Scum fpr Science

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Hannes Jähnert März 2011

Scrum for Science empirische Prozesssteuerung in der Wissenschaft – Essay –


Inhalt Herausforderungen f端r Wissenschaft und Forschung

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Scrum for Science

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Komplizierte und komplexe Prozesse

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Empirische Prozesssteuerung

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Das Prozessablaufmodell von Scrum

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Scrum im ZTG

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Fazit

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Quellen

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Herausforderungen für Wissenschaft und Forschung „Wissenschaft und Forschung sind unstrittig die wichtigsten Grundlagen für die Entwicklung der Wirtschaft und Gesellschaft, schließlich für den Wohlstand der Nation“ (Wintermantel 2007: 6). Diese Feststellung der amtierenden Präsidentin der Hochschulrektorenkonferenz Margret Wintermantel trifft mein Anliegen ins Mark: In einer Gesellschaft wie der unsrigen, in der Wissen ein zentrales Gut und unabdingbarer Produktionsfaktor ist, ist die Erarbeitung neuer Erkenntnisse in Wissenschaft und Forschung m.E. sogar die wichtigste Grundlage nationalen Fortkommens. Deutschland verfügt nicht über sonderlich viele Bodenschätze und kann sich auch nicht mit billigen Arbeitskräften gegen aufstrebende Industrienationen behaupten. Dennoch war Deutschland 2009 nach China und vor den USA „Vizeexportweltmeister“ (WTO ebd.). Warum? In seinem Buch über den „Tatort Universität“ schreibt Wolf Wagner diesen (unsicheren) zweiten Platz in der Weltrangliste der Exportnationen vor allem der Innovationsfähigkeit deutscher Wirtschaftsbetriebe zu (ebd. 2010: 7ff). Im globalisierten Konkurrenzkampf – so Wagner – beschleunige sich der Zirkel von Innovation und Imitation immer weiter, sodass die Halbwertszeit neuer, innovativer Produkte mitunter kaum mehr als ein paar Monate beträgt. Hochentwickelte Länder wie Deutschland können ihren Platz in der weltweiten Konkurrenz und damit ihre kulturellen und sozialen Leistungen nur dann behalten, wenn es ihnen gelingt, mit neuen Produkten, neuen Verfahren, neuen Lösungen, besserer Qualität auf den Markt zu kommen (Wagner 2010: 10). Deutschland hat das lange Zeit geschafft. Laut den offiziellen Daten des Statistischen Bundesamtes ist die deutsche Handelsbilanz momentan positiv (Bundesamt für Statistik 2011: 10). Aus Deutschland wird mehr exportiert als importiert werden muss. Doch zehren wir hierbei eher von Erfolgen der Vergangenheit, als dass Innovation systematisch ‚produziert’ würde. Innovation – so lässt sich Wagners Analyse der ‚Reputationsmaschinerie’ deutscher Universitäten pointieren – findet nicht wegen der Struktur des Wissenschaftsbetriebs, sondern ihr zum Trotz statt. Die starke Hierarchie zwischen Teilnehmenden am Wissenschaftsbetrieb und denen, die es noch werden wollen, die systemimmanente Elitenzuwahl und die Überrepräsentanz der Pedanterie im Forschungsbetrieb stehen zu Innovation und ihrer ersten Bedingung, der Kreativität, in eklatantem Widerspruch. In Anschluss an den amerikanischen Psychologen Mihaly Csikszentmihalyi (1996) lässt sich Kreativität, wie ich sie im Folgenden gern verstanden wissen möchte, als systematisches Phänomen der kollektiven Bewertung einer Idee oder Handlung begreifen, die neu und wertvoll ist. Wenn wir unter Kreativität eine Idee oder Handlung verstehen, die neu und wertvoll ist, dann können wir die Beurteilung des einzelnen nicht als Maßstab für die Existenz der Krea3


