Warum sollte man versuchen, wie ein ­Pekinese auszusehen, wenn man ein Windhund ist«, fragte sie und bekannte sich zur höchstmöglichen Stilisierung ihrer selbst.


»Das zu machen, was andere auch können, ist nicht besonders interessant. ­ Viel inspirierender ist es doch, auf ganz neue Art etwas aus dem Nichts zu erschaffen.« Sergej Bobkov

Sergej Bobkovs Leidenschaft erfordert vor allem eins: eine absolut ruhige Hand. Damit erweckt er in mühevoller Kleinarbeit atemberaubend detailreiche, lebensgroße Tierskulpturen aus einem simplen ­Rohstoff zum Leben – Holzspäne. Bis zu 12 Stunden am Tag widmet sich Bobkov seiner Kunst, legt die Späne in Wasser ein und formt sie dann so, dass sie sich in das entstehende Kunstwerk einfügen. Und auch wenn ihm schon große Summen für seine Tiere geboten wurden, lehnt Bobkov deren Verkauf ab. Was Sergej Bobkov erschafft, das erschafft er ­ausschließlich für sich.




»Privat wünsche ich mir einen Ehemann, Kind und Haus – nichts Besonderes, aber genau das, was einen im Leben eben wirklich erfüllt.« Lexy Hell

Es waren die Ganzkörper-Tätowierungen der japa­ nischen Yakuza-Mafia, die Sandra Müller aus der ­Steiermark zu ihrer Leidenschaft für Körperkunst inspiriert haben: Bereits mit 16 Jahren lässt sie sich heimlich das erste Tattoo stechen, es folgen zahl­ lose weitere. Um als Tattoo-Model durchzustarten, zieht sie von Österreich nach Berlin. Hier wird aus dem Mädchen aus der Provinz die selbstbewusste Lexy Hell, die als Bardame in einem Swingerclub arbeitet und als Model abhebt: Sogar für den Modeschöpfer Jean Paul Gaultier ist sie gelaufen. Ihre Träume aber sind bodenständig geblieben.


Richard Stadelmann ist bereits seit 17 Jahren als Lagermitarbeiter bei GW Lauterach tätig. Dass er seinen Dienst damals ausgerechnet zum Faschingsbeginn am 11. November angetreten hat, scheint mehr als passend: Stets bewahrt er die Nerven und nimmt die Welt nicht ernster als nÜtig.


L

eidenschaft hat viele Gesichter, und passionierte Menschen finden sich fast überall.

Auch vor u ­ nserer Haustür in Vorarlberg. So haben wir ­Gerhard Beer getroffen, der die besonderen der ­regionalen Produkte des Bregenzerwaldes entdeckt und nach Berlin fährt. Radprofi Andreas Müller wiederum hat Berlin

­verlassen, um sich dem Team Gebrüder Weiss – Oberndorfer anzuschließen, und auch für die Schauspielerin Angelika Niedetzky ist Bewegung ein Glanzlicht im Alltag. Und einer der besten Reiseschriftsteller, Andreas Altmann, erzählt uns davon, dass gerade das Unterwegssein in der Welt ein g­ roßes Glück ist. Dies und mehr finden Sie in dieser, der dritten ­Ausgabe unseres ATLAS. Wir hoffen, Sie haben Freude daran.

Herzlich, Gebrüder Weiss

PS: Wir selbst berichten nicht ohne Stolz von einem ­Branchen-Oscar, der dem ATLAS verliehen wurde: Aus über 700 Einreichungen wurde er mit dem Best of Corporate Publishing Award 2014 in Gold in der ­Kategorie »B2B – Handel/Transport/Logistik« aus­ gezeichnet. Darüber freuen wir uns sehr – denn genau das ist ja so schön an der Leidenschaft: Irgendwann zahlt sie ­sich aus.


geschifft

gesäubert

gewachsen

Den Suezkanal passierten 2013 16.516 Schiffe, darunter diese Anzahl an Containerschiffen:

Jährliche Ausgaben der Deutschen Bahn AG für die Beseitigung von Graffiti, in Millionen Euro:

Das Wachstum des Welthandels 2013 ist um 2,1 % gestiegen, die Prognosen für 2014 liegen bei

6.014

50

4,7 %

Quelle: Welthandelsorganisation

Infrastruktur

Vorhandene Verkehrswege auf Autobahnen und Binnengewässern. russland

rumänien

17.075.400 km2

30.000 km

238.391 km2

1.270 km

101.000 km

1.590 km

ungarn

93.030 km2

280 km

1.780 km

rekorde I

gezahlt

gesteigert I

Das größte Objekt, das je in der Luft transportiert wurde, sind die NASA Space Shuttles mit einer Länge von 37,23 m, die von verschiedenen Landebahnen zurück nach Cape Canaveral transportiert werden. Die Shuttles wiegen 100 t und werden einer Sonderanfertigung der ­Boeing 747 aufgesetzt.

jährliche Ausgaben pro Einwohner für das natio­ nale Schienennetz 2013 in Österreich, Deutsch­ land und der Schweiz:

Der Bereich Air & Sea von GW hat im Jahr 2013 eine Volumensteige­ rung um 30 % im Vergleich zum Vor­jahr erzielt. Abgewickelt wurden

54 €

: 100 t

L: 37,23 m

199 €

Quelle: Guinness-Buch der Rekorde

gehandelt

Die drei umsatzstärksten Häfen in der EU waren im Jahr 2013 in Millionen TEU :

3.

1. Rotterdam: 11,62

1.

366 €

125.000 Seefracht-Container (TEU) gesteigert II

Der Flughafen Wien konnte im ersten Halbjahr 2014 im Bereich Luftfracht und Luftpost deutlich zulegen. Eine Steigerung um 6,4 % gegen­ über dem ersten Halbjahr 2013 konnte erreicht werden. Umge­ schlagen wurden

130.795 t Güter

2.

rekorde II

2. Hamburg: 9,26 3. Antwerpen: 8,58

Der Brite David Morgan hat die größ­te Sammlung an Verkehrs­ hütchen und besitzt zwei Drittel der jemals produ­zierten Modelle, nämlich

137 verschiedene Hütchen

Quelle: www.statista.com

Befahren

Die Schienentransportleistung im Jahr 2012, in Milliarden Netto-Tonnenkilometern (tkm):   Deutschland

112

Polen

53

Frankreich

33

Österreich

22

Quelle: Verkehrs Rundschau, Eisenbahn-Marktbericht 2012

Quelle: Guinness-Buch der Rekorde

geliefert

GW Rumänien transportierte einen Dampfkessel über 1.400 km durch die Ukraine bis nach Polen:

L : 20 m   : 103 t


Die Welt bewegt: Rainer Groothuis

Die Welt orange

10

Käse für Berlin

et cetera

Andreas müller

Großer Aufwand und Liebe zum Detail

24

27 Nachgelesen angelik a niedetzky

28

»Wann gibt es wieder eine Banane?« andreas altmann

50

52

»Die Welt dreht sich weiter.«

GW Mitarbeiter

58

Dafür schlägt mein Herz

62

»Welttrunken auf einem f­liegenden Teppich, von Basar zu Basar.«

Besondere Güter – ­besondere Lösungen

67

»Nie kuhblöd an der Wirklichkeit vorbei.«

32

In guter Gesellschaft

68

WOLFGANG NIESSNER

»You better start swimming or you’ll sink like a stone.«

36

Das Familiengewinnspiel

Ein Orden für Dich

Harald martenstein

70

Feuerläufer, Fallschirmspringer und heiße ­Fußsohlen

44

timo ibsen

Das Gold des Nordens am ­Mittelmeer

46

72 Impressum



Käse für Berlin Mist und Milch,  Kuh und Käse, das Ländle, die Welt


12 KÄSE FÜR BERLIN

reportage:  Rainer Groothuis

»Menschen mit neuen Ideen gelten so lange als Spinner, bis sich die Sache durchgesetzt hat.« Mark Twain  Oder: Was eine Nacht in Hittisau ­bewirken kann

B

erühmt ist Vorarlberg, das kleinste Bundesland Öster­ reichs, von seinen Einwohnern stolz auch »das Ländle« genannt, für Architektur und Handwerk, die Bregenzer Festspiele und alemannische Dialekte, die in der restlichen Welt nicht verstanden werden – gesprochen von Menschen, die, eigensinnig und beharrlich, das tun, was ihnen Herz und Verstand vorgeben, ein wahrlich »rührig Völklein« *. Gerhard Beer ist so einer, der rührig ist, doch immer wie­ derkommt. Mit 15 runter von der Schule, mit 18 rauf auf den Lkw und durch Europa gefahren, dann doch eine kaufmänni­ sche Ausbildung gemacht und mit 26 jüngster Vewaltungschef des schönen Hittisau im Bregenzerwald gewesen, den Job geworfen, mit 27 seine große Jugendliebe Daniela geheiratet, mit der er heute zwei Kinder hat und seit 1995 die Pension Bals betreibt – erfolgreich, wie der mit 85 Prozent ungewöhn­ lich hohe Anteil von Stammgästen belegt. Beer hat mit seinen mittlerweile 46 Jahren viel gesehen, erlebt und getan. Die Schublade, in die jemand wie er passen sollte, müsste ziemlich groß sein. Er trägt sein Herz auf dem ordentlichen Fleck und eine Welt im Koffer. Er ist leiden­ schaftlich und überlegt, strukturiert, klar in seinen Zielen. Seine Passionen verfolgt er mit Verve und Verstand: Jemand, der wie er in frühen Jahren seine »Big Five for Life« zu Papier bringt und diese Lebensziele auch verfolgt, ist kein »blinder Aktivist«. Diese Pension Bals ist weit entfernt, nur Broterwerb zu sein – hier treiben Herzen den Betrieb. »Der Gast ist nicht König, sondern Freund«, heißt es. Dieser Anspruch ist leicht zu erleben: Jeder Einzelne in der Gruppe der Franzosen, die wieder zum Wandern und zu den Bregenzer Festspielen an­ gereist ist, wird mit Vornamen angesprochen, und »Schärrard, ami …« klingt es zurück.

*

Du Ländle, meine teure Heimat, ich singe dir zu Ehr’ und Preis; begrüße deine schönen Alpen, wo Blumen blüh’n so edel weiß, und golden glühen steile Berge, berauscht von harz’gem Tannenduft. |: O Vorarlberg, will treu dir bleiben, bis mich der liebe Herrgott ruft. :| Du Ländle, meine teure Heimat, wo längst ein rührig Völklein weilt, wo Vater Rhein, noch jung an Jahren, gar kühn das grüne Tal durcheilt; hier hält man treu zum Heimatlande und rot-weiß weht es in der Luft. |: O Vorarlberg, will treu dir bleiben, bis mich der liebe Herrgott ruft. :| Du Ländle, meine teure Heimat, wie könnt’ ich je vergessen dein, es waren doch die schönsten Jahre beim lieben, guten Mütterlein. Drum muss ich immer wiederkommen, und trennte mich die größte Kluft. |: O Vorarlberg, will treu dir bleiben, bis mich der liebe Herrgott ruft. :| Offizielle Landeshymne von Vorarlberg (seit 1949), gedichtet und vertont von ­Anton Schmutzer.


KÄSE FÜR BERLIN 13

Ihre Hingabe an das Kochen begann schon als Kind, als sie anfing, Desserts zuzubereiten – Daniela Beer, das weibliche Pendant zu Gerhard. Sie verantwortet die Küche der Pension, kauft alles selbst und regional ein, ist stolz auf die Freund­ schaft der Gäste und das Erreichte. Sie ist hier geboren und aufgewachsen, hier ist Heimat und Zuhause. Halten will sie, was gewachsen und geworden ist. Auf die Frage nach der Zu­ kunft antworten die beiden Beers: »Ideen gibt es immer.« Mit einem Freundgast entstand, während einer an der Bar der Pen­ sion durchjausten Nacht, die »Idee Berlin«. Dort war vom Senat ein neues Nutzungskonzept für die Markthalle Neun ausgeschrieben, eine der letzten, vom Krieg ver­ schonten Markthallen Berlins, 1891 gebaut. Die Markthalle war seit 1977 heruntergewirtschaftet durch Aldi, KiK und andere Discounter, die mit dem tradier­ ten Sinn einer solchen Halle als Ort eines vielteiligen und vielfarbigen Angebotes für den Stadtteil Kreuzberg nichts mehr zu tun hatten. Die Ausschreibung wurde von einer Projektgruppe gewon­ nen, die Halle saniert und wird nunmehr unter den Leitgedan­ ken eines neuen Konzepts geführt: »Die Markthalle Neun will demonstrieren, wie ›Anders-Essen‹ und ›Anders-Einkaufen‹ in der Stadt möglich sind: regional- und saisonal-betont, ­verbunden mit lokaler Wertschöpfung und kurzen Wegen, verantwortungsbewusst, fair, ökologisch, im direkten Kontakt mit den Erzeugern. Die schrittweise Wiederansiedlung des kleinteiligen Lebensmittelhandels und -handwerks auf der zuvor von Discountern dominierten Fläche bedeutet auch die Wiederaneignung der Halle als lebendiger Ort im Quartier.« Im hippen Berlin fast schon eine Selbstverständlichkeit, dass dieses Konzept ein Erfolg wurde: »Inzwischen werden der Wochenmarkt und die Themenmärkte gut genutzt und tragen zur wirtschaft­lichen Stabilisierung der regionalen Erzeuger und Händler bei. Durch die Wiederansiedlung des kleinteili­ gen Lebensmit­teleinzelhandels wurden neue Existenzen und Arbeitsplätze geschaffen.« Oben: Daniela und Gerhard Beer vor ihrer Pension Bals; links: Frei isst die Kuh, gesund ist die Milch.


Tief h채ngen manchmal die Nebel im Bregenzerwald, wo die Grundlage der Heumilchwirtschaft gepflegt wird: die gesunden und artenreichen Wiesen.




Links: Das Alphaus der Familie Bechter; unten: Laurin, der 14-jährige Sohn der Beers, verbringt seine Sommerferien auf der Alpe – der Tag beginnt früh und ist mit dem abend­lichen Melken der Tiere nicht zu Ende; rechts: Toni und Rosi Bechter.

Gerhard Beer ist dabei. Er arbeitet mit den Bauern, Sen­ nern und Metzgern im Bregenzerwald zusammen, besorgt von ihnen die hochwertigen Milch- und Fleischprodukte, die er den Berlinern anbietet – viel weiß er über die Menschen und alles über ihre Waren. Zweimal monatlich beschafft er seit 2012 die Logistik zwischen Hersteller und Kunden, fährt über die Alpen des Bregenzerwaldes und lädt des Tags seinen Transporter mit feinen Dingen voll. Dann fährt er durch die Nacht die 750 km nach Berlin, um Stammkunden wie Mutter Fourage am Wannsee und seinen eigenen Stand, Menze Spezialitäten, in der Markthalle Neun zu beliefern. Neben sich Vater Hans, 77, zum Reden und Wachbleiben.

»Ich bin, wie ich bin. Die einen kennen mich, die anderen können mich.«  Konrad Adenauer Oder: Zufriedenheit, Dankbarkeit, Demut Eine Alpe ist eine »Alm (Bergweide, alemannisch Alp), das Sömmerungsgebiet, während der Sommermonate benutzte Bergweiden, Wirtschaftsgebäude und sonstige Infrastruktur mit eingeschlossen, als Flurform«, sagt das Lexikon. Eine Alpe ist also jenes Stück Land, das der Bauer des Südens im Sommer aufsucht, dabei die Familie (solang die Kinder klein sind, später nur noch »die Frau«), Sack und Pack mitnimmt. Dort oben gibt es auch heute oftmals keinen Strom, kein flie­ ßend warmes Wasser, kein Telefon, geschweige denn Handy­ verbindungen. Wir wandern von Hittisau – das mit denen im Lecknertal die an Alpen reichste Gemeinde Österreichs ist – auf 1.200 Meter, zur Alpe Lache, wo wir mit Anton »Toni« und Rosi Bechter verabredet sind. Das Alphaus sitzt altersgemäß schief in den Gelenken, die Winde ziehen ein wenig durch seine 150 Jahre alten Wände, gekocht wird auf dem mit Holz beheizten Herd. Toni, Alpbauer und Senner, ist 61, blitzendblaue Augen grüßen aus einem gebräunten Bei-Wind-und-Wetter-drau­ ßen-Gesicht, in das auch Humor, Freude und Nachdenklich­

keit ihre Falten gegraben haben. Rosi hat längst die Hausspe­ zereien vorbereitet, bekämpft mit verschiedenen Brotsorten, Hauskäsen und Most, natürlich alles selbst gemacht, die ­Hunger- und Durstgefühle der Wandergruppe. Toni bittet zum Gespräch an den Kachelofen in der Stube. Mit vier Jahren war er das erste Mal auf seiner Alpe, oft unterwegs mit dem Großvater, der ihn lehrte, dass Lernen kein Grund zum Schämen ist und jede Frage eine gute Frage, dass es »kaputt« nicht und Lösungen immer gibt, dass fast alles selbst repariert werden kann. Und der Großvater zeigte dem Bub, wie schön es ist, mit und in der Natur zu »schaffen«, mit den Tieren hier oben und in der schönen Landschaft Vor­ arlbergs. »Natur ist Schöpfung«, sagt Anton Bechter – ist es nicht schon ein Wunder, dass nach jedem Winter das Gras wächst? Er arbeitet – mit seiner eigenen Milch, aus der er eige­ nen, von ihm mit der Hand geschöpften Käse macht – nicht für die Mehrung eines Vermögens, er lebt, um ein Stück Schöp­ fung zu erhalten und mit dem, was sie ihm gibt, Bestes für die Menschen zu machen. Dankbar ist er für seine »liebe, gute Frau«, mit der er das Leben und die Einsamkeit auf der Alpe so gerne teilt. »Arme Lüt sin des«, sagt er und meint all jene, die solche Gefühle verloren haben – Zufriedenheit, Dankbarkeit, Demut. Er wünscht sich für die Zukunft nur, so »weiterschuften« zu kön­ nen wie bisher, dass seine Kinder sein Werk fortsetzen und Friede sei in Haus und Land. Doch jene Jagdherren allerdings, Eigentümer oder Pächter eines Reviers, die es darauf anlegen, Tiere als Trophäen zu erlegen, gehen ihm mächtig auf die Nerven – und die EU selbstredend, die ständig »Daten, Daten!« von ihm haben will.


