zoon politikon - Gott und die Welt

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Volk Gottes im kirchlichen Exil Unter den katholischen Christen gärt es. Es regen sich Widerstand und offener Protest gegen die Kommerzialisierung von Entscheidungen in der verfassten Kirche und den karitativen Einrichtungen, die der Glaubwürdigkeit der Glaubensgemeinschaft schaden. Katholiken empfinden die freundliche Kooperation zwischen Staat und Kirche zunehmend als störend. Die Staatsleistungen passen ihrer Meinung nach nicht mehr in die politische Landschaft. Eine größere Distanz zur staatlichen Hoheitsverwaltung wäre insbesondere für die kirchliche Präsenz beim Militär und beim Strafvollzug wünschenswert. Der verfassungsrechtlich garantierte konfessionelle Religionsunterricht an öffentlichen Schulen und die Konfessionsbindung theologischer Fakultäten wirken in einer weltanschaulich neutralen Gesellschaft wie ein Fremdkörper. Auch die Kirchensteuer wird nicht mehr gleichmütig hingenommen. Die Sympathie mit einem freiwilligen Beitragssystem, das die Mitwirkung des Staates, der Banken und der Arbeitgeber beim Steuerinkasso beseitigt, wächst. Die Kirche sollte eine private verbandliche Organisationsform wählen und zur Staatsmacht einen grösseren Abstand halten. Viele möchten sich persönlich für die Zahlung der Kirchensteuer entscheiden, so dass sich das kirchliche Engagement und die Zahlungsbereitschaft stärker decken. Die Ortsgemeinde sollte der erste

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Sie finden bei einigen nachwachsenden Bischöfen und jungen Klerikern einfühlsame Befürworter. Diese entdecken kultische Traditionen in der Bibel, die an das nationale Zentralheiligtum des Tempels in Jerusalem geknüpft waren, und spielen die Kultkritik der Propheten, die distanzierte Einstellung Jesu zum Tempelkult und den vollständigen Verzicht der Urkirche auf «kultisch-priesterliche» Titel ihrer Gemeindeleiter herunter. Ausserdem verweisen sie in Erwartungen einer säkularen Gesellschaft an eine «Civil Religion» und die Kirchen als Agenten religiöser Dienstleistungen. Sie sollen durch ihre Wertorientierungen und moralischen Überzeugungen den Zusammenhalt der Gesellschaft gewährleisten und sinnstiftende Horizonte für die komplexen, oft gar widersprüchlichen Erfahrungen des wirtschaftlichen, politischen und technischen Alltagsgeschäfts und dessen Interessenkonflikte liefern. Bei schicksalhaft hereinbrechenden Katastrophen, Amokläufen und Massenunfällen, die durch technisches oder menschliches Versagen, durch kriegerischen Terror oder durch unfassbar entfesselte Gewalt Einzelner verursacht sind, sollen sie Trauerarbeit leisten und das Gespür für «Transzendenz» wach halten. All dies, damit die Menschen die Vorläufigkeit gelingenden Handelns und die Endlichkeit der Welt bescheiden annehmen und sich in der Rebellion gegen gesellschaftliche Krisen, politische Fehlleistungen und finanzielle Engpässe nicht aufreiben.

Adressat des Kirchenbeitrags sein. Ein Alarmzeichen des Widerstands gegen das extrem hierarchische Kirchenregime ist der steigende Trend der Kirchenaustritte, die vor staatlichen Behörden erklärt werden müssen. In einem Pilotprozess, den ein katholischer Kirchenrechtler angestrengt hat, wird derzeit vor staatlichen Gerichten geprüft, ob mit dem Austritt aus der Körperschaft öffentlichen Rechts automatisch ein Glaubensabfall verbunden und die Mitgliedschaft in der Glaubensgemeinschaft aufgekündigt sei. Die sexuellen und gewalttätigen Übergriffe kirchlicher Amtsträger haben zahlreiche Katholiken dazu gebracht, sich nicht mit einer Entschuldigung und einem versprochenen Gesinnungswandel zufriedenzugeben. Systemfehler verlangen strukturelle Änderungen, etwa die Preisgabe einer verkrüppelten Sexualmoral oder den Abschied von einer ausschließlichen Männermacht und die Zulassung von Frauen zu allen Entscheidungspositionen in

«Der steigende Trend der Kirchenaustritte ist ein Alarmzeichen des Widerstands gegen das extrem hierarchische Kirchenregime.» Friedhelm Hengsbach SJ

der Kirche. Auch die Entkopplung der Berufung zu einem kirchlichen Amt und der zu einer partnerschaftslosen Lebensform, die bisher nicht selten nur widerwillig hingenommen wurde, sowie die Beseitigung der geschichtlich gewachsenen absolut monarchischen Kirchenverfassung harren einer Reformation. Solche Katholiken, die ursprünglich in einer konfessionell abgegrenzten Kirche beheimatet sind, fremdeln ihr gegenüber, fühlen sich in einem kirchlichen Exil, das sich von der Nachfolge des Jesus von Nazareth weit entfernt hat. Dieser hat ja keine konfessionell abgegrenzte Kirche verkündet, sondern das Reich Gottes, die Gottesherrschaft. Mit dieser Botschaft ist Gottes schöpferisches und heilsames Handeln gemeint, das alles zerbricht, was den Menschen bedrückt, niederhält und unterjocht. Sie befreit ihn vielmehr und lässt ihn frei atmen, damit er aufrecht gehen kann. Solche Menschen sollen den Atem Gottes in sich spüren, lebendige Wesen werden und so mehr lieben und mehr glauben. «Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf der Erde!» So beten die Christen als Volk Gottes jenseits konfessioneller Kirchengrenzen, wie Jesus sie gelehrt hat. Sie beten darum, dass dieses Reich in den Herzen der Liebenden und Glaubenden ankommt und dass es die Glut ihres Engagements für Gottes Gerechtigkeit leuchten lässt.

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