tivität akzeptieren. Man kann unmöglich wissen, ob ein Gedanke neu ist, es sei denn man zieht gewisse Vergleichsmaßstäbe heran, und ob er wohl wertvoll ist, hängt von der Einschätzung der Gemeinschaft ab. Insofern findet Kreativität nicht im Kopf des Individuums statt, sondern in der Interaktion zwischen dem individuellen Denken und einem soziokulturellen Kontext (Csikszentmihalyi 1996: 41). Kreativität entsteht in einem Spannungsfeld zwischen ‚verrückter Spinnerei’ (dem Inneren) und ihrer pedantischen Tauglichkeitsüberprüfung (dem Äußeren). Das eine ist ohne das andere wertlos. Weder lassen sich innovative Produkte, Ideen oder Handlungen esoterisch zusammen spinnen, noch entstehen sie allein aus dem pedantischen Versuch zu erkennen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ (Goethes Faust – Der Tragödie erster Teil: Vers 382 f). Um dieses Spannungsfeld allerdings aushalten zu können, bedarf es einigen Talents – Csikszentmihalyi (ebd.) schreibt von unerlässlichen genetischen wie sozialen Prädispositionen und einem hohen Maß an Interesse, das mitnichten alltäglich ist. Außerdem bedarf es guter Rahmenbedingungen, die sowohl verrückte Spinnerei als auch deren pedantische Tauglichkeitsprüfung gestatten; ebenfalls nichts Alltägliches – zumindest nicht im Forschungsbetrieb deutscher Hochschulen, wie ich ihn bisher erlebte. Angesichts der oben dargestellten Marktsituation und der Herausforderung, diesen mit innovationsförderlichen Strukturen zu begegnen, scheint es mir sehr zweifelhaft, ob die „fahrlässige Selbstbezüglichkeit“ deutscher Hochschulen (Wagner 2010: 17f) eigentlich noch vertretbar ist. Mit anderen Worten: Ich glaube nicht, dass ein Wissenschafts- und Forschungsbetrieb ‚aus dem fensterlosen Elfenbeinturm’ für Deutschland noch länger tragbar ist. Auch kann sich die Selbstbezüglichkeit wissenschaftlicher Forschung nicht allein mit dem Verweis auf den Artikel 5 Absatz 3 unseres Grundgesetzes, der Freiheit von Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre behaupten. Schon allein der Blick auf die evidente Hochschulentwicklung der vergangenen fünf Dekaden, von der „Ordinarienuniversität“ als „Gelehrtenrepublik“ über die „Gruppenuniversität“ und die „Universität als Teil des Wissenschaftssystems“ bis hin zur „Universität als Unternehmen“ (Webler 2006: 2f) zeigt, dass auch das Hochschulsystem langfristig nicht um einen effizienteren Betrieb, ein effizienteres Management herum kommen wird. In unserer Forschungsprojektgruppe zur Personal- und Organisationsentwicklung in Einrichtungen der Wissenschaft und Forschung am Zentrum für Technik und Gesellschaft (ZTG) der TU-Berlin haben wir im Kleinen versucht, was in international agierenden IT-Konzernen wie Yahoo! schon im großen Stil gang und gäbe ist: Nach einem Prozesssteuerungsmodell mit Namen „Scrum“ sowie einem gemeinsamen Wiki (ein Content Management System [CMS] nach dem Vorbild der OnlineEnzyklopädie Wikipedia) erarbeiteten wir eine recht umfassende Übersicht zum Stand der Perso4


nal- und Organisationsentwicklung an deutschen Hochschulen, auf deren Basis einige gemeinsame Publikationen erstellt werden sollen. Ausgangspunkt unseres Versuches war die Beobachtung, dass vor allem in den Geistes- und Sozialwissenschaften weniger Teamarbeit als viel mehr Einzelkämpfertum vorherrscht und so vielerlei Potentiale und Ressourcen verschwendet werden. Natürlich kam unser Versuch der Quadratur des Kreises gleich. Suchten wir doch ein Eiland guter Teamarbeit in einem System zu schaffen, das hauptsächlich auf individuelle Reputation ausgelegt ist (s.o.). Ich kann und will nicht behaupten, dass uns dieses Kunststück tatsächlich gelungen wäre, doch lassen sich aus dem Versuch einige wichtige Lektionen lernen.

Scrum for Science Das Prozess- bzw. Projektmanageframework Scrum, das wir auf unseren Arbeitsbereich zu übertragen versuchten, wurde in den 1990er Jahren von Ken Schwaber und Jeff Sutherland entwickelt, in div. Projekten erprobt und schließlich im IT-Bereich etabliert (Sutherland/Schwaber 1995). Es beruht vor allem auf wenigen, klaren Regeln, die u.a. drei Rollen für die am Projekt Beteiligten vorsehen: den Product Owner, den Scrum Master und die Teammitglieder. o

Der Product Owner ist für die Vertretung aller Stakeholderinteressen verantwortlich. Ihm oder ihr obliegt die Gesamtverantwortung des Projekterfolges, was dieser Rolle beim Softwarentwickler Yahoo! die wenig schmeichelhafte Bezeichnung des „single wringable neck“ einbrachte (Pichler 2008: 11).