Kleiner Exkurs über traditionelle Käseherstellung Aus Heumilch, also der Milch von Kühen, die ausschließlich das Gras der Almen fres­ sen – im Sommer frisch, im Winter sonnen­ getrocknet –, ließen sich viele ­Käsesorten herstellen. Vorarlberger ­Bergkäse aber muss aus dieser Milch ­hergestellt werden. Und nur aus dieser. So steht es im Codex Alimentarius ­Austriacus. Bei der traditionellen Käseherstellung werden der Rohmilch Milchsäurebakte­ rien zugesetzt sowie natürliches Lab, das die Gerinnung in Gang setzt. Eine soge­ nannte Käseharfe schneidet aus der ge­ ronnenen Milch den Käsebruch, dessen Beschaffenheit ausschlaggebend ist für die Qualität des Käses. In runden For­ men wird der Käse schließlich gepresst und gibt ­dabei die Molke ab. Danach wird er in ein Salzbad getaucht, das für die Haltbarkeit und die Rinden­ bildung wichtig ist. Im Anschluss be­ ginnt die Reifung, von mindestens drei Monaten bis zu zwei Jahren. In dieser Zeit wird jedes Käserad wö­ chentlich ein- bis zweimal gewendet und mit Wasser und Salz abgebürs­ tet, was bei Laiben mit einem Ge­ wicht von bis zu 50 kg eine Aufgabe für ­trainierte Muskeln ist.



Bregenzerwald – mutiges Miteinander aus Tradition und Moderne Gebrüder Weiss ist ein Unternehmen mit starker Vorarlberger Identität, so der Vorstandsvorsitzende Wolfgang Niessner im Interview mit dem ­ TLAS (s. S. 36). In dieser Region begann mit dem Mailänder Boten vor A über 500 Jahren die Unternehmensgeschichte, und dort, in Lauterach, sitzt die Zentrale auch heute noch. Der Bregenzerwald, wo Herr Beer und der Käse beheimatet sind, liegt im Nordosten von Vorarlberg. »Eassand Käs und nüd das tüür Brod!« Das ist Vorarlberger Mundart und heißt übersetzt: »Esst Käse und nicht das teure Brot.« Dies sagt einiges über die »Wälder«, die Bevölkerung des Bregenzerwaldes, aus: Käse war über Jahrhunderte das Hauptnahrungsmittel in der Region und ist dieser Tage wichtigstes Exportgut. Man sagt den »Wäldern« nach, etwas eigenwillig, genauso aber höchst gastfreundlich zu sein. Sorgfältig gepflegte Alpweiden, imposante Gipfel, ausgezeichnete Hotels und Jahrhunderte alte und immer noch gelebte Traditionen locken jedes Jahr tausende Gäste an. Die Bregenzer­

wälder gehen seit Jahren den mutigen Weg, Tradition und Moderne in ihrem Handwerk zu verbinden. Viele Bauernhöfe wurden in den letzten Jahren neu gebaut oder mit Feingefühl renoviert. Holz spielt dabei eine wesentliche Rolle. Die neue Vorarlberger Bauschule verbindet die orts­typische Archi­ tektur mit nachhaltiger Bauweise und gilt als Vorreiter der Neuen Alpen­ architektur. Für eine ländliche Region bietet der Bregenzerwald zudem ein überaus vielfältiges Kulturprogramm, allen voran die Schubertiade Schwar­ zenberg, das größte Festival der Region. Mehr Informationen über Land und Leute, Projekte und Veranstaltungen: Kunst- und Handwerksinitiative aus dem Bregenzerwald: www.werkraum.at Käsestrasse Bregenzerwald: www.kaesestrasse.at Schubertiade: www.schubertiade.at Bregenzerwald Tourismus: www.bregenzerwald.at


KÄSE FÜR BERLIN 21

Links: Auf der Alpe Weissenbach wird Holz gespalten, Schwieger­ tochter und Enkel fassen mit an; unten: Ignaz Bär ­verlädt Käse in den Transporter für Berlin; jeden Tag wird das Werkzeug sorg­­fältig ­ge­reinigt und zum ­Trocknen in die saubere Luft gestellt; ­Käseformen warten auf die nächste Runde; rechts unten: Ignaz Bär und seine Frau Hildegard.

»Gewähre Erholung; der Acker, der sich erholt, gibt reichlich zurück, was er dir ­schuldet.«   Ovid  Oder: Die Kuh, der Boden und der Mist Ortswechsel. Nach 20-minütiger Kriechfahrt auf einem steil steigenden, engen Serpentinenschotterweg und der Querung einer letzten Bachbrücke erreichen wir die Alpe Weissenbach: 240 Hektar Einsamkeit und Schönheit. Wie in einem Bilderbuch städtischer Klischees schlängelt der Bach durch das oberhalb von Schnepfau gelegene Hangtal, das sich in Richtung Diedamskopf zieht; »Sömmerungs­ gebiet« von heuer 44 Kühen, sechs Schweinen, einem Pferd, einem Landwirtschaftspraktikanten aus der Ukraine und der Familie Bär, die schon seit Generationen hier ist, die ihren Hof im Tal und die Alpe als Einheit lebt. Ignaz Bär macht seinem Vornamen Ehre – Ignaz, Kurzform des lateinischen Ignatius, »der Feurige«, von lat. ignis = Feuer. Feurig wird der Bär, sobald er von seiner Alpe spricht, von der Rolle der Alpen überhaupt – wer will »unten« leben, wenn »oben« alles kaputt ist, die Alpen überbewirtschaftet werden, Tiere und Natur ausgebeutet?, wie soll es sein, das Leben im Bregenzerwald, ohne eine Kultur des Bäuerlichen, die sich als Bewahrer der Natur, der Schöpfung versteht? Die Alpe hat 13 Teilhaber, von denen nur noch zwei Bauern sind. Da ist es nicht immer leicht, sein Verständnis von Viehzucht und Heu­ milchwirtschaft durchzusetzen. Und so ist es nun mal: Seine freilaufenden Kühe geben 30 Prozent weniger Milch als »Hochleistungsviecher«. Selbst wenn sie ­keinen Tierarzt brau­ chen und die Kosten für Kraftfutter ­gespart ­werden – nicht jeder der Teilhaber ist einverstanden mit den Tugenden, An­ sichten und Erträgen des Ignaz Bär, der seit 28 Jahren Alp­ meister von Weissenbach ist. Überhaupt, die Kuh: Ein wichtiges Tier ist sie, nicht nur für unsere Ernährung, sondern auch für den Boden. Denn eine gesunde Kuh, die den Boden der Alp abgrast, auf dem bis zu sechzig (!) Kräuter und Gräser pro Quadratmeter wachsen (bei Intensivbewirtschaftung sind es nur noch sechs bis acht), in Ruhe deren Pflanzen wiederkäut und verdaut, macht auch einen gesunden Mist. Der wiederum ist der beste Dünger, den ein Boden bekommen kann. Ignaz Bär hasst Kunstdünger, mit dem auch Stoffe auf die Alpen kommen, die dort nichts zu

suchen haben. Gesunde Kuh g gesunder Mist g gesunder Boden g gesunde Pflanzen g gesunde Kuh g besondere Milch – ein einfacher ursprünglicher Kreislauf. So liegt denn auch für Ignaz Bär die Besonderheit eines Käses auf der Wiese, sie kommt nicht aus dem Kessel des Sen­ ners oder dessen besonderen Fähigkeiten: Eine Milch, deren Entstehen von sechzig Kräutern beeinflusst wird, schmeckt nun einmal anders, besser, voller als die von einer »grünen Hölle«, jenen Flächen, auf denen allzu wenig Pflanzenarten überlebt haben. Ein »guter Käs ist 100 Prozent Natur« aus Heumilchwirtschaft und darf in Ruhe bis zu 12 Monate reifen. Im Bregenzerwald entstehen jährlich rund 200 Tonnen Alpkäse, so handgeschöpft wie jene von Ignaz Bär und Toni Bechter. »Ruhe« ist für Bär ein wichtiges Stichwort. Nur wenn Tier, Wiese, Natur immer wieder auch Ruhe haben, bleiben sie gesund und die Erträge stabil. Diese Ruhe schafft die Heu­ milchwirtschaft: Die Kühe weiden von Mai bis September auf der Alpe und fressen im Winter ausschließlich das an der Luft getrocknete Heu der Talwiesen. Die Produktion von Heumilch ist die ursprünglichste Form der Milchwirtschaft. Doch nur 3 Prozent der Milch werden in Europa noch derart hergestellt.


Gerhard Beer und Ignaz Bär im Gespräch – auf der Bank unter dem Kreuz, mit weitem Blick.


KÄSE FÜR BERLIN 23

Ignaz’ Zwillingsbruder ist Musiker geworden – er, dessen von der Arbeit gezeichnete Hände leidenschaftlich eine zweite Sprache sprechen, sieht keine »Arbeit«, er lebt ein Tagwerk, das ihm Erfüllung ist. Auch für ihn, der ein goldenes Kreuz um den Hals trägt, ist seine Arbeit Dienst an Gottes Schöpfung – die Natur zwingt geradezu zum Glauben.

»Wer A sagt, muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war.« Bertolt Brecht Oder: Das Gewesene als Anleitung für das ­Mögliche Noch so ein Passionierter: Im schönen »Hotel Krone« in ­Hittisau bereitet der Chef Dietmar Nussbaumer-Natter dem Gast auch nachts »selbstverständlich« einen vielfältigen ­Käseteller und fragt nach weiteren Wünschen. Die Leidenschaft der Beers ist »die Zufriedenheit auf den Gesichtern der Gäste«, Männern wie Toni Bechter und Ignaz Bär geht es um die Schöpfung. Diese Menschen in Vorarlberg sind Beispiele für all jene Leidenschaftlichen, die erfüllt sind von einer Überzeugung und sie mit Haltung verbinden. Bechter und Bär wirken nicht wie zeitvergessene Heidi-­ Romantiker und Alp-Öhis – eher sind sie passionierte Prediger eines neuen und gleichsam alten Weges: Denn was vor der Durchindustrialisierung von Landwirtschaft und Lebens­ mittelproduktion selbstverständlich war, winkt heute wie ein utopisches Modell aus der Vergangenheit herüber. Aus dem Kleinen wurde das Große, das nahezu Übermächtige, ein ab­ surdes Produktionssystem, das wir mit Quoten, Stilllegungs­ prämien, Subventionen und gigantischer Logistik aufrecht­

erhalten. Doch wächst die Sehnsucht vieler Menschen zurück nach dem Kleinen, dem Regionalen, nach Handwerk und Manufaktur, nach der Natur – gesucht wird das Individuelle, Besondere und Gesunde, das sie hervorbingen können. Wir wollen wieder wissen, wo die Rohstoffe für Produkte herkom­ men, legen Wert auf traditionelle, umweltfreundliche, nach­ haltige Herstellungsweisen. Da gewinnen Bechter und Bär mit ihren tief in bäuerlicher Kultur und Geschichte, in der Religion verwurzelten Ansichten und Arbeitsweisen schnell Sympa­ thie – in ihrem leidenschaftlichen Glauben, ihrer gläubigen Leidenschaft sind sie Avantgardisten der Rückbesinnung auf eine andere Form des Wirtschaftens. Und des Lebens. Des Lebens in einer Welt, in der der Mensch zu sich findet und dort auch bleiben kann, das nicht im Smartphone stattfindet und in dem es kein »Burn-out« gibt, in dem Leidenschaft und Haltung zu Hause sind. Die Landschaft ist zugestellt mit Hügeln und Bergen und der Himmel immer nur ein Ausschnitt: Auch wenn einem »Nordlicht« im Bregenzerwald die weiten Horizonte fehlen, sollte man vielleicht öfter einen Berg hochsteigen und Zeit auf einer Alpe verbringen. Denn dort findet sich das Leben, wie es einmal war und sein könnte – da könnte es auch für den Städter eine Scheibe vom Glück geben, möglicherweise, manchmal.

Rainer Groothuis, geboren 1959 in Emden /Ost­ friesland, ist Gesellschafter der Kommunikationsagentur Groothuis. www.groothuis.de Mit herzlichem Dank an Daniela und Gerhard Beer, Anton und Rosi Bechter, Ignaz und Hildegard Bär und die anderen, die einen kleinen Blick in eine ungewöhnliche Welt zugelassen haben. www.bals.at, www.markthalleneun.de

Vorarlberg Tief im Westen von Österreich liegt das »Ländle«, von der Flächen- und Bevölkerungszahl das zweitkleinste Bundesland der Republik.

deutschland

österreich

bodensee

Bregenz Lauterach Hittisau

vorarlberg

landesHauptstadt

Bregenz Einwohnerzahl

österreich

375.282

liechtenstein

Dichte

144 Einw./km2

Rhein schweiz

italien

Fläche

2.601,48 km 2


24  ET CETERA: LIEBE ZUM DETAIL

Großer Aufwand und Liebe zum Detail In Zeiten schnell produzierter Massenware, die überall auf der Welt erhältlich ist, hat Originalität eine besondere Bedeutung. Wenn Sie nun durch unsere ­Reportage bereits auf den ­Geschmack gekommen sind, stellen wir Ihnen auf den folgenden Seiten drei weitere Menschen vor, die bei der Herstellung ihrer Produkte weder Zeit noch Aufwand scheuen.

Daniel Heer: Haare aus der Mongolei

D

aniel Heer ist der jüngste Spross einer Sattlerfamilie und verarbeitet in seinem Betrieb einfache Mate­ rialien zu hochwertigen Alltagsgegenständen – Ross­ haarmatratzen, Lederwaren und Möbel. Die passenden Roh­ stoffe für seine Entwürfe kommen aus aller Welt. Er sammelt sie in seinem Berliner Atelier zusammen und scheut dabei kaum einen Aufwand, kauft weiches weißes Pferdehaar aus der Mongolei und festeres schwarzes aus Südamerika. Und wenn es für eine Naht ein bestimmter Faden in einer ganz bestimmten Farbe sein soll, dann trennt er schon einmal ganze Stoffbahnen auf, um ihn zu bekommen und erneut zu verarbeiten. Das erfordert Geduld und einen langen Atem. Aber so ist es nun einmal mit den guten Dingen: Sie wollen Weile haben. Alle Produkte, die das Atelier verlassen, sind in Handarbeit hergestellt worden. Es sind zeitlos schöne Dinge, die Bestand haben und einer langen Familiengeschichte entspringen: ­Daniel Heer ist Sattler in der vierten Generation. Bereits 1907 gründete sein Urgroßvater Benedikt Heer eine Sattlerei in der Schweiz und gab seine Kunst an die Nachkommen weiter. ­Urenkel Daniel arbeitet teilweise noch mit altem Werkzeug,

verbindet die überlieferten Techniken aber mit neuen Ideen. Er entwickelte beispielsweise eine einfache Konstruktion, mit deren Hilfe sich alt gewordenes Leder eines Möbels leicht nachspannen lässt, oder verwendet nicht nur klassischen ­englischen Drillich für seine Matratzen, sondern auch Jeans­ stoff von Webstühlen in North Carolina. Den Alltagsgegen­ ständen aus seiner Fertigung verleiht er dadurch Modernität und macht sie zu lebenslangen Begleitern, die jeder für sich ein leidenschaftliches Plädoyer sind für Werte und Tradition. Denn gutes Handwerk erschöpft sich nicht in der Beherr­ schung der richtigen Handgriffe. Gutes Handwerk ist auch eine Frage der Haltung. www.danielheer.com


ET CETERA: LIEBE ZUM DETAIL 25

»Durch die Leidenschaften lebt der Mensch, durch die Vernunft existiert er bloß.«  Nicolas Chamfort

Lena Hoschek: Rüschen aus Frankreich

N

ach dem Motto »Kleider machen Leute« malte Lena Hoschek, Modedesignerin aus der Steiermark, schon mit vier Jahren Kleidungsstücke, die wie erste Kollek­ tionsentwürfe aussehen. Von ihrer leidenschaftlich basteln­ den Großmutter lernte sie stricken, sticken und häkeln; mit ihr schneiderte sie im Alter von 13 Jahren das erste eigene Dirndl. Nach dem Diplom an der Modeschule in Wien wollte sie noch einen Master in London machen. Dort angekommen, tauschte sie kurzerhand Schreibtisch gegen Schneidertisch und fing als Praktikantin bei der Design-Ikone Vivienne West­ wood an. Bei allem, was sie dort gelernt hat, wurde ihr schnell klar: Sie will ihre eigene Firma führen. Gesagt, getan: 2005, mit gerade mal 24 Jahren, gründete sie das Label »Lena Hoschek«. Mit ihren Prêt-à-porter-Kol­ lektionen wendet sich Lena Hoschek von Massenproduktion und allgemeinen Trends ab und interpretiert klassische Schnitte immer wieder neu. Für das nächste Frühjahr kombi­ niert die Designerin Drucktechniken aus Afrika mit dem für sie typischen femininen Retro-Stil der 1940er und 50er Jahre. Bei der Fertigung in kleinen europäischen Betrieben setzt sie auf möglichst viel Handarbeit, Sorgfalt und Liebe zum Detail.