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Der Scrum Master agiert im Projekt als Prozesswächter und „Servant-Leader“ (Greenleaf 2002). Er oder sie unterstützt alle Beteiligten bei ihren Aufgaben und ist dafür verantwortlich, dass das Team bestmöglich arbeiten kann, was unter anderem das richtige Arbeitsmaterial, das räumliche Umfeld und ablenkende Begehrlichkeiten Außenstehender betrifft.

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Das Team schließlich wird in Scrum nach dem Ideal der selbstverwaltenden Einheit entworfen.1 Es ist interdisziplinär besetzt und bevollmächtigt autonome Entscheidungen zu treffen (Pichler 2008: 13ff).

Der Namen Scrum stammt ursprünglich aus einer Studie von Hirotaka Takeuchi und Ikujiro Nonaka (1986) zu moderner Produktenwicklung in der japanischen Automobil- und Konsumgüterindustrie. 1

Um eine möglichst reibungslose Selbstorganisation des Teams zu garantieren, weist Pichler bspw. darauf hin, dass bei der Einführung von Scrum besonderer Wert auf die laufenden Gruppenprozesse und -phassen des Forming, Storming, Norming und Performing gelegt werden sollte (ebd. 2008: 17f.). Die hierbei immer wieder angemahnte fünfte Phase des Mourning (des Betrauerns beim Auseinandergehen des Teams) spielt dabei zwar insofern eine Rolle, als dass sich erfolgreich arbeitende Teams mithin auch wieder trennen, widerspricht allerdings dem technik-konservativen Prinzip des "never change a runnig system" und ihrer Scrum-Entsprechung „never end a winning team“ (ebd.: 18; kursiv im Original).

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Takeuchi und Nonaka stellten heraus, dass besonders kleine, fachlich heterogen besetzte Teams mit effizientem Wissensmanagement äußerst produktiv arbeiten. Im „angeordneten Gedränge“ (engl.: „scrum“), bei dem sich die Rugbyspielerinnen oder -spieler für den Einwurf des Balles ineinander verhaken, fanden sie dafür eine bildliche Entsprechung (ebd.: 4ff). Auch hier ist schließlich die gut koordinierte Arbeit von Teammitgliedern mit unterschiedlichen ‚Spezialgebieten’ gefragt, um den Ball auf die eigene Seite zu bekommen. Die grundlegende Annahme besteht bei Scrum darin, dass sich inner- und außerorganisationale Entwicklungen im Projekt- bzw. Prozessverlauf verändern und entsprechend berücksichtigt werden müssen.2 Aufgrund dieser dynamischen Entwicklungen gestaltet sich die treffsichere Zielformulierung zu Beginn eines Projektes häufig schwierig; Zielkorrekturen bzw. „Änderungen in letzter Minute“ sind alltäglich (Schwaber 2008: 4). Auch wir haben dies im Projektverlauf erlebt: Hieß es zu Beginn meiner Tätigkeit noch, wir würden eine qualitative Vorstudie zum Stand der Personal-, Team- und Organisationsentwicklung an deutschen Forschungseinrichtungen durchführen, musste diese Zielformulierung auf Grund mangelnder Ressourcen recht schnell korrigiert werden. Wie oben bereits geschrieben, beschränkten wir uns bald auf eine gründliche Literatur- und Internetrecherche zu Personal- und Organisationsentwicklung in Forschungsgruppen und -instituten.