Und exklusive Modelle schneidert Lena Hoschek nach Maß auch schon mal eigenhändig im Wiener Atelier. Für die Wahl der Materialien ist der heimatverbundenen Grazerin, die den Steirischen Panther auf den Unterarm ­tätowiert hat, kein Weg zu weit. Ihre Stoffe erzählen Geschich­­ ten und tragen opulente individuelle Muster. Auf der Suche nach dem richtigen Faden ist das »Stofftrüffelschwein« – so bezeichnet sich die Designerin gerne selber – überall auf der Welt unterwegs. Für ein Dirndl aus ihrem Label »Lena Ho­ schek Tradition« verwendet sie Seidenjacquards und Baum­ wolldrucke aus Österreich, besten Walkstoff aus Südtirol und handgearbeitete Rüschen aus Frankreich. Und wenn sie nichts findet, was ihrer Vorstellung entspricht, entwirft sie den Stoff eben selber und lässt ihn eigens für ihren Entwurf herstellen. Inzwischen führt sie neben ihrem Laden in Graz auch ein Atelier und Shops in Wien und Berlin, weitere zukünftige Standorte sind nicht ausgeschlossen. Aber zu verdanken hat sie den Weltruhm den Grazer Kunden, die ihr von Anfang an die Treue gehalten haben. www.lenahoschek.com


26  ET CETERA: LIEBE ZUM DETAIL

Christoph Keller: Marillen aus Krems

Z

u seiner Leidenschaft kam Christoph Keller durch einen Zufall: Im »Brennhäusle« des Stählemühle-­ Anwesens, das er mit seiner Frau Christiane Schoeller 2004 übernahm, befand sich eine Traditionsdestillerie, an die das Recht gebunden war, Schnaps zu brennen. Kellers Inter­ esse galt zu dieser Zeit eigentlich dem Buch – gemeinsam mit seiner Frau betrieb er einen Kunstbuchverlag. Damit das Brennrecht aber nicht verfiel, begann das Paar, sich in der Freizeit mit der Kunst der Destillation zu befassen. Aller­ dings verabschiedeten sich die beiden schon bald von diesem ­Niveau. Aus dem Hobby wurde eine Leidenschaft, aus der Leidenschaft eine Obsession. Und wenngleich das Brenner­ wesen sogar studiert werden kann, so ist es doch eine sehr subjektivierte Wissenschaft, die erst durch das Ausprobieren belebt wird. Nach zahlreichen Experimenten vermag es ­Christoph Keller mittlerweile wie fast kein Zweiter, den Geist einer Frucht einzufangen. Und so sind die Brände aus dem Brennhäusle der Stählemühle Weltspitze geworden. Dessertbananen aus Honduras, Carob-Schoten vom spa­ nischen Johannisbrotbaum, Kräuter, Zitrusfrüchte und sogar ­Pilze, vor allem aber heimisches Obst verarbeitet Keller mit großer Sorgfalt von Hand. Viele Früchte erntet Christoph Keller selbst, Waldhimbeeren aus dem oberen Hegau bei­ spielsweise oder Vorarlberger Heidelbeeren. Die nähere Um­

gebung kartiert er fortlaufend nach Wildobst, das er prüft und beobachtet, um den perfekten Zeitpunkt für die Ernte zu tref­ fen. Er sammelt Traubenkirschen oder Vogel­beeren auf Grün­ anlagen sowie Kern- und Steinobst auf eigenen Streuobstwie­ sen. Und alle Früchte jeweils genau da, wo sie nun einmal am besten schmecken. Wachauer Marillen ­beispielsweise in Krems, die vom Baum geholt werden, wenn sie ohnehin fast abfallen würden. Der ungeheuer große Aufwand lohnt sich: Die Qualität des Rohstoffs entscheidet über das Ergebnis beim Brennen; die ausgewählte Sorte, die Lage der Frucht und ihr Erntezeitpunkt bestimmen den Geschmack. Und so erfordert Christoph ­Kellers Leidenschaft viel Geduld, große Sorgfalt, eine feine Nase und einen geschulten Gaumen. Vor allem aber eins: die Liebe zur Natur. Die Flaschen, in die Christoph Keller seine kostbaren Brän­ de abfüllt, kommen übrigens aus Österreich. Mit Gebrüder Weiss. www.staehlemuehle.de

Miriam Holzapfel, geboren 1975, ist Kulturwissenschaftlerin und Redakteurin für den ATLAS.


Nachgelesen

Ausgezeichnet Der ATLAS hat nicht nur den Best of Corporate Publishing Award 2014 in Gold gewonnen, er wurde auch beim Art ­Directors Club Deutschland in der Kategorie Corporate Pub­ lishing ­Extern Magazin/Zeitung ausgezeichnet und hat den Best of B2B Award in Bronze in der Disziplin Corporate Pub­ lishing erhalten. Wir freuen uns sehr, bedanken uns für die Anerkennung und machen uns beflügelt wieder an die Arbeit!

Auf den Schienen nach China Schon seit 2013 fährt einmal wöchentlich ein Güterzug von Zhengzhou in China nach Hamburg. Nun wird die 10.200 Kilo­meter lange Strecke auch in der Gegenrichtung befahren. Der mit 41 Containern beladene Zug transportiert vor allem hochwertige Güter, wie zum Beispiel Industrie­ roboter für einen internationalen Technikkonzern. Der Zug braucht 17 Tage – aufgrund der unterschiedlichen Spurbreiten werden die Container auf der Reise mehrfach umgeladen – und ist damit immer noch rund 20 Tage schneller als das kosten­günstigere Schiff.

China: ­Staudammprojekt am Yalong-Fluss Empfehlungen Im letzten ATLAS berichteten wir von der Go-West-Strategie Chinas, die den unterentwickelten Westen des Landes ­voranbringen soll. Im Hochland von Sichuan wird derzeit an einem weiteren riesigen Infrastruktur-Projekt gearbeitet. 80.000 Bauarbeiter, drei Jahre Arbeit und 4,3 Millionen ­Kubikmeter Beton haben den höchsten Staudamm der Welt in der Schlucht des Yalong entstehen lassen. Durch das ­bergige Hinterland und einen 18 km langen, schnurgeraden ­Tunnel, der unter einem 4.000 Meter hohen Gebirgszug hin­ durchführt, gelangt man zur gigantischen Baustelle. Wenn die Anlage fertig ist, will die Wasserbau-Firma Yalong Hydro mit dem Staudamm 3.600 Megawatt Strom produzieren – so viel wie drei große Kernkraftwerke zusammen.

Die Autoren schreiben die abgedruckten Texte exklusiv für den ATLAS . Ein kreativer Kopf hat mitunter aber noch mehr zu sagen, und so haben einige auch schon zahlreiche Bücher ­veröffentlicht, von denen wir Ihnen hier manche ans Herz legen möchten (in der Reihenfolge ihrer Nennung im ATLAS ):

Lexy Hell Mein wildes leben zwischen Laufsteg und Swingerclub Eden Books

andreas altmann pier paolo pasolini indien Corso

harald martenstein Die neuen Leiden des alten M. – Unartige ­Beobachtungen zum deutschen Alltag Bertelsmann


»Wann   gibt es endlich wieder eine Banane?«


laufend unterwegs 29

Leidenschaften schaffen Leiden Obwohl die Linzerin Angelika Niedetzky 2005 mit der ORF-Serie Echt fett einem breiten Fernsehpublikum bekannt wurde, ist sie neben ihren TV-Rollen der Bühne treu geblieben. In ihrem ­Kabarett-Soloprogramm Marathon nimmt Österreichs lustigste Frau die alltäglichen Dauerläufe aufs Korn, die der Mensch sich zu­mutet – Powershoppen, sonntägliche Arbeitsmeetings, jahrelange Beziehungs–Hängepartien, kurzum: die Durststrecken im Leben, die fast jeder kennt. Als Meisterin der Selbst- und Fremd­ moti­vation weiß Angelika Niedetzky, wie man sie übersteht, sogar noch Freude dabei hat und sich sinnvoll engagiert.

text:  Angelika Niedetzky

I

ch bin in der glücklichen Lage, sagen zu können, ich ver­ diene mein Geld genau mit dem, was mir am meisten Spaß macht. Ich kann als Schauspielerin und Kabarettistin Men­ schen ­unter­halten. Es gibt für mich nichts Schöneres als Leute im Publikum, die vor Lachen Tränen in den Augen haben. Denn dann weiß ich, dass sie den Alltag hinter sich lassen und nur den ­Moment genießen. Und das ist so wichtig! Am nächs­ ten Tag ­sitzen sie wieder von neun bis fünf in ihren Bürostüh­ len – dann, wenn ich freihabe, denn ich arbeite ja meistens am Abend. Wer nun wissen will, was also ein Künstler tagsüber alles anstellt, dem möchte ich Einblick in meine »Tagesfreizeit« gewähren. Ich bin mit einem Hund, besser gesagt einem grie­ chischen Straßenköter, aufgewachsen, und ich werde immer Hunde haben. Am liebsten genau solche gemischten Modelle wie meine jetzige Hündin, die aus Lissabon stammende Rosa. Die hat einen Windhund mit drin, das heißt, sie muss sich viel bewegen. Und das brachte mich eines Tages zum Laufen. Davor hätten mich keine zehn Pferde je in eine Sporthose und Laufschuhe hineingebracht. Aber Rosa hat’s geschafft, und ich bin ihr dafür wirklich dankbar. Vergangenen November habe ich meinen dritten Mara­thon absolviert, und das ohne meinen vierbeinigen Schrittmacher! Meine Leidenschaft fürs Langstreckenlaufen hat im April 2009 dazu geführt, dass ich mich einen Tag vor dem Start für


30 ATLAS

eo Born an.or.id der t u n g e ran ekt proj er: o s t f l n i u S n-H -Uta n BO rang undatio O n n de rvival Fo r vo Meh utan Su g ­Oran

den ­Vienna City Marathon angemeldet habe, ohne dafür ­trainiert zu haben. Das war zwar an und für sich eine saublöde Idee, aber irgendwie fand ich mich knapp 4 ½ Stunden nach dem Startschuss im Ziel wieder. Auf allen vieren. Wie meine Rosa. Auch wenn ich mindestens zwei Stunden gelitten habe wie ein Schwein und einem Bauchfleck der Erschöpfung nahe gewesen bin, während eines Marathons erlebt man Momente, die den Erlebnissen meines Publikums gleichen. Ich konnte jeg­liche Gedanken an den Alltag ausblenden, hatte nur Essen­ zielles im Kopf: Wann gibt es endlich wieder eine Banane?! Körperlich völlig ermattet, schleppte ich mich damals ins sogenannte Wiener Plutzerbräu, um dort einen Liter Bier in Rekordzeit runterzustürzen. Der Körper hatte dringlichst darum gebeten.

»Während eines Marathons erlebt man Momente, die den Erlebnissen ­meines Publikums gleichen.« Und bereits wenige Tage danach, immer noch humpelnd vor Muskelkater, keimte der Wunsch auf, irgendwann wieder in diesen körperlichen und geistigen Rausch zu kommen. Nicht in den vom Plutzerbräu, in den während des Marathonlaufs! Es folgten 2011 und 2013 New York. Kann ich jedem, der meine Leidenschaft teilt, nur empfehlen. Die Begeisterungsfähigkeit der Zuschauer dort lässt nicht zu wünschen übrig. Wer sich seinen Namen mit Isolierband aufs Shirt klebt, wird persönlich

Der New-York-City-Marathon findet jedes Jahr am ersten ­Sonntag im November statt. Er zählt mit dem Boston-Marathon und dem Chicago-Marathon zu den wichtigsten Laufveranstaltungen in den USA und stellte 2013 mit 50.740 Startern einen ­Teilnehmerrekord auf. Die anspruchsvolle Strecke führt von Staten Island über Brooklyn, Queens und die Bronx nach Manhattan, wo sich das Ziel befindet. Dorthin gelangten im vergangenen Jahr außer Angelika Niedetzky noch 50.265 weitere Finisher.


laufend unterwegs 31

angefeuert, und das wirkt Wunder! Ein »Angiiiiie, looking good!!!« nach 3 Stunden Laufen spornt dazu an, die letzten 400 Meter fast zu fliegen. Weit mehr als 400 Meter würde ich gern wieder mal ganz woandershin fliegen. Auf die drittgrößte Insel unseres Plane­ ten, Borneo. Dort leben die Tiere, die mich seit mehreren Jah­ren äußerst faszinieren und die ich vor dem Aussterben ret­ ten möchte. Ich spreche von den uns genetisch nahezu iden­ tisch­en Waldmenschen, den Orang-Utans. Es ist ein Wettlauf ­gegen die Zeit. Der Mensch ist dabei, in kürzester Zeit zu ­zerstören, was die Natur über Millionen Jahre erschaffen hat. Mehr als 80 Prozent des Regenwaldes, also des Lebensraums dieser intelligenten Klettervirtuosen, sind bereits zerstört. Und Borneo ist immerhin so groß wie Frankreich. Schon im Landeanflug auf die Hafenstadt Balikpapan im Südosten der Insel überkam mich eine solche Traurigkeit: Ein paar Fleck­ chen Wald waren zu erkennen und sonst nur rasterförmige Felder, Ölpalmen-Monokulturen. In jedem zehnten Produkt, das wir im Supermarkt kaufen, ist Palmöl, meist schön getarnt als »pflanzliche Fette«. Aber nicht nur in vielen Nahrungsund Kosmetikprodukten findet es sich wieder, nein, auch im Bio-Sprit. Da beißt sich die Katze ja wohl in den Schwanz! Und in der Orang-Utan- Waisenauffangstation, in der ich drei Wo­ chen verbrachte, werden die Babys mit Milchpulver gefüttert, das auch Palmöl enthält. Weil man dort eben nichts anderes kaufen kann. Noch mal beißt die Katze zu! Etwa 250 Waisenkinder befinden sich in der Station. Affen­ mütter mit Babys auf dem Rücken werden in 25 Meter Höhe aus den Baumkronen geschossen. Wenn das Kleine den Sturz überlebt, landet es am Schwarzmarkt und bringt horrende Summen ein. Hat so ein Äffchen Glück, muss es nicht lange als Haustier einer reichen asiatischen Familie mit Süßigkeiten und Cola gemästet werden, zum Rauchen gezwungen werden oder als Aufputz auf laute Partys mitgehen. Sondern das Jun­ ge wird von Tierschützern konfisziert und landet in einer ­Auffangstation, wo es einige Jahre in die Waldschule geht, um später wieder in einem geschützten Gebiet ausgewildert zu werden. Ich hatte das Glück und konnte ein 3-jähriges Tier aus nächster Nähe beobachten. Es war so menschlich! Es kam zu mir, musterte mich neugierig von Kopf bis Fuß und spielte mit

»Meine Leidenschaft für diese Tiere ist mit viel Leid verbunden, aber ich möchte die prägenden Erfahrungen von dort auf keinen Fall missen.« mir. Zwickte mich, biss mich, aber alles ganz sanft. Ein er­ wachsener Orang-Utan ist achtmal so stark wie ein Mensch. Auch ein 3-jähriger könnte einem schon einen Arm brechen, wenn er wollte. Hat dieser aber nicht, ganz im Gegenteil. Ich hab ihn gekitzelt, und er hat lauthals gelacht. Ein unvergess­ licher Moment! Meine Leidenschaft für diese Tiere ist mit viel Leid verbunden, aber ich möchte die prägenden Erfahrungen von dort auf keinen Fall missen. Irgendwann werde ich wieder hinfliegen. Am liebsten für ein paar Monate. Ich werde das mal mit Rosa besprechen.

Angelika Niedetzky wurde 1979 geboren und wirkte seit 2004 in zahlreichen Film- und Fernsehproduk­ tionen mit, zuletzt in der Erfolgs­serie Schlawiner (ORF, BR). Derzeit tourt sie mit ihrem zweiten Soloprogramm Niedetzky-Marsch durch die Lande. www.angelikaniedetzky.com


StraĂ&#x;enszene in Jaipur, Indien.


Vom Glück, zu Reisen 33

»Nie   kuhblöd an der Wirklichkeit vorbei.« andreas Altmann über Trockenfleisch im Liegestuhl,

Neugier und die Sehnsucht nach der Fremde

V

or ein paar Wochen stand ich vor meinem kambodscha­ nischen Schuster. In Kambodscha. Mit der Bitte, die Stiefel neu zu besohlen. Vor einem Jahr hatten wir uns das letzte Mal gesehen. Wir mögen uns, schon lange, schon immer. Ich setzte mich auf den Kundenhocker und fragte ihn, wo er die vergangenen zwölf Monate verbracht habe. Und mit einem wunderbaren Sinn für Lakonik antwortete Song: »Here.« Die Nächte zu Hause bei Frau und vier Kin­dern. Und die Tage hier, auf einem Trottoir in Phnom Penh. Wäre ich achtsamer gewesen, hätte ich mir die Frage sparen können. Wo sonst soll der arme Teufel sein Leben verbringen? Wenn nicht täglich auf seinen zwei dachlosen Quadratmetern, mit­ ten in der hübsch abgasversauten Hauptstadt? Himmel, hab ich ein Glück! Das ich gewiss nicht verdiene und für das ich mich in keinem Moment schäme. Und nicht eine Sekunde bemitleide ich Song. Wie stets strahlt er Gleich­ mut aus, so eine leicht schwebende Zufriedenheit. Somit ma­ che ich es wie immer: Ich bin freundlich und zahle einen fairen Preis. Nach solchen Begegnungen werde ich noch ausgelassener. Ah, meine letzten 365 Tage, ich will mich nicht beschweren. Auf vier Kontinenten habe ich mich herumgetrieben, in Afri­ ka, in Amerika, in Europa, in Asien. Ach, und meine Nächte in über neunzig Betten verbracht – manche gemein kurz und schmal und mit mir allein, manche kingsize und in der Nähe eines warmen Körpers, der nur Gutes mit mir im Sinn hatte. Und täglich durfte ich auf Menschenjagd gehen, immer hungrig nach Frauen und Männern, von denen ich ahnte, dass

sie etwas wussten, was mir bisher entgangen war. Und dann verführte ich sie – zum Beichten. Und einer der ergreifendsten Zustände zwischen zwei Wildfremden nahm seinen Lauf: Jemand macht sein Herz auf, und jemand hört zu. Das ist oft mühselig, oft schweißtreibend, bisweilen ge­ fährlich, aber es ist gleichwohl ein Gipfel des Glücks. Weil kein Bürokäfig mich aushungert. Weil die Welt mein Arbeitsplatz ist. Weil kein müdes Herz mich entlang eines müden Lebens begleiten muss. Weil so viele, die mir gegenübersitzen und reden, mich beflügeln. Oder zu einem kleinen Veitstanz der Freude animieren. Oder mir – nicht selten – die Nahaufnahme eines höllischen Lebens gewähren. Trotzdem, Dankbarkeit durchströmt mich auch dann. Denn durch sie alle erfahre ich etwas von der Welt, von den Weltbewohnern, ja, erfahre, ganz nebenbei, dass ich existiere. Er (sie) erzählt von sich, und ich erkenne mich wieder. Jeder Mensch ist mein Niveau. Doch das Glück hört hinterher nicht auf. Denn abends (oder wann immer) kehre ich zum Tatort zurück: in meinem Kopf, denn nun bin ich der Reporter, der notiert, was ihm tagsüber widerfuhr. Jetzt bin ich still und unerreichbar, jetzt tippe ich scheu in meinen Mac. »Schreiben«, las ich auf der Fassade einer französischen Schule, »ist das Glück suchen.« Von wegen, es ist das Glück finden. Habe ich schon erwähnt, dass ich ein Weltmann bin? Ah, das pompöse Wort hat eine ganz bescheidene Rechtfertigung: Ich bin es, weil ich in die Welt verliebt bin. Wie jeder sich ei­ nen Weltmann (oder eine Weltfrau) nennen darf, der mit ei­ nem Freundschaftsvertrag in der Tasche loszieht. Die Erde als

Stichwort Weltreise: Wenn einen das Fernweh packt, sollte man dem Gefühl nachgeben und losziehen. Der Brite Robert Garside, »The Runningman«, durchquerte in 5 Jahren und 8 Monaten 5 Kontinente, 30 Länder und legte dabei 48.000 km zurück. Der Held in Jules Vernes Roman In 80 Tagen um die Welt (1873) – als Lektüre j­edem


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Freund. Der Satz klingt wie ein Märchen, denn unser Ein und Alles hat viele Feinde, so viele, die vor Urzeiten beschlossen haben, dass zu viel niemals genug sein kann. Wer heute seinen Rucksack schnürt, der muss auch die klaffenden Wundstellen verkraften, die Mondlandschaften, die Betonwüsten, die hin­ siechenden Wälder, die Meere, die Flüsse, die ächzen unter einer namenlosen Gier. Der unsrigen. Ich will kein Robinson Crusoe sein, der alles unternahm, um seine Insel zu kolonisieren. Ich will eher Marco Polo nach­ eifern, der immer nur zeitweise Gast war, nie Beutemacher, nie Aggressor, nie einer, der erobern musste, was er gesehen hatte. Er wollte einfach hinschauen, einfach den Atem an­ halten – und irgendwann die Augen schließen: um das Beben, das der Anblick von Schönheit anrichten kann, zu genießen. Si­gnor Polo war eben einer, dem das Staunen die Sinne ver­ drehte. In alle vier Himmelsrichtungen. So starren die einen auf Geldhaufen und gehen in die Knie. Und so starren die anderen auf Wunder und sind jedes Mal reicher. Weltreicher. Sorry, ich kann meinen pädagogischen Eros nicht unter­ drücken. Jeden, der hier mitliest, will ich versuchen, will ihn überreden: zur Liebe zur Welt und zur Liebe zum Reisen. So erlaube man mir noch, drei Hardcore-Regeln hinzuschreiben. Drei Mantras, um den eigenen Weg zu finden und nicht auf die Trampelpfade der Komfortsüchtigen abzudriften.

Punkt eins: Der unbedingte Wille, nie mit krebs­ roter Wampe an der Costa Brava liegen zu wollen. Sich zu ­rösten, bis aus dem Bauchnabel ein Geysir zischt und das Hirn als Trockenfleisch im Liegestuhl zurückbleibt. Sprich, nie ein Land als Solarium begreifen. Doch immer als Schatztruhe. Aus der niemand ­etwas klauen darf, nur die Schätze ­bewundern, sie riechen, sie einatmen, sie – wenn man denn über begabte Hände verfügt – anfas­sen darf. Punkt zwei: Nie zum Gutmenschen mutieren, der sich ­weigert, einen Schweinehund ­einen Schweinehund zu nennen. Nie kuhblöd an der Wirklichkeit vorbei­ gehen. Immer bereit sein, sie auszuhal­ ten. In ihrer Pracht, in ihrer Brutalität.

Weltreisenden zu empfehlen – war deutlich schneller. Vielleicht muss es auch nicht einmal ganz rundherum sein. Dafür hat die amerikanische Fluggesellschaft Pan Am bereits seit 1947 die »Round the World Tickets« im Angebot. Damals ging es von San Francisco oder New York hinaus in die weite Welt, heute sind die ­Routen fast frei wählbar. Aber New York ist immer noch beliebtes Reiseziel: mit 26 Millionen Besuchern jährlich ist der Times Square die weltweit meistbesuchte


Vom Glück, zu Reisen 35

Und Punkt drei, der unentbehrlichste: Die Neugier. Sie sollte das Grundnah­ rungsmittel jedes Reisenden sein, sie ist das Gegenteil von Gier, die haben will. Die Neu-Gier will nie haben, sie will sein, sie will wissen: von der Welt und ­ihren Myriaden Rätselhaftigkeiten. Ein Postskriptum sei noch erlaubt: Wir alle lesen immer ­wieder Artikel, deren Inhalte wir bejahen. Heimlich geben wir dem Autor recht, der uns auf dunkle Ecken in unserem Le­ ben – Verzagtheit, Bequemlichkeit, Angst – hinweist. Ohne uns zu kennen, spricht er etwas aus, das uns angeht. Heftiger, als uns lieb ist. Aber wir schieben den Mahnruf wieder weg, unsere Ausreden greifen erneut, und der Trott und der Teu­ felskreis der Routine holen uns zurück. Eisern. Eisern lang. Bis wir auf dem Totenbett liegen und in Tränen ausbrechen über unsere Sehnsüchte, die wir irgendwann stillschweigend vergruben. Long ago. So will ich allen Zauderlichen die Geschichte von Mariel­ la G. schenken. Denn sie entkam. Die kleine Erzählung soll als Aphrodisiakum taugen. Um die Kräfte des Lebensmuts wieder anzustacheln: Vor ziemlich genau vier Jahren bekam ich eine

Mail von ihr, ihr erster Satz: »Sie haben mich infiziert, Herr Altmann.« Das ist kein schöner Anfang, aber ich beruhigte mich, denn sie meinte ihn ganz und gar bildlich. Nun, sie habe, so fuhr sie fort, ein Buch von mir gelesen und dieses Buch – über eine Reise durch Indien – hätte ihr »den Rest ge­ geben«. Es sei das Streichholz gewesen, um »die Lunte anzu­ zünden«. Die unmittelbar darauf das Fass in ihr, ein Fass ­voller Wut und Depression und beschädigter Träume, spreng­ te. Gewisse Absätze seien wie »Peitschenhiebe« über sie ge­ kommen. (Okay, der Autor infiziert und peitscht seine Leser!) Auf jeden Fall habe sie drei Tage später angefangen, ihr altes Leben abzureißen, Schritte eingeleitet, um allem Unglück zu entrinnen: der faden Stadt, der faden Ehe, dem faden Beruf. Und ein paar Monate später war sie alles los, auch das Haus, auch fad. Und war davon. Ihre Mail kam mit einem Foto. Da saß Mariella in der Hütte ehemaliger Menschenfresser. Auf Borneo. Sie lächelte triumphierend. Wie wohl alle, die das Besichtigen der Welt als ein maßloses Glück begriffen haben. An den Rand des Fotos hatte Mariella ein Zitat von Kurt ­Tucholsky gekritzelt, es ist aus dem Indienbuch: »Und höre nachts die Lokomotiven pfeifen, sehnsüchtig schreit die Fer­ ne, und ich drehe mich im Bett herum und denke: ›Reisen …‹«

Andreas Altmann reiste längere Zeit durch Asien, Afrika und Südamerika, lebte anschließend in Paris, studierte in New York; zurück in Deutschland, ­veröffentlichte er erste Re­por­tagen in Magazinen und Zeitungen; seit 1996 sind von ihm 17 Bücher erschienen. Seine Kind­heitserinnerungen Das Scheißleben ­meines Vaters, das Scheißleben ­meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend standen ­monate­lang auf den Bestsellerlisten. ­Andreas Altmann lebt heute wieder in Paris.

Sehenswür­digkeit. Und wenn man dann mit vollen Koffern die Heimreise antritt, sollten die Erinnerungen lieber im Herzen aufgehoben sein: 25 Millionen Gepäck­ stücke gehen nämlich pro Jahr an Flughäfen verloren. Das sollte aber niemanden entmutigen – in diesem Sinne: Gute Reise!


36  Vom Glück zu Reisen

»You   better start swimming Wolfgang Niessner ist Wiener qua Geburt, Österreicher aus Überzeugung und Europäer, was seine Haltung betrifft. Nicht zuletzt aber ist er Manager aus ­L eidenschaft. Seit 1999 gehört er dem Vorstand von Gebrüder Weiss an und leitet seit dem 1. Januar 2005 als Vorstandsvorsitzender die Geschicke des ­Unter­nehmens. Mit einem Gespräch über Stress und Nichtstun, Wien und New York, ­ Mozart und Van Morrison gratulieren wir ihm zum sechzigsten Geburtstag.


Vom Glück zu Reisen 37

or you’ll sink like a stone.«

*  Danzas war ein im frühen 19. Jahrhundert gegründeter Speditionskonzern. Das Schweizer Unternehmen mit französischen Wurzeln wurde 1999 von der Deutschen Post übernommen. Diese führte Danzas bis 2006 als Marke weiter, ehe sie komplett in der neuen DHL aufging (Quelle: Wikipedia.)


38  wolfgang niessner

interview:  Frank Haas

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*  Danzas war ein im frühen 19. Jahrhundert gegründeter Speditionskonzern. Das Schweizer Unternehmen mit französischen Wurzeln wurde 1999 von der Deutschen Post übernommen. Diese führte Danzas bis 2006 als Marke weiter, ehe sie komplett in der neuen DHL aufging. (Quelle: Wikipedia)

err Niessner, für die aktuelle Ausgabe des ATLAS haben wir mit verschiedenen Menschen gesprochen, die sich einer ­Sache leidenschaftlich widmen. Welchen Stellenwert hat Leidenschaft im Geschäftsleben? Für mich persönlich einen sehr hohen. Sie gehört dazu, um einen Job gern zu machen, und vor allem, um andere zu begeistern und auf die Mission mit­ zunehmen. Für Stoiker wird Glück durch die Dämpfung der Leidenschaft erst ermöglicht. Braucht Leidenschaft ein Regulativ? Der Fraktion der Stoiker gehöre ich bestimmt nicht an (lacht). Aber natürlich darf Leidenschaft nicht einfach bedin­ gungslos ausgelebt werden. Es sind Vernunft und soziale Intelligenz, die hier die Grenzen aufzeigen. An welchem Punkt in Ihrem Berufs­ leben wurden Sie selbst von der Leidenschaft und vom Ehrgeiz gepackt? Der Hebel hat sich umgelegt, als ich 1989 Luftfrachtleiter bei Gebrüder Weiss wurde. Da war ich zum ersten Mal Nummer eins und konnte entscheiden­

de Führungserfahrung sammeln. Im ­Alter von 36 hat man mir den Vorstands­ vorsitz von Danzas* in Österreich an­ geboten, und ich glaube, das war der Moment, in dem ich gespürt habe, dass da vielleicht noch mehr geht. Da hat sich eine Eigendynamik entwickelt, und ich habe mich gefragt, was die nächste Stufe sein könnte. Die Umstände, das Glück und die Gesellschafter wollten es, dass ich darauf zu Gebrüder Weiss zu­ rückkehren durfte – eine der höchsten Stufen, die man in Österreich in dieser Branche erklimmen kann. Dann war die Aussicht auf Erfolg ein Motor für Ihr Handeln? Kann Erfolg süchtig machen? Wenn man einmal Erfolg hatte, dann sucht man natürlich weiteren Erfolg, ganz klar. Andererseits waren einige charakterbildende Ereignisse in meinem Leben Misserfolge. Und auch für die bin ich im Nachhinein sehr dankbar. Wie lange ärgern Sie sich über beruf­ liche Fehler? Ziemlich lange. Ich beruhige mich irgendwann aber damit, dass ich in meinem Berufsleben glücklicherweise mehr richtig als falsch gemacht habe. Und darauf kommt es an: auf das güns­ tige Verhältnis von richtigen und fal­


wolfgang niessner 39

schen Entscheidungen. Ganz ohne Fehler kommt man nicht davon. Aber die Rückschritte müssen kleiner sein als die Fortschritte, die man macht. Ist Fehlertoleranz eine Art Königs­ disziplin der Führungskraft? Zumindest gehört sie dazu. Wer die eigenen Fehler einräumt, der gesteht auch anderen Fehler zu. Hätten Sie sich gerne als Kollegen? Meine Frau würde das wahrscheinlich nicht vorbehaltlos bejahen (lacht). Ich selbst finde, es gäbe Schlimmere. Und als Vorgesetzten? Als Vorgesetzten hätte ich mich gern, ja. Weil ich glaube, dass ich den Mitar­ beiterinnen und Mitarbeitern Möglich­ keiten zur Entfaltung gebe und sie, wo es notwendig ist, unterstütze. Ich bin vielleicht kein großer Taktierer im Umgang mit Menschen. Aber ich kann mich an keinen Fall erinnern, wo ich jemandem verdienten Rückhalt verwei­ gert hätte. Stress ist Teil Ihres Berufslebens. Wie gehen Sie damit um? Wenn jemand eine Führungs­ position angestrebt und ­erreicht hat, dann darf er sich nicht wundern, dass zu diesem Gesamtpaket

auch Stress gehört. Darüber beklage ich mich nicht, ich nehme das zur Kennt­ nis und versuche, die Aufgaben, die zu lö­sen sind, so gut es geht, auch hinzu­ kriegen. Natürlich gibt es mehr oder weniger angenehme Situationen, aber zu den Aufgaben im Management eines Unternehmens gehört es eben auch, mit unerfreulichen Dingen umzugehen. Und ich kann nicht behaupten, dass ich stressgequält bin. Manchmal scheint es

»Die Rückschritte ­ müssen kleiner sein als die Fortschritte.« ja durchaus modern und angemessen, sich als besonders stressgeplagt zu präsentieren, mag sein, trifft auf mich aber nicht zu. Meine Aufgabe ist nicht, meinen Mitarbeiterinnen und Mitar­ beitern zu signalisieren, dass ich nicht angesprochen werden will, weil ich unter Stress bin – ganz im Gegenteil! Meine Aufgabe ist es, als Ansprechpart­ ner gerade auch in schwierigen Zeiten zu dienen. Können Sie Nichtstun genießen? Ich glaube schon, ja. Obwohl meine Frau jetzt wahrscheinlich sagen würde:

»Nicht so ganz.« Das Nichtstun gelingt mir zumindest dann, wenn ich schöne Musik höre und ein paar Stunden in netter Gesellschaft bin, einfach den Moment genieße, ohne irgendein Pro­ blem, das ich lösen muss. Plagt Sie beim Nichtstun, zum Beispiel im Urlaub, ein schlechtes Gewissen? Ja, das Gefühl kenne ich. Ich bin ja auch im Urlaub immer online. Und spätes­ tens, wenn ich das erste kritische Mail kriege, hab ich schon mal Gewissens­ bisse. Aber es hält sich in einem erträg­ lichen Rahmen, jedenfalls ist es nicht so, dass ich darunter leide. Das wäre auch Blödsinn, schließlich hat jeder Anspruch auf Rückzug, auf Erholung. Mussten Sie das erst lernen, Abstand zum beruflichen Alltag zu bekommen? Nein, mir fällt das heute sogar schwerer als früher. Das hat auch mit der Ver­ antwortung, mit der Position zu tun: Je mehr Verantwortung, desto eher hat man mal ein schlechtes Gewissen, wenn man nicht 24 Stunden, 7 Tage die Woche verfügbar ist. Der Philosoph Peter Sloterdijk hat gesagt: »Urlaub gibt es nur vom falschen Leben.« Bei aller Wertschätzung für Herrn Sloterdijk: Das glaube ich nicht. Für


Wolfgang Niessner wurde 1954 in Wien geboren und ist seit Jahrzehnten glücklich verheiratet. Mit seiner Frau hat er drei mittlerweile erwachsene Kinder und lebt heute in der Nähe von Baden bei Wien. Nach Abschluss der Handelsakademie führte ihn sein ­Berufsweg über die LKW Walter-Unternehmensgruppe zu ­Gebrüder Weiss und Danzas, bevor er 1999 zu GW ­zurückkehrte und am 1. 1. 2005 den Vorstandsvorsitz der ­Gebrüder Weiss Holding AG übernahm. Wolfgang ­Niessner hat an der Wirtschaftsuniversität Wien einen Master of ­Business Administration erworben und das ­Senior Executive­ ­Program der Columbia ­Uni­versity New York absolviert.

mich hat »Urlaub« eine völlig andere Be­deutung. Ich nehme mir dann Zeit für Menschen, die in meinem Leben eine besonders wichtige Rolle spielen. Ich bin nicht auf der Flucht vor einem furchtbar schweren, anstrengenden Leben, ich suche keine Parallelwelt, sondern die Gelegenheit, Dinge zu tun, die mir Spaß machen. In der Urlaubs­ zeit verändern sich die Prioritäten. Inwiefern? Der Mensch, der mir in meinem Leben am meisten Entspannung bringen kann, ist meine liebe Frau. Gespräche mit meiner Frau, gemeinsame Aktivitäten – das ist für mich entspannend. Danach kommen die Musik, Ausstellungen, etwas Sport. Aber an erster Stelle stehen eindeutig meine Frau und meine Fami­ lie, und danach erst die schönen Künste. Ist Ihre Frau auch eine gute Kritikerin? (Lacht.) Ja, sie setzt sich geschäftlich unvoreingenommen mit mir ausein­ ander und holt mich gelegentlich auf den Boden der Realität zurück, damit ich nicht Gefahr laufe, abzuheben. Wer darf Sie noch kritisieren? Mich darf jeder kritisieren, wenn die Kritik sachlich ist. Ich habe überhaupt kein Problem, wenn man sich mit mei­

nen Entscheidungen kritisch ausein­ andersetzt. Ich habe nur etwas dagegen, wenn man auf rein emotionaler Basis Urteile fällt. Ich muss das natürlich auch zur Kenntnis nehmen und akzeptieren, dass es mir dann offensichtlich nicht gut gelungen ist, die Hintergründe einer

Sind Sie gern unterwegs?