Komplizierte und komplexe Prozesse Prozesse, die in einem dynamischen Rahmen, dessen Bedingungen eben nicht zuverlässig vorausgesagt werden können, realisiert werden müssen, lassen sich gemeinhin als komplexe Prozesse verstehen und von ‚nur’ komplizierten Abläufen, in einem Rahmen mit weitgehend voraussagbaren Bedingungen, abgrenzen. Als drei wesentliche Dimensionen dieser Komplexität nennt Schwaber (2008: 4) (a) „Technologie“, (b) „Anforderungen“ und (c) „Menschen“: a) Dass die Informations- und Computertechnologie kompliziert ist, zeigte bereits das Moore’sche Gesetz, das besagte, dass sich die Anzahl der Schaltkreise auf einer gleichbleibenden Flächeneinheit eines Halbleiterchips bei gleichen Materialkosten binnen 12 Monaten verdoppelt (Moore 1965)3. Auch wenn diese Verdopplung nicht zwingend zu komplexen Systemen führen muss – deren Entwicklung eigentlich nur Raum gibt – liegt der Schluss nahe, dass einfache Lösungen in der IT-Branche schon seit Längerem der Vergangenheit angehören dürften. 2

Dieser Ausgangspunkt schließt an die umstrittene Formel des panta rhei (griechisch: πάντα ῥεῖ – „alles fließt“) an. Widersprochen wird der Formel besonders aus systemtheoretischer Perspektive: Da logisch nur makroskopisch stabile Systeme produktiv arbeiten können, ist die Vorstellung der ständigen Veränderung eines Systems die „absolute Trivialisierung des Begriffs Changemanagement“ (Kruse 2008). 3 Zehn Jahre nach dieser Prognose korrigierte sie Moore um sechs Monate nach oben. So verdoppelt sich also die Anzahl der Schaltkreise auf einem Halbleiterchip seit 1975 alle 18 Monate (Kanellos 2003)

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Meistens, so lässt sich mit Schwaber (2008: 5) ergänzen, sind es nicht einmal die einzelnen Teile, die hochgradig komplex sind – vielmehr sind es die Schnittstellen zwischen unterschiedlichen Systemen.4 Auch in der Arbeit von Forschungsgruppen in Geistes- und Sozialwissenschaften lässt sich diese Dimension der Komplexität in ähnlicher Weise ausmachen. Hier sind es freilich nicht die Halbleiterchips (die Hardware), die die Prozesse komplex werden lassen. Hier ist es die Software. Bereits in dem 1945 publizierten Aufsatz „As we may think“ konstatierte Vannevar Bush, dass eine Spezialisierung und Ausdifferenzierung der Wissenschaften unumgänglich ist. Damit – so Bush weiter – würde aber auch der Berg jeweils relevanter Forschungsergebnisse selbst für die belesensten Berufswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler unüberschaubar groß werden. Sein Lösungsansatz für dieses Problem war ein damals fiktiver Apparat namens „Memex“, der als Erweiterung des menschlichen Gedächtnisses das Wissen der Welt auffindbar machen sollte (Bush 1945). Heute arbeiten wir beinahe täglich mit derartigen Suchmaschinen, doch selbst mit Google & Co gelingt es nicht immer, die aktuellsten Forschungsergebnisse einzubeziehen; geschweige denn, sie sinnvoll miteinander zu verbinden. b) Die zweite Dimension der Komplexität bestimmen die Anforderungen an das zu erstellende Produkt bzw. den Themenkomplex, der in einem Forschungsprojekt bearbeitet werden soll. Wie für den Fall unsers Forschungsprojektes oben bereits angesprochen, lassen sich nämlich die nötigen Aufwendungen und Ressourcen für die formulierten Anforderungen mitnichten 100-prozentig vorhersagen – weder in technik- noch in geistes- oder sozialwissenschaftlichen Projekten. In hoch spezialisierten Forschungsfeldern wird dies häufig durch falsche Vorannahmen der Auftraggeberinnen und Auftraggeber – denen ja gerade die Expertise in dem speziellen Bereich fehlt – verstärkt. Aus der Produktentwicklung in der IT berichtet Schwaber, dass Kundinnen und Kunden sehr häufig erst dann begreifen, was sie eigentlich möchten, „wenn sie mit einer Interpretation ihrer Vorstellungen, etwa der Herstellung eines Prototyps, konfrontiert werden“ (ebd. 2008: 5). c) Die dritte Dimension der Komplexität schließlich bilden die Produktentwicklerinnen und entwickler, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler selbst. Auch die Mitarbeitenden einer Organisation entwickeln sich schließlich im Laufe der Zeit weiter. Sie lernen dazu, bauen

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Die Erfahrung, dass besonders die Schnittstellen zwischen unterschiedlichen Systemen hoch komplex sind, bewog auch Tim Berners-Lee in den späten 1980er Jahren dazu, die Hypertext Markup Language (HMTL) zu entwickeln und damit den Grundstein für das heute bekannte WWW zu legen (Berners-Lee 1999).