Nein. (Lacht.) Ich bin bei weitem nicht mehr so gern unterwegs wie in meiner Jugend. Es ist Teil meines Berufes, und ich treffe gerne Menschen. Aber die Freude am Reisen ist mir im Laufe der Jahre ein wenig abhandengekommen.

»Ich suche keine Parallelwelt, sondern die ­­Gelegen­heit, Dinge zu tun, die mir Spaß ­machen.« Entscheidung zu beleuchten und nach­ vollziehbar zu machen. Gibt es noch weitere Orte oder Kreise, die Ihnen Input geben und die Sie ­in­spirieren? Ja, manchmal treffe ich Menschen, die sich nach relativ kurzer Zeit als wirklich inspirierend herausstellen. Von ande­ ren weiß ich schon, dass sie sehr gute Sparringspartner sind, und deren Nähe suche ich, wenn ich Austausch oder Anregung brauche. Ich bin aber weder Salonlöwe noch Party­tiger. Ich versuche, meine Zeit möglichst konkret zu nutzen, versäume dadurch vielleicht das eine oder andere, aber bis jetzt geht mir das nicht besonders stark ab.

Das hat auch damit zu tun, dass ich nicht mehr mit Begeisterung fliege, obwohl ich natürlich weiß, dass das Flugzeug statistisch gesehen das si­ cherste Verkehrsmittel ist. Ich kann im Flugzeug auch auf längeren Strecken nicht schlafen, und daher ist das Reisen für mich immer auch mit physischer Anstrengung verbunden. Außerdem finde ich es unnatürlich, in 10.000 oder 11.000 Meter Höhe um diese Welt zu düsen. Das mag ich immer weni­ ger, und die Nachrichten, die uns allein in diesem Jahr aus dem Flug­ verkehr er­ reicht haben, sind auch nicht gerade beruhigend.


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Und an welchem Ort möchten Sie gerne bleiben?

Zu Hause. Das ist in meinem Fall die Umgebung von Wien. Für einen Nicht­ wiener ist das vielleicht unverständlich. Aber ich bin in dieser Stadt aufgewach­ sen und fühle mich hier sehr, sehr wohl. Das heißt nicht, dass es nicht noch viele andere lebenswerte Plätze auf dieser Welt gibt. Aber Wien – das ist meine Heimat. Gab es niemals eine Diskussion, dass Sie nach Vorarlberg (Anm. d. Red.: ­Zentrale von Gebrüder Weiss) kommen sollten? Nein. Ich habe von Anfang an klarge­ macht, dass eine Übersiedlung nach Vorarlberg – trotz aller Attrak­tivität des Standorts – für mich nicht in Frage kommt. Und das haben die Gesellschafter zur Kenntnis genommen und akzeptiert. Die pro­ blematischere Diskussion war umgekehrt die ­Befürchtung, dass ich versuchen würde, den Hauptsitz nach Wien zu verlagern. Und da kann ich in aller Deutlichkeit

sagen, dass es dazu niemals auch nur ansatzweise eine ernsthafte Überlegung gab. Niemals. Dieses Unternehmen hat eine starke Vorarlberger Identität, es hat hier seine Wurzeln, und es wäre absurd, daran etwas zu ändern. Darüber hinaus

Woher rührte die?

Der Lieblingsschriftsteller in meiner Jugend war John Steinbeck. Außerdem kommen die Herren Bob Dylan und Jim Morrison aus Amerika, und Jimi Hen­ drix! Ende der Sechziger, Anfang der

»New York hat auf mich eine starke Anziehungskraft.« glaube ich, dass die physische Anwesen­ heit des CEO gar nicht von überragen­ der Bedeutung ist in einem Unterneh­ men, das heute mehr als 150 Standorte weltweit hat. Irgend­wo muss der CEO sitzen, aber durch die technischen Mög­ lichkeiten ist es sekundär, wo genau. Und in Wien zu sein, das hat ja auch Vorteile. Das hat Vorteile. Vor allem im Hinblick auf die Erweiterung Richtung Osten, zu der Zeit, als ich 1999 ins Unternehmen zurückgekommen bin. Da war Wien definitiv der bessere Platz als Vorarl­ berg. Also war es naheliegend, dass ich in Wien bleibe. Privat gab es früher allerdings auch eine sentimentale Be­ziehung zu Amerika.

Siebziger war Amerika das Gelobte Land. Ich bin hingereist und war begeis­ tert. In Kalifornien oder New York zum Beispiel habe ich mich sehr wohl ge­ fühlt. Nach New York zu kommen ist wie der Eintritt in eine andere Welt. Und ich habe New York auch in Zeiten gesehen, wo die Wirtschaft nicht so toll war, wo die sozialen Unruhen größer waren und die Kriminalität höher. Trotzdem hat diese Stadt auf mich eine starke Anzie­­ hungskraft ausgeübt – es ist eben New York. Und bedeuten diese Musiker Ihnen immer noch etwas? Oh ja. Ich wurde musikalisch geprägt in einer Zeit, in der mit den Beatles und den Stones eine neue Musikrichtung entstanden und gewachsen ist. Später war ich beeindruckt von Bob Dylan, der Texte geschrieben hat, die ich sehr gut


42  wolfgang niessner

Buddy Guy ist amerikanischer BluesGitarrist und gibt auch mit 78 Jahren noch regelmäßig Konzerte.

David Sanborns Musik bewegt sich ­zwischen den Genres Instrumentaler Pop, R & B und traditionellem Jazz. Er spielt ­Saxophon, seit er drei Jahre war.

Joe Sample ist im Herbst 2014 gestorben. Sein größter Hit war Street Life mit seiner Band The Crusaders (1979). Der Pianist stand zuletzt vor allem als Jazzmusiker auf der Bühne. Dianne Reeves singt, weil es ihr ­Leben ist. Die Jazzsängerin hat seit 1977 bereits 19 Alben veröffenlicht.

Jack Bruce ist Gründungsmitglied von Cream. Der Schotte spielt hauptsächlich E-Bass, ist aber auch am Cello und Klavier versiert.


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gefunden habe. Und dann natürlich Jimi Hendrix und Cream. Cream war auch ein Grund, warum ich so eine Zunei­ gung zum Bass entwickelt habe – Jack Bruce war ein ganz großer Bassist. Diese Musik höre ich immer noch gern, das sind meine Klassiker. Gehen Sie auf Konzerte? Meine Zeit ist knapp bemessen, unter der Woche ist das kaum möglich. Und Konzerte nur nach dem Veranstaltungs­ datum auszusuchen ist nicht lustig. Vor nicht allzu langer Zeit habe ich aber Joe Sample und Randy Crawford ge­ sehen, das war toll. Und Herbie Han­ cock, Pat Metheny, B. B. King und John Scofield. Welcher Musiker steht für Sie am allermeisten für Leidenschaft? Keith Richards. Beethoven. Und Buddy Guy ist ein leidenschaftlicher BluesGitarrist. Es gibt schon mehrere, die sehr, sehr leidenschaftlich sind, finde ich. Buddy Guy ist ja eigentlich auch ein Showman. Ja, aber in erster Linie ist er ein brillan­ ter Gitarrist. Ich hab ihn einmal im Vor­programm zu George Benson gehört, da war er um eine Klasse besser als das Hauptprogramm. Buddy Guy hat Emo­ tion gebracht, George Benson Perfek­ tion. Und im Zweifel ist mir die Emotion lieber.

Wenn Sie aus Ihrer Sammlung im Wohnzimmer nur 10 CDs behalten dürften: Welche wären das? Oje. Das kann ich nicht beantworten.

Das Spektrum ist so breit! Und es sam­ melt sich so viel an, von Puccini über

mich auch Sinnbilder im Bereich der Führung oder des Change Manage­ ments. Werden solche Texte auch heute noch geschrieben? Selbstverständlich behandelt die Kunst

»­ If my heart could do the thinking and my head begin to feel.« Ray Charles, Dire Straits, Frank Sinatra, Stevie Wonder bis Dianne Reeves, dazwischen noch Roxy Music und U2. Und Bruce Springsteen! Nein, auf zehn reduzieren, das könnte ich nicht. Und es hängt ja sehr von der Stimmung ab, was man aussucht. Sagen wir einfach, wir nehmen Ihre jetzige Stimmung zur Grundlage. Jetzt wäre zum Beispiel ein David San­ born gut, Keith Jarrett oder auch Luther Vandross. Mozart und Beethoven gehen immer, es gibt aber auch Momente für Bruckner oder Mahler. Die haben sich mir tief ins Bewusstsein eingeprägt. Vielleicht würde ich 10 Selbstgebrannte mitnehmen. (Lacht.) Und Van Morrison wäre sicher dabei: ­»If my heart could do the thinking and my head begin to feel.« Es gibt bei ihm so viele gute Text­ stellen, auch bei Bob Dylan beispiels­ weise: »You better start swimming or you’ll sink like a stone.« Das sind für

nach wie vor auch sozialkritische The­ men, das sollte man nicht unterschät­ zen. Vielleicht ist der Unterschied heute, dass die am stärksten wahrgenommene Musik eher durch Rhythmus als durch Inhalte dominiert. Aber je rigider ein System ist, desto eher gibt es mutige Menschen, die sich dagegen auflehnen, ihnen gilt mein größter Respekt. Das überwiegende Thema in der Kunst war und ist die Liebe. Das wird auch immer so bleiben. Wie Spinoza sagt: »Nur wenn ich nicht alles tun darf, kann ich alles denken.« Natürlich. Die Sehnsucht nach Freiheit ist dann am größten, wenn sie nicht gegeben ist. Ich bewundere die Men­ schen, die in totalitären Systemen die Kraft und den Mut haben, sich aufzu­ lehnen. Das hat meine Hochachtung.

Frank Haas wurde 1977 ­ eboren und studierte g ­Geschichte und Philosophie. Er ist verantwortlich für die Unternehmenskommuni­ka­ tion bei Gebrüder Weiss und ­Chef­redakteur des ATLAS.


44 FAMILIE

Die Familienseite für Kinder und Eltern – zum Mitnachhausenehmen, Lesen, Ausprobieren

Fast jeder Mensch hat etwas, das er leidenschaftlich gerne tut. Doch längst nicht jeder ist für seine Leidenschaft ­berühmt. Denn viele Leidenschaften entwickeln sich nur ganz allmählich, im Stillen und unbemerkt von anderen. Leidenschaftlich bei einer Sache zu sein bedeutet nicht, sie von Anfang an schon zu können. Oft muss etwas erst viele Male geübt oder trainiert werden, bis es so klappt, dass wir damit zufrieden sind. Und das macht nicht immer Spaß. Sollten wir nicht lieber Zeit mit Dingen verbringen, die wir

Denk Dir eine Sache aus, die Du schon ganz gut kannst, und bastel Dir einen Orden dafür. Male ihn so bunt aus, wie Du möchtest, beklebe und verziere ihn nach Deinem Geschmack und verleihe ihn Dir selbst. Denn nur Du bist genau so wie Du. Mach ein Selfie oder lass Dich mit Deinem ­Orden fotografieren und schicke das Foto bis zum 31. 01. 2015 an uns: redaktion@gw-atlas.com oder in einem Umschlag: Gebrüder Weiss GmbH Redaktion Atlas Bundesstraße 110 A-6923 Lauterach Österreich

schon können? Oder gehört es zum Erfolg dazu, dass man Niederlagen aushalten kann? Seltsamerweise ist es manchmal gar nicht so einfach, et­ was an sich selbst richtig toll zu finden, obwohl es andere gibt, die dasselbe vielleicht noch toller können – besser Fußball spielen, schönere Bilder malen oder schneller laufen. Und doch sollten wir nicht vergessen, dass es gute Gründe gibt, stolz zu sein auf etwas, wofür wir uns ange­ strengt haben, weil es uns am Herzen liegt.


Die Gewinner werden postalisch oder per E-Mail ­benachrichtigt und erhalten die Gewinne bis Ende März 2015. Leider, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die Teilnahme von Gebrüder-Weiss-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeitern aus rechtlichen Gründen nicht gestattet. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Die Gewinne sind nicht in bar ablösbar.

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Das Gold des Nordens am ­Mittelmeer Funde von Bernstein fernab von ihrer Quelle weisen auf ein hervorragend ­ausgebautes Handelsnetzwerk in der Bronzezeit hin

Bei Grabungen in Bayern nahe der versunkenen Stadt Bernstorf bei Freising ­wurden ein besonderer Bernstein und Gold ägyptischer Herkunft gefunden. Der Bernstein zeigt das Antlitz der berühmten sogenannten »Goldmaske des ­Agamemnon«, die in Mykene ausgegraben wurde. Sind die Funde von Bernstein so weit weg von seiner Quelle Ausdruck eines bereits in der Bronzezeit gut ausgebauten Handelsnetzwerkes, von der Ostsee bis an den Nil? Der Archäologe Timo Ibsen machte sich mit seinem VW-Bus auf den Weg durch mitteleuropäische ­Wälder, über verschneite Alpenpässe und das Mittelmeer bis ins ägyptische ­Nildelta, um auf den Spuren einer der ältesten Handelstraßen, der historischen Bernsteinstraße, zu wandeln. Dabei gewann er verblüffende Erkenntnisse.

Hätten Sie’s gewusst? Der Alpenpass Brenner ist nach Bernstein benannt.


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Mit dem VW-Bus auf den Spuren alter Handelsnetzwerke: der Archäologe Timo Ibsen.

text:  Timo Ibsen

L

ogistisches Denken, Investitionsgeschick und Risiko­ bereitschaft sind für den heutigen Unternehmer gän­ giges Handwerkszeug. Neu aber sind diese Grundsätze des geschäftlichen Erfolgs bei weitem nicht. Schon in der Bronzezeit, circa 3.500 Jahre vor unserer Zeit, haben findige Menschen Handel getrieben und damit reichlich Profit ge­ macht. Und das über Entfernungen, die wir heute kaum erah­ nen ­können. Vor allem ein Material versprach im eher roh­ stoffarmen Nordeuropa eine große Gewinnspanne: Bernstein, das Gold des Nordens. Das schriftlich überlieferte Wissen um den Bernstein und die großen Vorkommen im Norden ist alt. Aus der Zeit um 340 v. Chr. stammt der Reisebericht des griechischen Gelehr­ ten Pytheas, der auf dem Seeweg vermutlich zu verschiedenen Nordseeinseln fuhr und dort auch Bernstein fand. Er gibt als Erster die wissenschaftliche Erklärung ab, dass es sich um ein Baumharz handelt, und nennt den Bernstein Elek­tron. Unser Wort »Elektrizität« leitet sich davon ab, da der Bernstein die physikalische Eigenschaft besitzt, sich nach Reibung statisch aufzuladen und kleinste Partikel wie Staub und Flusen an­ zuziehen. In der antiken griechischen Welt jedenfalls waren die schwimmenden und brennenden Steine als »Tränen der Götter« tief in der Mythologie verankert und wurden in der Medizin als Heilmittel für allerlei Beschwerden eingesetzt. Auch heute noch gelten Bernsteinketten als schmerzlindernd und entzündungshemmend. Aber die Nutzung von Bernstein ist viel älter. Schon in der jüngeren Steinzeit um 5.500 v. Chr. wird er in Nord­europa zu Amuletten und Perlen verarbeitet. Von dort entwickelt er sich

zum Exportschlager: Ab der Bronzezeit, etwa 2.200–800 v. Chr., findet er sich wie an einer Perlenkette aufgereiht in Sied­ lungen, Gräbern und Opferdepots. Daraus ergibt sich eine Route, die von der baltischen Ostseeküste über Mitteldeutsch­ land durch Bayern über die Alpenpässe, wie zum Beispiel den nach dem Bernstein benannten Brenner, bis nach Mykene im heutigen Griechenland führt. Von hier ging es per Schiff weiter nach Syrien oder Ägypten. Nördlich der Alpen können anhand der Fundplätze von Bernstein konkrete Handelsrouten rekonstruiert werden. ­Belege dafür sind etwa das mehrere hundert Kilogramm schwe­re Bernsteindepot von Wroclaw-Patrynice in Polen, mehrere Opferhorte in der Umgebung von Halle in Mittel­

»­ Wo immer Bernstein auftaucht, scheint er ein Luxusgut der Privilegierten und Superreichen zu sein.« deutschland, das sogenannte Ingolstädter Collier aus 3.000 Bernsteinperlen oder auch die Bernsteinfunde aus der ­bronzezeitlichen Höhensiedlung bei Bernstorf in Bayern mit mykenischen Schriftzeichen und einer Gesichtsdarstellung. Aber auch im Mittelmeerraum gibt es Anhaltspunkte für einen Handelsweg. Und wo immer Bernstein auftaucht, scheint er ein Luxusgut der Privilegierten und Superreichen zu sein. Es finden sich Ketten aus Bernstein in den berühm­ ten Königsgräbern von Mykene; Bernsteinperlen waren neben Gütern aus Zypern, Syrien, Ägypten und Griechenland an


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Bord eines reichen Handelsschiffes, das vor 3.300 Jahren vor der türkischen Küste bei Uluburun gesunken ist; aus einem Königsgrab bei Qatna in Syrien stammt ein Löwenkopf aus dem goldenen versteinerten Harz, und im Grab des ägypti­ schen Pharaos Tutenchamun fanden sich Ohrringe mit Bern­ steinperlen. Und Laboruntersuchungen haben ergeben: Bei fast allen diesen Funden handelt es sich um baltischen Bern­ stein von der Nord- und Ostsee!

»Von Kaliningrad nach Mykene, Drehscheibe des Handels in der Bronze­zeit, sind es 2.765 km.« Für die Route von Kaliningrad, wo die Hauptvorkommen von Bernstein liegen, nach Mykene, Drehscheibe des Handels in der europäischen Bronzezeit, liefert Google maps folgende Ergebnisse: Mit dem Auto oder dem Lkw braucht man für die 2.765 km rund 28 Stunden. Zu Fuß wird die Route mit 2.333 km zwar kürzer, beansprucht aber mit 19 Tagen und 17 Stunden Dauermarsch wesentlich mehr Zeit. Allerdings warnt Google: »Seien Sie vorsichtig! – Auf dieser Route gibt es mög­licher­ weise keine Bürgersteige oder Fußwege.« Wie muss das erst in vorgeschichtlicher Zeit ausgesehen haben? Zwar gab es damals auch in Deutschland Verkehrswege, immer noch als tief in die Landschaft eingeschnittene Hohl­ wege erkennbar, auf denen langsame Ochsenkarren allerlei Güter durch die Gegend transportierten. Aber der Großteil der Händler wird zu Fuß unterwegs gewesen sein. Auch wenn größere Teilstrecken von einzelnen Personen oder Handels­ gruppen überwunden worden sind, rechnet man in der For­ schung heute eher mit einem Netzwerk von Handelsstütz­ punkten, an denen die Ware von Händler zu Händler verkauft wurde – und jedes Mal ein bisschen teurer wurde. Als leicht transportables, profitbringendes Luxusgut war der Bernstein in dieser Frühzeit nur eines von vielen Gütern, die vom Norden in den Süden und auch in umgekehrter Rich­ tung transportiert wurden. Mit den Personen, die solche Rei­ sen antraten, wurden immer auch Nachrichten, naturwissen­ schaftliche Kenntnisse, religiöse Ansichten oder neue Techniken, also Ideen, transportiert. Vor allem aber ging es wohl – neben Salz – um das seltene Zinn, das von einem der wenigen damals bekannten Vorkommen in Cornwall in Eng­

Schon in der Bronzezeit verstanden es die Menschen, größere Distanzen per Landweg zu überwinden und Handel zu treiben.

Baltischer Bernstein (von Niederdeutsch: bernen/börnen für »brennen«; wissenschaftlicher Name: Succinit) ist ein fossiles Harz von heute ­aus­gestorbenen Kiefern- oder Zedernarten des sogenannten Bernsteinwaldes in Skandinavien und im ­Bereich der heutigen ­Ostsee, das vor etwa 50 bis 35 Millionen Jahren abge­lagert wurde und durch ­verschiedene geologische Prozesse in seine heutige Form gepresst wurde. Im Baltikum, ins­ beson­­dere im Samland (Kaliningrader Gebiet, Russland), liegen die Hauptvorkommen. Sie machen 90 Prozent an den Weltvorkommen aus. In kleineren Mengen kommt der Bernstein auch in anderen Gegenden Europas (Italien, Rumänien, Ungarn, Deutschland u. a.) vor. Aufgrund seiner geringen Dichte


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land über verschiedene Routen bis Mykene und in den Mittel­ meerraum abgesetzt wurde und dringend für die Herstellung der neuartigen und effektiven Bronzewaffen benötigt wurde. Vielleicht liegt im Zugang zu den Zinnvorkommen im ­Norden sogar der Schlüssel für die Vormachtstellung Mykenes und seiner Verbündeten im Trojanischen Krieg. Zumindest bescherte es der Stadt den Reichtum, der noch heute an den imposanten Ruinen deutlich sichtbar ist.

»Der goldgelbe Bernstein war der ­ Motor der florierenden Konjunktur im frühen Europa.«

­(1,05 bis 1,096 ­g  /cm3) schwimmt der in vielen Farbschattierungen von Honiggelb bis Schwarz auf­ tretende Bernstein in Salzwasser. Beim Verbrennen verströmt er ­aromatische Gerüche, bei Reibung lädt er sich elek­trostatisch auf. Das in kleinen Splittern bis hin zu großen, mehrere Kilogramm schweren Brocken vorkommende organische Mineral mit seiner ge­ringen Härte wird seit der Steinzeit zur Schmuckherstellung genutzt. Wissenschaftlich interessant sind vor allem auch die sogenannten Inklusen, meist Insekten wie ­Fliegen, Käfer, Ameisen oder Spinnen, aber auch Schnecken, Vogelfedern oder Haare von Säuge­ tieren und vor allem Pflanzenteile, die Rückschlüsse auf die Erdgeschichte erlauben.

Der Norden dagegen profitierte durch den Zustrom von Kup­ fer aus dem Voralpenraum und den Innovationsschub bei der Waffenherstellung: Die beiden Schwerter, die zusammen mit der Himmelsscheibe von Nebra in Sachsen-Anhalt ge­ funden wurden, sind südlichen Vorbildern nachempfunden und sicherten den mitteleuropäischen Herrschern ihre Macht. In ihren Gräbern findet sich übrigens auch Gold, das aus ­Lagerstätten in Nubien am Nil stammt. Der goldgelbe Bernstein war der Motor der florierenden Konjunktur im frühen Europa der Bronzezeit. Und auch zu Zeiten des römischen Reiches 50 n. Chr. war der Bernstein­ handel auf der bis dahin in Teilen befestigten und gut aus­ gebauten »Bernsteinstraße« fest als Wirtschaftskorridor etab­ liert: So sandte der Kaiser Nero einen Ritter in die Gefilde an der Ostsee, um Bernstein zu besorgen, mit dem der berüch­ tigte Herrscher seine Gladiatorenspiele ausstatten ließ: Der Sand in der Arena bestand aus purem Bernsteinstaub.

Dr. Timo Ibsen, geboren 1972, ist Archäologe. Seit seiner Promotion 2009 arbeitet er am Zentrum für Baltische und Skandinavische Archäologie im Projekt »Forschungskontinuität und Kontinuitätsforschung – Siedlungsarchäologische Grundlagenforschung zur Eisenzeit im Baltikum« und leitet als Experte für die Region Oblast Kaliningrad (zu Russland gehörend) Ausgrabungen im Samland. Weitere Informationen zum Projekt: www.zbsa.eu/forschung/ akademieprojekt-baltikum


50 DIE WELT ORANGE

Schnell

Sparsam

47. Platz von 35.397 Läufern. Diese herausragende Platzierung erreichte Andreas Fischer, Depotleiter von GWP Leoben, beim »Wings for Life World Run«. Er startete am weltweiten Lauf im Mai 2014 im Donautal/Österreich.

Unter dem Namen »Orange Combi Cargo« fährt der Ganzzug von Gebrüder Weiss täglich von Vorarlberg nach Wien. Damit können pro Jahr mehr als 10.000 Transporte von der Straße auf die Schiene verlegt werden.

Brasilien In Zusammenarbeit mit einem brasilianischen Partner realisierte GW Tschechien einen aufwendigen Transport von Prag nach São Paulo (Brasilien). Aufgrund der Höhe des Transportgutes von fast 3,5 m und einer Breite von rund 5 m kam das Schwerlastflugzeug »Antonov 124« zum Einsatz. Nach der Verladung in Prag wurde die überdimensionale Fracht nach São Paulo geflogen und konnte dort dem Kunden fristge­ recht zugestellt werden.

Tschechien Mit über 1,2 Millionen Sendungen hat Gebrüder Weiss Tschechien 2013 seine bisherige Bestmarke weit über­troffen – das Sendungsaufkom­ men wurde um 25 Prozent gegen­ über dem Vorjahr gesteigert. Zwei Drittel der Sendungen sind dem Landverkehr zuzurechnen, jeweils 20 Prozent entfallen auf See- und Luftfracht. Das Ergebnis zeigt einmal mehr, wie wichtig der Stand­ ort für die ostwärts gerichtete Ex­ pansionsstrategie von Gebrüder Weiss ist.

Österreich In Wels-Pernau eröffnete Gebrüder Weiss ein neues Speditionsterminal, das die Aktivitäten des Unter­neh­ mens in Oberösterreich bündelt. Das 126.000 m2 große Areal mit 9.300 m2 Umschlagsfläche und 3.800 m2 Bürofläche entspricht den höchsten technologischen und ökologischen Anforderungen und bietet viele Möglichkeiten für Erweiterungen.

Bulgarien Der Spatenstich für das neue Ver­ teilzentrum in Elin Pelin (Bulgarien) ist getan. Der Neubau wird voraus­ sichtlich Ende 2014 den bisherigen Standort in Sofia ersetzen und vor allem den Balkan sowie Zentralasien bedienen. So soll das Wachstum in diesen Regionen gefördert werden und eine Schnittstelle für die jüng­s­ ten Niederlassungen in der Türkei und in Georgien geschaffen werden.


DIE WELT ORANGE  51

GroSS

L ang

Der Hartsfield-Jackson Atlanta International Airport hat mit mehr als 95 Millionen Fluggästen im Jahr das weltweit größte Passagieraufkom­ men. Die Passagiere werden an 195 Gates abgefertigt.

Der Gotthard-Basistunnel wird nach seiner voraussichtlichen Fertigstellung 2016 der längste Eisenbahntunnel der Welt sein. Mit allen Querund Verbindungsstollen werden insgesamt 153,5 km Tunnelstrecke angelegt.

Turkmenistan Einmal wöchentlich bietet Gebrüder Weiss einen Stückgutverkehr in die turkmenische Hauptstadt Aschga­ bat an. Die Regellaufzeit eines Trans­ports vom Standort Sofia (Bul­ garien) Richtung Osten beträgt zehn Werktage. Die Verbindung ist in dieser Form im Raum Deutschland, Österreich und Schweiz einzigartig und ermöglicht GW eine direkte Landanbindung an die aufstreben­ den Märkte in Zentralasien.

Korea Von Busan (Südkorea) brachte Weiss Ocean + Air Cargo Hamburg mit einer multimodalen Zusam­ menstellung aus Seefracht und Landverkehr mehrere CNC-Dreh­ maschinen nach Hüfingen im Schwarzwald. Die drei überhohen und überbreiten Maschinen (3,7 × 2,5 m) wurden zunächst per Seefracht nach Rotterdam transportiert, von dort mit Barge nach Stuttgart und weiter auf dem Landweg in den Schwarzwald gebracht – insgesamt mehr als 23.000 km.

China Nach einer einjährigen Vorberei­ tungsphase nahm Anfang Septem­ ber »Gebrüder Weiss Automotive Logistics« in China seine Arbeit auf. Das Joint Venture mit Jilin Inter­ national Transport Corporation (JIT) führt die Kompetenzfelder beider Unternehmen zusammen und ist auf die Bedürfnisse der schnell wachsenden Automobilund Automobilzuliefererindustrie in China abgestimmt.

Singapur Mit der neuen Sammelgut-Con­ tainer-Route Singapur–Tiflis vernetzt Gebrüder Weiss die (süd-) ostasia­tischen Märkte noch enger mit Vorder- und Zentralasien. Jede Woche werden Waren über die georgische Hafenstadt Poti direkt nach Tiflis verschifft. Durch die Direktanbindung an einen der wichtigsten Containerhäfen Asiens wird der im vergangenen Jahr eröffnete Standort Tiflis noch stärker zur zentralen Drehscheibe im Kaukasusgebiet.



Radsport 53

»Die Welt dreht sich weiter.« Was Andreas Müller im Sport fürs Leben gelernt hat

interview: Frank Haas Andreas, du bist seit zehn Jahren Radprofi und fährst 25.000 km im Jahr. Was treibt

bin ich jedes Mal froh, wenn es wieder losgeht. Wenn ich das alles rational nach Kosten/Nutzen abwägen würde, dann hätten ich und viele andere Radsportler schon längst aufhören müssen, weil der Ertrag – und zwar nicht nur finanziell, sondern auch was Wertschätzung oder Anerkennung angeht – im Vergleich zum hohen Aufwand ja doch sehr gering aus­ fällt. Das Gute daran ist aber, dass in unserem Team ausschließlich Leute sind, die den Sport aus Leidenschaft betreiben.

dich an? Der Hauptgrund – und der Grund, warum ich vor 20 Jahren mit dem Radfahren begon­ nen habe – ist das Reisen. Ich wollte schon als Kind alle 200 Länder der Welt bereisen. Durch das Radfahren wird mir das ermög­ licht, bis jetzt habe ich aber noch nicht einmal die Hälfte der Welt gesehen. Es gibt wenige Sportarten, wo man so viel unterwegs ist und vor Ort so viel sieht. Denn beim Rad­fahren bist du ja nicht in irgendeinem Gebäude, sondern draußen auf ganz normalen Land­ straßen und nah an den Menschen. Und wie viel Leidenschaft musst du dafür mitbringen? Wer das große Geld verdienen will, ist Eine Menge. Anfangs war es bei mir aber bei uns falsch, und das wird sich auch in weniger eine Leidenschaft, sondern einfach absehbarer Zeit nicht ändern. Dadurch ist Ehrgeiz. Ich war als Junge sehr ehrgeizig und das ein sehr angenehmes Arbeiten, weil habe erst später gemerkt, dass das Radfahren wir Gleichgesinnte sind, die eine Leiden­ an sich einfach toll ist und dass es das ist, schaft teilen. Es ist normal und legitim, dass was zu mir passt und was ich liebe, unab­ Geld eine Hauptantriebsfeder im Beruf ist, hängig von sportlichen Zielen oder von Reise­ aber es ist noch schöner, wenn man mit zielen. Und mittlerweile bin ich fast süchtig Leuten zusammenarbeiten kann, denen es nach diesen Glückshormonen. Wenn ich eine nicht um die Bezahlung geht, sondern um Woche unfreiwillig nicht Rad fahren kann,

»Wir sind Gleichgesinnte, die eine Leidenschaft teilen.«

Andreas Müller ist Radprofi im Team GW Oberndorfer und wurde 2013 Vize-Weltmeister. Der praktizierende Lebenskünstler mit doppelter Staatsbürgerschaft (Deutschland/­Österreich) ­genießt die vielen Dienstreisen während der Rennsaison und weiß es dafür umso mehr zu schätzen, wenn er mal mit seinen Freunden einfach nur in der Sonne sitzt. Als Selbstständiger zieht er jährlich eine Bilanz seiner ­Tätigkeit: Im

Wirtschaftsjahr 2013/2014 saß er 22.922 km fest im Sattel, fiel dabei 89-mal vom ­Peloton (dem Hauptfeld eines Straßenrennens) ab und kämpfte sich 78-mal wieder ans Feld heran. In 71 Flügen ist er 155.972 km quer um die Welt geflogen. In 35 ­Momenten hat er den Radsport als »sinnlose Selbstquälerei« verflucht – und in 117 Momenten zur schönsten Sportart von allen gekürt! www.andreasmueller.cc


54 radsport

die Sache selbst. Und das ist im Rad­ selbst war in den 1990ern noch jung sport definitiv der Fall, für mich als und naiv. Wir ha­ben ­damals gedacht, Spezialist für Bahnradsport übrigens das sei eben hartes Training und viel umso mehr, da es ja noch mal eine Arbeit und so. Bis wir uns eingestehen Rand­disziplin in einer Randsportart ist. mussten, dass in den oberen Bereichen sehr viele Leistungen nicht sauber Aber die jungen Fahrer im Team werzustande gekommen sind, das ist ja den sich doch bestimmt über­legen, nun kein Geheimnis mehr. Für den auch einmal für so ein großes Team ganzen Radsport war das alles andere fahren zu wollen, wo sich noch Geld als förderlich. Aber bei den Summen, verdienen lässt. die es bei der Tour de France zu verdie­ Natürlich ist das möglich, zu einer nen gibt, kann man sich natürlich nur Leidenschaft gehören ja auch hochge­ bedingt wundern, wenn Leute probie­ steckte Ziele und Träume. Aber ich sage ren zu betrügen. In unserem Bereich jedem jungen Fahrer, dass die Wahr­ geht es ­da­gegen um kaum mehr als um scheinlichkeit dafür so gering ist, dass ei­ne Aufwandsentschädigung, da ist eine Banklehre sicherer wäre. Vor 20 der Anreiz, seinen Körper zu schädi­ oder 30 Jah­ren hat das anders ausge­ gen und andere zu betrügen, deutlich sehen, da gab es im Radsport noch viel kleiner. Sicherlich gibt’s da auch ir­ mehr Jobs. gendwelche ganz Schlau­en, aber es ist In der Ära Lance Armstrong stieg die halt ein Unterschied, ob ich einfach Durchschnittsgeschwindigkeit bei nur einen Blumenstrauß gewinnen der Tour de France Jahr für Jahr. Hätte oder einen Millionenvertrag ergattern man nicht schon längst auf den Gewill. Lance Armstrong wurde jeden­ danken kommen können, dass da falls nicht von Leidenschaft getrieben, ­etwas nicht richtig ist? sondern von Geldgier und von Beses­ Die Durchschnittsgeschwindigkeit senheit. erhöht sich, weil sich das Material ständig ver­bessert, nur daran hätte man es also nicht erkennen können. Ich