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ihre Kompetenzen aus, entwickeln neue oder verfolgen andere Ziele als zu Beginn eines Projektes. [Die Produktentwickler] unterscheiden sich allesamt in puncto Qualifikation, Intelligenzgrad, Erfahrung, in ihren Ansichten, Standpunkten und im Maße einer etwaigen Voreingenommenheit. Ebenso ändert sich die Gemütslage jedes Einzelnen täglich, abhängig von Faktoren wie Schlaf, Gesundheit, Wetter und eventuellen Problemen im familiären oder nachbarschaftlichen Umfeld (Schwaber 2008: 5). Nicht unterschätzt werden sollten hier auch die Reputationsbemühungen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – ganz besonders in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Ein Gros des „wissenschaftlichen Mittelbaus“ sieht den Arbeitsplatz Hochschule schließlich nicht als längerfristige Berufsperspektive – zumindest nicht als wissenschaftlich Mitarbeitende (Grühn et al. 2009).

Empirische Prozesssteuerung Für das Projektmanagement können grundsätzlich zwei Möglichkeiten der Prozesssteuerung voneinander zu unterscheiden werden: die definierte und die empirische Prozesssteuerung. Prozesse, die ein gewisses Maß an Komplexität nicht überschreiten, nur kompliziert sind, können algorithmisch gesteuert werden. Prozesse hingegen, deren einzelne Schritte und (Zwischen-) Ergebnisse nicht a priori plan- und voraussagbar sind, müssen empirisch gesteuert werden. Das Gestalten eines Prozesses, der stetig ein Qualitätsniveau innerhalb der definierten Toleranz erreicht, wird als definierte Prozesssteuerung bezeichnet. Ist auf Grund der Komplexität der einzelnen Zwischenaktivitäten keine definierte Prozesssteuerung möglich, muss die so genannte empirische Prozesssteuerung eingesetzt werden (Schwaber 2008: 3). Scrum gehört zu den empirischen Prozesssteuerungsmodellen. Zwar wird das Zielprodukt eines Projektes zu dessen Auftakt grob beschrieben, doch wird von Beginn an konsequent davon ausgegangen, dass sich die geforderten Eigenschaften des zu erstellenden Produktes (der Innovation) bereits während des Erstellungsprozesses ändern. Mit der empirischen Prozesssteuerung wird die eben beschriebene Komplexität des Wertschöpfungsprozesses von Beginn an einbezogen und die Auslieferung zufriedenstellender Produkte ‚in time’ sichergestellt. Durch die modularisierte Auslieferung von „Produktinkrementen“5 wird außerdem garantiert, dass sich auch die Kundenwünsche bzw. Anforderungen im Endergebnis wiederfinden, die zu Beginn des Prozesses noch nicht formuliert werden konnten. 5

Als Inkrement (von lat. incrementare: vergrößern) wird hier eine in sich abgeschlossene, auslieferbare Produktfunktionalität bezeichnet.

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Das Prozessablaufmodell von Scrum

Prozessablaufmodell von Scrum (CC BY SA - Wiki Commons)