»Natürlich will ich gewinnen.« Wo liegt denn der Unterschied zwischen Leidenschaft und Besessen-

heit? Natürlich will auch ich gewinnen,

sonst würde ich keinen Leistungssport be­trei­ben. Die Frage ist aber, wie ver­halte ich mich, wenn ich nicht ge­ winne? Ich probiere zu gewinnen, mit allen Mög­lichkeiten, die ich habe und die legal sind, und wenn ich nicht gewinne, dann ­akzeptiere ich das. Ich ärgere mich na­türlich ein, zwei Tage, aber dann setze ich mir ein neues Ziel. Von Besessenen wie Lance Armstrong und auch von anderen Spitzen­sport­


radsport 55

den man sich selbst macht. Als junger nicht gesund, weder für mich noch für lern, nicht nur im Radsport, ist über­­lie­ Nachwuchssportler war mir dieser mein Umfeld. Was mir aber immer fert, dass sie mit Niederlagen nicht gut Druck immer zu hoch, und ich habe hilft, ist ein konkretes Ziel, ein mittel­ um­gehen können und alles daran­ viele Jahre gebraucht, um damit gut fristiges oder kurzfristiges. Und dann setzen, nicht wieder zu verlieren, mit umgehen zu können. allen Mitteln, auch mit illegalen. Und das ist für mich der Unterschied, und Was kann man tun, um das richtige das gilt für jede andere Branche auch. Maß zu finden zwischen notwendiMan kann in seinem Beruf alles richtig ger Anspannung und zu viel Druck? gemacht haben und ist trotzdem nur Das Einzige, was mir wirklich etwas Drittgrößter. Und dann kann man gebracht hat, ist Lebenserfahrung. sagen, okay, meine Mitarbeiter und natürlich Ablenkung, Rad fahren zu Dass man dem Sport den richtigen ich, wir haben alles richtig gemacht, zweit, mit Kollegen treffen oder mit Stellenwert gibt, dass man da nicht und wir sind Dritter. Damit kann ich Freunden. die Probleme der Welt löst, weil es halt leben. Oder ich überlege krankhaft, einfach nur Sport ist. Letztendlich ist Wann bist du zufrieden? wie ich trotzdem Erster werden kann. er zur Unterhaltung der Leute da, Ich bin zufrieden, wenn ich in einem darüber hinaus wird kein unmittel­ Rennen alles umsetzen konnte, was ich Aber kann man denn ohne ein sehr bares Grundbedürfnis gestillt. Sicher­ wollte. Wenn ich keine taktischen Feh­ ­hohes Maß an Egoismus und Ehr­ lich ist das wichtig, die Leute wollen ler gemacht habe und meinen körper­ geiz überhaupt ein großer Champion nicht nur essen und schlafen und lichen Trainingszustand optimal aufs werden? arbeiten, die wollen auch Unterhal­ Pedal bringen konnte. Wenn es dann Das ist schwer. Die meisten Spitzen­ tung und Spaß, Brot und Spiele (lacht). trotzdem nur der vorletzte Platz ist, sportler, die ich kenne, sind über­ Aber auch nach einem wichtigen dann ist es halt nur der vorletzte Platz. durchschnittlich egoistisch. Ich Rennen dreht die Welt sich weiter. Umgekehrt kann ich mich richtig glaube, das geht nicht anders. Wenn ärgern, wenn ich durch taktische Fehler ich immer anderen den Vortritt lasse Womit wir wieder bei der Bescheiirgendwas ­versaue, wenn ich nicht alles und mich für die anderen freue, dann denheit wären. umsetzen konnte, wie ich es wollte. funktioniert das nicht. Stimmt. Ein Riesenvorteil im Radsport Und in meinem Alltag bin ich schon ist, dass er auch in viele ärmere Länder Und wenn es mal nicht so gut läuft – zufrieden, wenn mein Umfeld gesund oder Regionen führt, und das verän­ wie motivierst du dich an schlechten ist, und auch, wenn ich mit ein paar dert den Blick auf dein Leben. Wir Tagen? Freunden in der Sonne sitze und keiner schlep­pen so viel mit uns rum, was gar Ich fahre nicht 365 Tage im Jahr und hat eine elementare Not. nicht zwangs­läufig zu mehr Glück nicht bei jedem Wetter. Wenn ich mal führt. Wenn du mit eigenen Augen die einen Tag nicht Rad fahre, ist mein Gibt es außer Bescheidenheit noch Slums in Mexico City oder die Town­ schlechtes Gewissen nicht mehr so ­etwas, was du vom Radsport mit ins ships in Kapstadt gesehen hast, dann groß wie früher. Es funk­tioniert eben ­Leben nimmst? merkst du, wie viel Glück wir im Leben nicht jeden Tag, und das wäre auch Mir ein Ziel zu setzen. Leistungssport bereits gehabt haben. Und wie viele ist Fokussierung, gerade im Bahnrad­ Menschen auf der Welt dieses Glück sport. Es gibt einen Tag im Jahr und da nicht teilen. Zu dieser Einsicht kann ist die WM . Und es ist völlig egal, ob man auch anders kommen. Aber bei man drei Tage später eine gute Form mir war es halt der Radsport.  | FH hat oder eine Woche vorher, ob man gerade eine Erkältung oder Kopf­ schmerzen hat. Es zählt nur dieser eine Tag. Bahnrennen dauern maximal eine Stunde, teilweise noch viel kürzer. Es zählen nur diese paar Minuten, diese Sekunden. Das ist sehr viel Druck, einerseits von außen, aber auch Druck,

»Das Einzige, was mir wirklich etwas gebracht hat, ist Lebenserfahrung.«


56 radsport

Andreas Müller

1979

Geboren in Ost-Berlin 1988

Umzug nach Moskau,erste Berührung mit Fußball und Tischtennis (wenig erfolgreich) 1991

Rückkehr nach Berlin 1993

Anmeldung zum Radpsort beim TSC Berlin, Beginn der Radsportkarriere 1996

Erste Teilnahme an einer Deutschen Bahnmeisterschaft 1997

Teilnahme bei der Junioren-Weltmeisterschaft 2000

Aufnahme in die Sportgruppe der Bundeswehr

Sportlich, sportlich – ­Gebrüder Weiss und Sportsponsoring Neben dem Radsport fördert Gebrüder Weiss auch Fußball­ mannschaften in Kroatien und Serbien, Talente im Tennis (Serbia Open) und ist Sponsor des Red Bull Dolomitenmann 2013 in Lienz, der als einer der härtesten Teamwettbewerbe der Welt gilt. Des Weiteren werden jährlich der Salzburg ­Marathon und das Hypo-Leichtathletik-Meeting in Vorarlberg ­gesponsert, das einer der wichtigsten Events der weltweiten Leichtathletikszene ist.

2001

Erste Teilnahme bei einer WM in der ­Männer-Klasse 2006

Ausscheiden aus der Bundeswehr 2006 – 2007

3 Semester Studium der ­Politik­wissenschaften 2008

Annahme der österreichischen ­Staats­bürgerschaft 2009

Erste Weltmeisterschaftsmedaille 2013

Wechsel ins Team Gebrüder Weiss – ­Oberndorfer

Links: Auch beim Hypo-Leichtathletik-Meeting in Götzis/Vorarlberg, das die besten Zehnkämpfer und ­Siebenkämpferinnen aus aller Welt vereint, sind ­jedes Jahr orange GW-Banden zu sehen; rechts: GW sponserte 2013 den Red Bull Dolomitenmann, einen Staffelwettbewerb aus Berglauf, Paragleiten, Mountainbiken und Wildwasser-Kajak. www.redbulldolomitenmann.com


Bahnradrennen Das bekannteste Radrennen findet mit der Tour de France zwar auf der Straße statt, es gibt jedoch daneben zahlreiche Wettbewerbe auf der Bahn, die sich in Kurzzeit- und Ausdau­ er-Disziplinen unterscheiden lassen. Hauptsaison für Bahn­ radrennen ist Herbst bis Frühling, im Sommer werden die ­Fahrer wegen ihrer guten Form aus dem Winter zu Straßen­ rennen eingeladen. In den Niederlanden und in Belgien, vor allem aber im englischsprachigen Raum sind Bahnradrennen äußerst populär. Der erste Wettbewerb wurde bereits 1868 in Paris veranstaltet, damals noch auf einer Erdbahn über eine Distanz von 1.200 Metern. Mittlerweile wird das Oval mit den überhöhten Kurven aus Holz (in Hallen) oder aus Beton (in offenen Stadien) gebaut. Es wird mit speziellen Bahnrädern gegen den Uhrzeigersinn befahren, mit Geschwindigkeiten bis zu 70 km/h. Um bei die­ sem Tempo die Gefahr von Stürzen auf der engen Bahn zu ­verringern, werden ausschließlich Räder mit starrem Gang ohne Schaltung, Freilauf und Bremse eingesetzt. Weil sich die Pedale immer mitdrehen, muss permanent getreten werden. Statt zu bremsen, weicht ein Fahrer im Zweifelsfall nach rechts in Richtung Bande aus, wodurch sich der Fahrweg auf der Bahn und damit der Abstand zum Vordermann vergrößert. ­Dabei kann es vorkommen, dass er fast parallel zum Boden kommt, die Fliehkraft macht es möglich. Die speziellen Bahn­ räder gibt es nicht von der Stange zu kaufen, sie werden nur auf Bestellung individuell gefertigt.


58  dafür schlägt mein herz

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So verschieden die Interessen auch sein ­mögen, es liegt doch immer dasselbe ­Gefühl zugrunde – die Freude am Tun*. ­ GW-Mit­arbeiter erzählen, was ihr Leben ­reicher macht. al b ei

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Seit meiner Kindheit ist meine Leidenschaft das Tanzen. ­Gemeinsam mit meinem Ehemann ­nehme ich regelmäßig an Turnieren teil. Wir treten auch bei nationalen Turnieren in Tsche­ chien an. Davor trainieren wir bis zu sechsmal pro ­Woche. Was mich daran am meisten begeis­ tert? Die fließenden Bewegungen, die Spannung bei einem Turnier und vor allem die enge Ver­ bindung mit dem Partner. Nach einer ­intensiven Trainingssaison können wir selbst eine einstudierte Choreografie spontan beim Turnier verändern, ­sodass sie noch perfekt aussieht. Das funktioniert nur, wenn man viel miteinander tanzt und sehr gut auf­ einander ­eingespielt ist. Und nach einer harten Trainings­sai­son ist natürlich ein Medaillenplatz das »höchste der Gefühle«. Sarka Halova, GW Jeneč


dafür schlägt mein herz 59

Ich liebe die Malerei – sowohl als Betrachterin als auch als Künst­ lerin. Das Spiel mit Farbe, Form und Linie und deren Wirkung im dreidimensiona­ len Raum fas­zinieren mich. Diese Gestaltungsmittel be­ rühren mich auf einer ­anderen Ebene als z. B. Wort oder Klang, und sie ermöglichen mir das Eintauchen in eine andere Welt. Wenn ich selber male, interes­ siert mich der kreative Prozess, das Entwickeln von Bildlösungen ebenso wie das Resultat, das sich daraus ergibt. Die Sinnlichkeit der Farbe sowie de­ ren Materialität lässt mich spielen und Neues entdecken. Die­ se Handarbeit mag ich sehr, und sie ist ein Gegenpol zu mei­ ner Arbeit bei GW, wo das meiste digital erstellt wird. Im Entwickeln und Ausformulieren von neuen, kreativen Lösun­ gen unterscheidet sich meine Arbeit wenig von der Malerei, d. h., ich kann meine Leidenschaft auch bei GW leben. Regula Walther, GW Zürich

Ich sammle seit rund 30 Jahren Fahrzeugkennzeichen. Das erste, ein Fahrradkennzeichen, habe ich von einem Freund aus Aargau, Schweiz bekommen. Kennzeichen sind Teil unserer Kultur und stehen für Traditionen, die nicht vergessen werden sollten. Für mich ist es faszinierend, dass jedes Kennzeichen eine eigene Geschichte erzählt. ­Heute umfasst mei­ ne Sammlung mehr als 1.000 Stücke aus 107 Län­ dern. Das ­älteste stammt aus dem Jahr 1930. Auf meiner Homepage www.hr-plates.com kann man sich auch ausführlicher ­darüber informieren. Damir Cavor, GW Zagreb

Seit ich denken kann, habe ich mich fürs ­Fischen interessiert. Mit Schuld hat sicher mein Opa, der mich im Alter von vier Jahren an den Bodensee zum Fischen mitgenommen hat. Hier muss ich mir wohl den ­»Virus« eingefangen haben, den ich bis heute nicht mehr losgeworden bin. ­Später war ich im­ mer mit meinem Vater am See, bis ich mit 14 Jahren dann ­alleine meine Lieblingsbeschäftigung ausüben durfte. Außer am Bodensee wird diese Leidenschaft von mir seit ca. 20 Jah­ ren jährlich bei ­einem 14-­tägigen Fischerurlaub in Norwegen mit Freunden ausgelebt. Mich begeistert am Fischen, dass es verschiedenste Möglichkeiten gibt, seiner Passion nachzuge­ hen, und dass man sich größtenteils frei und uneingeschränkt in der Natur bewegt – und außerdem noch die Ruhe und dass hin und wieder auch ein vorzügliches Essen dabei heraus­ kommt. Günter Schmidt, GW Memmingen


60  dafür schlägt mein herz

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Das Sammeln von Streichholzschachteln ist für mich zu einer ­Leidenschaft geworden. In jedem Land sind sie ­ nterschiedlich gestaltet und u haben einen ganz eigenen Stil. Man kann fast sagen, dass es Kunstwerke sind, die zu wenig Beachtung erfahren. Ganz besonders interessant sind für mich jene von 1900 bis 1950 – ich habe 62 Stück aus dieser Zeit, die ich aus verschiedenen Erdteilen gesammelt habe. Sie stehen für mich sinnbildlich für den damaligen Bruch mit dem Konservativen und die Hinwendung zur Moderne. Die Designer waren stark von europäischen Kunstbewegungen wie Jugendstil, später auch Art déco oder Bauhausstil inspiriert. Mein ältestes Stück stammt aus dem Jahr 1910, handbemalt mit Pferden auf japanischem Reispapier. Ich habe auch welche aus den Weltkriegen mit Symbolen der US Army, Navy, Air Force oder des Roten Kreuzes. Wenn ich mal pensioniert bin, will ich die Sammlung in einer Bar verglasen lassen und ihren Anblick bei abendlichen Drinks genießen. Cheers! Ranjit Singh, WR Dubai

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Ich praktiziere seit fünf Jahren Yoga. Das ist meine wohltuen­ de Pause vom Alltag. Seit ich regelmäßig die Übungen mache, ruhe ich mehr in mir selbst. Das Leben rennt sowieso so schnell, da braucht es stille Momente. Yoga hält mich gesund – mental und körperlich. Für mich ist es sehr wichtig, in guter Kondition zu sein. Ich habe verschiede­ ne Rollen als Mutter, Frau, Arbeitnehmerin, Tochter und Schwes­ ter. Da muss ich die Welt aus verschie­ denen Per­ spektiven ­sehen und verstehen. Und dazu brauche ich eben manchmal ein bisschen Zeit für mich und ein bisschen Stille um mich herum. Annamária Duzmath, GW Dunaharaszti


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dafür schlägt mein herz 61

Mein erstes Foto im ­Tennis-Outfit ist schon im Baby­ alter entstanden. Meine Eltern sind seit vielen Jahren in dem Sport aktiv, und so sind meine Schwester und ich ­sozusagen auf dem Tennisplatz groß geworden. In meiner Jugend habe ich gut fünfmal pro Woche trainiert und regelmäßig an internationalen Turnieren teil­genommen. Die Highlights dieser Zeit waren die Teilnahmen an den vier Jugend-Grand-Slams, ein Junioren-Vize-Europameistertitel und einige nationale Erfolge, ­gefolgt von einem Sportstipen­ dium an einer amerikanischen Universität. Heute begleitet mich Tennis noch immer – als Hobby und toller ­Ausgleich zur Arbeit. Wenn ich am Platz stehe, dann entweder mit meinem Freund oder für einen Meisterschaftseinsatz meines Linzer Vereins in der 2. Bundesliga. Was mich am Tennis begeistert? Es kommt vor allem auf die mentale und nicht nur die kör­ perliche Stärke an! Es ist nie zu spät, ein Match noch umzu­ drehen! Jenny Zika, GW Wels

Als Teenager habe ich begonnen, mich für Rockmusik zu interessie­ ren, eiferte meinen damaligen Vorbildern nach und begann erst E-Gitarre und später E-Bass zu spielen. War das Ziel damals, möglichst laut, schnell und schräg zu spielen, sind meine musikalischen Interessen nach und nach gediegener geworden. Seit über zehn Jahren spiele ich in einer Six­ ties-Partyband. Einmal pro Woche kommen wir entweder zur Probe oder zu einem Konzert zusam­ men, wobei wir neben Elvis Presley und den Beatles diverse Klassiker aus Eis am Stiel covern. Die Songs ­aus ­den Sechzigern sind eingängig, verbreiten gute Laune und animieren Jung und Alt zum Mittanzen. Mir macht es nach wie vor viel Spaß, wenn es rockt und bei einem Konzert die Bude kocht … oder einfach im Keller für mich selbst zu spielen. Werner Hirschfeld, GW Zentrale Lauterach


62 ATLAS

U2 360° Tour mit »The Claw« »Teils Insekt, teils Raumschiff, teils Kathedrale«, so beschrieb die New York Times den Koloss, mit dem die Rockband U2 zwei Jahre durch die Welt reiste.


»Welttrunken   auf einem f­l iegenden Teppich, von Basar zu Basar.« Aus dem Leben eines Tourbegleiters

ATLAS 63


64 rockstarlogistik

Bernhard Klein ist promovierter Philosoph und weiß, dass man nur in Kombination von Perfek­tion, Antizipation und Geist als Tourmanager mit Rockstars ­unterwegs sein kann.

text:  Imke Borchers

D Die 360°-Tournee von U2, die im Juni 2009 in Barcelona begann und im Juli 2011 in Moncton/Kanada endete, hat in vielerlei Hinsicht neue Maßstäbe für den Tourbetrieb ­gesetzt. 137 Personen gehörten zur festen Crew, die von Ort zu Ort reiste. An den einzelnen Veranstaltungsorten wurden jeweils 120 weitere Helfer engagiert. Die täglichen Kosten beliefen sich auf etwa 750.000 €. »The Claw«, der vierbeinige Stahlkoloss mit einer Höhe von 51 Metern, wurde in der ­Mitte der Stadien aufgebaut. Jedes Klauenbein war bestückt mit Sound- und Lichttechnik; eine Video-Wand unter dem Dach sorgte für die bei Großkonzerten ­übliche Videoübertragung des Bühnengeschehens – und zwar von allen SeiAufbau ten, 360°. Durch diesen Kniff konnten die Stadien um bis zu 3,5 Tage 20 Prozent besser aus­gelastet und deutlich mehr ­Tickets verAbbau kauft werden. 4 Stunden Während der Tour waren drei Exemplare der Konstruktion Feste Crewbesetzung auf Reisen, nur so konnte der straffe Konzertplan logis137 Personen tisch bewältigt werden. Der un­geheure Aufwand hat sich Kosten Pro Tag gelohnt: Die 360°-Tour spielte 736 Millionen Dollar ein und 750.000 € ist bis heute die ­erfolgreichste transportflotte Tour aller 120 Lkw Zeiten.

ie Tour einer Rockband ist ein sensibles Zusammen­ spiel von sehr, sehr vielen Personen. Die meisten stehen dabei nicht auf der Bühne, sondern sorgen davor und dahinter, vor und nach den Konzerten für einen reibungslosen Ablauf. Und im Idealfall läuft alles nach Plan. Allerdings: Das ist die Ausnahme. Die Regel ist, dass andau­ ernd Unvorhergesehenes in den Ablauf integriert werden muss, sodass sich der Tross stets möglichst reibungslos von einem Ort zum anderen bewegt. Dafür bedarf es Menschen, die die Fäden in der Hand und die Dinge am Laufen halten. Menschen mit starken Nerven und ruhiger Hand. Menschen wie Bernhard Klein. Wo immer auch der Kunde herkommt: Will sich ein Dienst­ leister im Wettbewerb dauerhaft behaupten, sollte er ihm möglichst jeden Wunsch von den Augen ablesen. Sich auf einen Auftraggeber einlassen, verstehen, was er will und mit­ denken, wie sich seine speziellen Bedürfnisse umsetzen ­lassen, ist die Grundlage des Geschäfts – ob der Auftrag nun aus der Automobilindustrie kommt, aus der Lebensmittel­ branche oder aus dem Rockstar-Business. Was die Bedürfnisse von Rockstars angeht, ist Bernhard Klein aus München hoch spezialisiert, jahrelang war er per­ sönlicher Logistiker und Assistent für Rockstars auf Europa­ tournee. Eric Clapton, Mark Knopfler, Robbie Williams, Melis­ sa Etheridge – ihnen allen hat er Premiumbetreuung in allen Belangen geboten, 24/7, vom ersten bis zum letzten Tag einer Tour. Für Klein ein ganz normaler Job, sagt er, ein Knochen­ job allerdings: »Wie in jeder guten Assistententätigkeit weiß man immer, was der Chef will, gibt Anstöße und erinnert ihn. Man muss die Künstler bei Laune halten, sie immer wieder ­daran erinnern, wie schön es ist, auf Tour zu sein. Damit sie eine nächste Tour machen.« Klein ist Ansprechpartner in alle


rockstarlogistik 65

Richtungen, wird vom Flughafen angerufen, direkt von der Rollbahn, von Hotels und Restaurants und ist Auskunftsperson Nummer eins, wenn es darum geht, die Wege eines Stars fest­ zulegen und zu koordinieren: »Und du bist immer der, von dem alle wissen wollen, wann kommt der jetzt?« Viele Künstler vertreiben sich die knappe Zeit zwischen den Auftritten mit Essengehen und Shopping. Der Tourbeglei­ ter kennt die Städte, macht Vorschläge für Einkaufstouren und für Restaurants und spielt schon mal eine Partie Fußball mit, wenn der Künstler, wie etwa Robbie Williams, dies wünscht. Wo es sich anbietet, kommt man dabei auch miteinander ins Plaudern. Bernhard Klein hat Philosophie studiert, was ihm im Gespräch mit den Stars durchaus einen Vorteil verschafft. Denn viele – nicht alle – schätzen es, nicht immer nur über die eigene Kunst sprechen zu müssen, sondern sich auch durch abstraktere Themen inspirieren zu lassen.

»Man muss wie eine Oma fahren und gleichzeitig wie ein ­Rennfahrer.« Insgesamt eine vielfältige, komplizierte Aufgabe, so scheint es. Entscheidend sind dabei aber lediglich zwei Dinge, die absolut perfekt beherrscht werden müssen: Auto fahren und die richtige Distanz zum Star halten. Denn auch wenn die Beziehung im Laufe des Tourlebens privater wird und der Ton im Gespräch vermeintlich vertraulicher, sollte der Tourbeglei­ ter nie eine persönliche Grenze überschreiten: »Es gibt diese Formel: ›That’s what happens when you get too close to the artists.‹ – Du musst gewissen Regeln folgen, du darfst nicht immer zum Künstler hingehen, obwohl du es könntest. Sonst musst du gar nicht erst auf Tour gehen. Du musst dich abgren­ zen und darfst dich nicht als der Kumpel von Eric Clapton definieren, dann verbrennst du, metaphorisch gesprochen. Die Künstler sind wie verrückte Könige, die sind unberechen­ bar.« Wer die Distanz wahrt, bleibt länger im Business. Hinter der Tournee eines Rockstars oder einer Rockband steckt eine logistische Meisterleistung. Künstler, Band und Crew werden in A-(Artist), B-(Band) und C-(Crew)-Party ­unterschieden und aufeinander abgestimmt. Riesige Fahr­ zeugflotten bewegen das Equipment und die zahlreichen ­Menschen, die am reibungslosen Ablauf einer Tour beteiligt sind. In der Regel sind A-Party und B-Party unabhängig von der C-Party unterwegs - die Crew hat ihren eigenen Reise­ plan, der Künstler reist oft alleine, manchmal mit Manager, dem Partner oder der Partnerin, und manchmal auch gemein­

sam mit der Band. Bands reisen in der Regel zusammen, eini­ ge aber auch lieber getrennt, jedes Mitglied mit individuellem Reiseplan. Nur zum Konzert müssen alle am selben Ort sein. »Die Stones reisen getrennt«, gibt Klein preis, »auch die ­Eagles, die treffen sich für zwei Stunden auf der Bühne und ­gehen dann wieder auseinander.« Bei der 360°-Tour von U2, die alle Rekorde gebrochen hat, reiste allein die Crew in 14 Bussen. Zusammen mit den Mer­ chandise- und Catering-Trucks waren ca. 200 Lkw für U2 un­ terwegs. Um eine Rundum-Betreuung innerhalb Europas stets aus derselben Hand anbieten zu können, arbeiten Tourbegleiter nach dem Konzept »Bocksprung« oder »Leapfrogging«: Ein Team betreut die Städte 1, 3, 5 und das andere die Städte 2, 4, 6. Der Künstler fliegt zwischen den Veranstaltungsorten mit dem Privatjet, gelegentlich nimmt er auch die Bahn: Eric Clap­ ton ist in Japan beispielsweise auch gern auf der Schiene un­ terwegs. Vor Ort stehen die Tourbegleiter immer schon mit dem Wagen bereit, den sie von einer Tourstadt in die über­ nächste gefahren haben, und bringen den Künstler dort von A nach B. Klein hat auf diese Weise nicht selten auf der Straße über 1.000 Kilometer an einem Tag zurückgelegt, insgesamt etwa 30.000 gefahrene Kilometer pro Tour. Kein Wunder, dass er entsprechende Fahrkünste als Schlüsselqualifikation nennt: »Man muss wie eine Oma fahren und gleichzeitig wie ein Rennfahrer.« Also behutsam, schnell und zuverlässig. Das Tourleben gleicht dem Leben eines Handlungsreisen­ den – das ständige Unterwegssein, der Wechsel der Klima­ zonen innerhalb kurzer Zeit, das Eintauchen in die Atmo­­ sphäre von immer neuen Städten erzeugen einen Taumel mit eigenem Reiz. »Welttrunken auf einem fliegenden Teppich, von Basar zu Basar«, beschreibt Klein diesen Zustand. Und trotz aller Strapazen, trotz der immer neuen Anforderungen, die die besonderen Bedürfnisse der Künstler stellen, gibt es darin Momente von friedlicher Übereinkunft mit dem Tross: »Man ist da, arbeitet zusammen und freut sich dran. Luxus, Unbekümmertheit, Ausnahmezustand, Faszination für die Musik und der verschworene Zirkel der Crewmitglieder – das ist wie eine große Familie.« Und nach der Show ist immer vor der Show.

Imke Borchers, geboren 1982, ist Literaturwissenschaftlerin und ­Redakteurin des ATLAS.


66 ATLAS

Verladung des Propellers im ­Hamburger Hafen (s. Text rechts).


Diamanten, Propeller, Schnee, Fernseher – besondere Güter fordern besondere ­Lösungen

»La Modernista Diamonds«

Propeller auf Reisen

Ein Füllfederhalter von Caran d’Ache, der mit über 5.000 Diamanten und 96 Rubinen besetzt ist und den Guinness-Rekord als »Teuerstes Schreibgerät der Welt« hält.

Goldfarben glänzt er im Morgenlicht und hängt von oben herab am Kran: ein riesiger Propeller mit knapp 930 cm Durchmesser und 82 Tonnen Gewicht.

strecke

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Genf – Australien

Hamburg – Hongkong

transport

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Zunächst in einem Panzerfahrzeug zum Flug­ hafen, von dort aus per Flugzeug.

Mit dem Schiffkran in Hamburg auf ein Schiff verladen und von dort in 30 Tagen nach Hong­ kong verschifft.

Ein LKW voller Schnee

Fernseher auf Kufen

Marc Girardelli, einst berühmter Vorarlberger Skiläufer, hatte gerade eine Skihalle im westfäli­ schen Bottrop in Betrieb genommen, als die Schneemaschine ausfiel. Wie konnte er auf die Schnelle tonnenweise Schnee ins verregnete Ruhrgebiet transportieren?

Die Fahrt begann denkbar unspektakulär: Einen Fernseher sollte der GW-Fahrer in den Tiroler Alpen ausliefern. Interessant wurde es erst, als er im Ort ankam und feststellte, dass sich die angegebene Straße vor Errei­ chen der Lieferadresse in einen schmalen Pfad verwandelte.

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Gletscher im Südtiroler Kaunertal–Bottrop, Deutschland

Vom Wegende bis zur Haustür

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80 Lkw, sogenannte Großraummuldenkipper, wurden mit Caterpillar-Raupen einen Privatweg zum Schneedepot der Kaunertaler-Gletscher hochgezogen und fuhren voll beladen wieder hinab, bis nach Bottrop. Ein Fahrer geriet in ­einen Föhnsturm und lud an der Skihalle 5 Ton­ nen Wasser ab.

Auf Holzkufen wurde der Fernseher mit Hilfe des Empfängers 700 Höhenmeter den Berg hochgezogen – in 1,5 Stunden Schweiß­ arbeit.


In guter Gesellschaft Für Leidenschaft haben bereits viele kluge Köpfe passende Bilder gefunden. Einige der schönsten möchten wir Ihnen mit auf den Weg geben.

»Unsere Leidenschaften sind wahre Phönixe. Wie der alte ­verbrennt, steigt der neue ­sogleich wieder aus der Asche ­hervor.« Johann Wolfgang von Goethe

»Ich habe keine ­besondere Begabung, sondern bin nur leidenschaftlich neugierig.« Albert Einstein


»Steckt es nicht in dir, kannst du es auch nicht heraustrompeten.« Louis Armstrong

»Die Leidenschaft ist der ­Pöbel im Menschen, der­­einen Aufruhr gegen seine Vernunft herbeiführt.«  William Penn

»Nicht die Technik, sondern die Leidenschaft macht einen grossen Tänzer aus.« Martha Graham


Die perfekte Balance zwischen Hingabe und Selbstkontrolle.


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Feuerläufer, Fallschirmspringer und heiße ­Fußsohlen HARALD MARTENSTEIN über Hingabe, Ekstase und Ruinvermeidung

D

ie Leidenschaft ist, für sich betrachtet, weder etwas Gutes noch etwas Schlechtes, das macht es kompli­ ziert, mein Freund. Wenn wir unter »Leidenschaft« eine starke Aufwallung des Gefühls verstehen, die totale Hin­ gabe an was oder für was auch immer, dann sind wir geneigt, die Leidenschaft als eine Form der Ekstase oder der Verzü­ ckung zu betrachten, welche am Ende in die Erfüllung mün­ det – was spräche dagegen? Dann aber fallen uns all diejenigen ein, die von ihrer Leidenschaft in den Untergang geführt wor­ den sind, von der Leidenschaft für das Spiel, für das Risiko, für einen Menschen, der den Preis, den wir für die Leidenschaft bisweilen zu zahlen bereit sind, am Ende auch unerbittlich einforderte. Es gibt edle und weniger edle Leidenschaften, gewiss, auf das Ziel der Leidenschaft kommt es an. Doch lassen wir das Moralisieren beiseite, fragen wir stattdessen: Wie können wir den Gefahren der Leidenschaft entkommen, dem Ruin, dem blinden Marsch in den Untergang, wie können wir die Leiden­ schaft, ohne ihr zu entsagen, einhegen in ein gesundes Maß? So geht’s Die Antwort auf diese Frage geben uns die Feuerläufer. Der Feuerlauf führt barfuß über ein Bett aus glühenden Holzkohlen, die bis zu 450 Grad heiß sind – gäbe es ein besse­ res Bild für die Leidenschaft? Der Feuerlauf ist ein alter Brauch mit rituellen Wurzeln, bekannt bei Naturvölkern in den verschiedensten Ecken der Erde, heute meist profanisiert zu einem Touristenspektakel. Die westliche Zivilisation ist dem Feuerlauf lange Zeit misstrauisch begegnet. Man ver­ mutete Tricks, vielleicht auch die Wirkung von Hypnose oder von schmerzdämpfenden Drogen. Aber es geht mit rechten Dingen zu. Jeder kann das tun, vorausgesetzt, er oder sie verhält sich richtig.

Holz und Kohle sind schlechte Wärmeleiter, zumal wenn sie von Asche bedeckt sind. Es dauert eine kleine Weile, etwa eine halbe Sekunde, bis die Glut ihre Wirkung auf die Haut entfaltet. Das Geheimnis besteht darin, den Fuß immer nur ganz kurz aufzusetzen und ihn dann möglichst hoch anzuhe­ ben, während man den anderen Fuß zu Boden setzt. Aber, und das macht die Sache noch interessanter, der Feuerläufer darf keinesfalls rennen. Beim Rennen verkleinert sich die Fläche des Fußes, die mit dem Feuer in Berührung kommt, gleichzei­ tig steigt durch das kräftige Abstoßen des Fußes der Druck, den Zehen und Fußballen auf die Glut ausüben. Der erhöhte Druck auf die Glut verkürzt die sichere Zeitspanne, die dem Läufer zur Verfügung steht. Rennen ist deshalb viel unsicherer als gelassenes, zügiges Gehen. Verstehen Sie? Der Läufer muss seine Angst überwinden, bevor er die Glut begeht. Er tritt mit dem vollen Körperge­ wicht auf. Er muss eine perfekte Balance zwischen Hingabe und Selbstkontrolle besitzen, er darf weder seiner Furcht nachgeben noch der Stimme der Selbstüberschätzung, die ihm nach einigen Sekunden vielleicht zuflüstert, das Feuer sei gar nicht so schlimm. Es ist schlimm, aber nur dann, wenn er zu langsam geht oder zu schnell. Lauf los Dieses Rezept könnt ihr auch für die Leidenschaften anwen­ den, egal ob ihr euch ins Geschäftsleben stürzt, mit dem Fall­ schirm aus einem Flugzeug oder in die Arme des Eros. Es ist falsch, zu viel Angst zu haben, man betrügt sich dann um so manches. Es ist aber auch falsch, tollkühn zu sein, die eine oder andere Art des Ruins wäre die Folge. Du musst dir die Glut genau anschauen, über die du zu wandeln gedenkst, mein Freund. Du musst abschätzen, wie lange du auf ihr stehen kannst, ohne zu verbrennen. Und dann lauf los. Ohne Hast, ohne Zögern. Aber, bitte, verrechne dich nicht.

Harald Martenstein ist Autor der Kolumne »Martenstein« im ­ZEITmagazin und Redakteur beim Berliner ­Tagesspiegel. Der mehrfach ausgezeichnete Jour­na­ list, u. a. mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis und Theodor-Wolff-Preis, veröffentlichte zahlreiche ­Bücher, darunter Romantische Nächte im Zoo und Ansichten ­eines Hausschweins. Zuletzt ist Die neuen Leiden des Alten M. erschienen.


Der nächste ATLAS : Tradition

Der nächste ATLAS erscheint im Frühjahr 2015 – wir freuen uns, dass Sie bis hierher ­gelesen oder zumindest geblättert haben. Noch mehr freuen wir uns, wenn Sie uns ­sagen, wie Ihnen dieser ATLAS gefallen hat, damit wir das, was wir tun, noch besser tun können. Schreiben Sie uns doch per E-Mail: redaktion@gw-atlas.com ATLAS ist das Kundenmagazin der Gebrüder Weiss

Die hierin enthaltenen Informationen wurden mit größt­mög­

(unten), 31, 35, 43, 49, 56, 65, 71: Illustrationen von Max

Gesellschaft m. b. H. und erscheint zweimal im Jahr.

licher Sorgfalt zusammengestellt und auf ihre Richtigkeit hin

Schulz; S. 24–26 (oben): Illustrationen von Mareike Engelke;

Medieninhaber, Herausgeber, Verleger:

überprüft. Eine Gewährleistung für die Richtigkeit und Voll­

S. 38–42: Illustrationen von Gerhard Schröder; S. 44/45

Gebrüder Weiss Gesellschaft m. b. H., Bundesstraße 110,

ständigkeit der Informationen wird dennoch nicht über­nom­

Illustrationen von Carolin Hüttich; S. 6 8/69: Illustrationen

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Redaktionsschluss: 12. September 2014

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Artikelnummer: 6034 Der ATLAS erscheint in einer deutschsprachigen und einer ­englischsprachigen Ausgabe. Bild- und Copyrightnachweis: Cover und Rückseite, S. 10–22: Rainer Groothuis; S. 6, 44 (und privat), 56, 58–61 (und privat): Gebrüder Weiss Gesellschaft m. b. H.; U2: Getty Images; S. 3: Thomson Reuters; S. 4: Hanja Litzba; S. 27: Forum Corpo­ rate Publishing; S. 28/29: Amelie Zadeh; S. 30, 54/55: iStock; S. 3 2: Isabela Pacini; S. 36/37 und 40: Ludwig Berchtold; S. 46: Stephan Zengerle; S. 47: Timo Ibsen; S. 48/49: AmberPieces; S. 5 2, 57: Conny Uhlhorn; S. 62/63: Paul Gourley; S. 64: Bernhard Klein; S. 66: Romanus Fuhrmann; S. 70: CORBIS ; S. 23, 26

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passione? geht nicht ohne! ob österreicher, saudis, thais ob griechen, ob wallonen ob der charakter kalt, ob heiß: ein jeder pflegt passionen ob tugendreich, ob zweifelhaft erfahren? grüne ohren? personen ohne leidenschaft sind bislang nicht geboren das eint uns mehr als geld und blut kultur, nation und wurzeln der mensch ist erst komplett (und gut) wenn emotionen purzeln ingo neumayer schreibt gedichte und unterhält den Blog Zwölf Zeilen zur Zeit (www.zwoelfzeilen.com). er lebt in Köln.


Mit Nachrichten, Kolumnen, Interviews, vielen Bildern und der Lust, die Welt zu bewegen.


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