Der Scrum-Prozess ist in verschiedene Phasen und beliebig oft wiederholbare Zyklen unterteilt: Am Beginn steht die Entwicklung einer Vision und die Listung der einzelnen Anforderungen, die zur Verwirklichung dieser Vision wahrscheinlich notwendig sind. Im zweiten Schritt folgt die Priorisierung und Terminierung dieser Anforderungen. Denjenigen Punkten mit dem wahrscheinlich größten Nutzen wird dabei die höchste Priorität zugeordnet, was i.d.R. auch den Termin ihrer Umsetzung beeinflusst. Ziel dieser vorbereitenden Schritte durch den Product Owner ist es, die Vision bzw. das gestreckte Ziel zu zerlegen und auf dem sog. „Product Backlog“ (einer Art ständig einsehbarer To-Do-Liste) vorläufig festzuhalten. Im nächsten Schritt stellt der Product Owner dem Team der am Projekt Mitarbeitenden die Anforderung vor, die im darauf folgenden Entwicklungszyklus („Sprint“) in Funktionalität umgesetzt werden soll. Ein Sprint umfasst dabei eine „Internation“ (i.S.e. Zeitfensters) von max. 30 aufeinander folgenden Kalendertagen (Pichler 2008: 7). Im ersten Teil des sog. „Sprint Planing Meetings“ haben die Teammitglieder die Möglichkeit Fragen zu den vorgestellten Anforderungen zu formulieren. Dabei kann der Inhalt und die gewünschte Funktionalität ebenso hinterfragt werden, wie der Zweck, die Bedeutung und die damit verbunden Absichten (Schwaber 2008: 8). Bis zum Ende dieses ersten Teils des Meetings wählen die Teammitglieder diejenigen Anforderungen aus dem Product Backlog aus, die sie ihrer Ansicht nach innerhalb eines Sprints in Form eines Inkrements realisieren können. Im zweiten Teil des Sprint Planing Meetings, der den eigentlichen Beginn der Produktentwicklung markiert, plant das Team schließlich den Sprint voraus. Da das Team bei Scrum als selbstverwaltende Einheit agiert, ist eine verbindliche Planung, die auf einem eigenen Sprint Backlog festgehal9


ten wird, sehr wichtig. Nichtsdestotrotz bleibt diese Sprint-Planung auf vier Stunden beschränkt. Ein zu großes Händeringen um die Frage, was möglich ist und was nicht, soll so von vorn herein vermieden werden. „Das Ziel ist, die Arbeit aufzunehmen, nicht über die Arbeit nachzudenken“ (Schwaber 2008: 8). Während eines Sprints kommt das Team täglich zu einem 15-minütigen Treffen zusammen („Daily Scrum“). Das Ziel dieser Treffen ist es, die Arbeit der einzelnen Teammitglieder in Einklang zu bringen und auf etwaige Schwierigkeiten im Arbeitsprozess und die Bedarfe der Mitarbeitenden rechtzeitig reagieren zu können. Dementsprechend beantwortet jedes Teammitglied im Rahmen eines Daily Scrum folgende drei Fragen: (1) Was hat der oder die Mitarbeitende seit dem letzten Meeting getan? (2) Was soll bis zum nächsten Daily Scrum getan werden? (3) Welche Hindernisse sind bis jetzt aufgetreten (Pichler 2008: 105)? Am Ende eines jeden Sprints steht schließlich das offene „Sprint Review Meeting“. In diesem vierstündigen Treffen, zu dem alle interessierten Stakeholder eingeladen sind, präsentieren die Teammitglieder das Inkrement, das sie im vergangenen Sprint entwickelten. Da es sich dabei um eine abgeschlossene Produktfunktionalität handelt, bekommen auch Laien, die sich nicht weiter in die Komplexität des Projektes eingearbeitet haben, eine Vorstellung von Nutzen und Bedeutung dieses einzelnen Teils für das gesamte Projekt. Dieses eher informelle Sprint Review Meeting dient außerdem dazu, gemeinsame Überlegungen darüber anzustellen, was im nächsten Sprint umgesetzt werden soll. Im direkten Anschluss an das Sprint Review Meeting findet die abschließende „Sprint Retrospektive“ statt, in der der Scrum Master mit dem Team Verbesserungspotentiale in der Zusammenarbeit bespricht. Vorrangiges Ziel dieser max. dreistündigen Sitzung ist es, die Teamentwicklung zu reflektieren und die Mitarbeitenden auf den nächsten Sprint einzustimmen. Dabei wird immer davon ausgegangen, dass Verbesserungspotential in der Zusammenarbeit besteht, selbst dann, wenn ein Sprint sehr erfolgreich war und das Team gut zusammen gearbeitet hat (Pichler 2008: 112).

Scrum im ZTG Zwar heißt es in der Literatur zu Scrum (Schwaber 2008 / Pichler 2008) sinngemäß, dass das beschriebene Projektmanagementframework nur ‚ganz oder gar nicht’ eingeführt werden kann, doch waren wir in unserer Forschungsprojektgruppe von Beginn an gezwungen, einige Abwandlungen vorzunehmen. So fanden auf Grund der dezentralen Struktur unserer Zusammenarbeit (als 10


Teammitglied arbeitete ich bspw. zu Hause) keine Daily Scrum Meetings statt. Auch konnten wir die einzelnen Inkremente nicht in 30-tägigen Sprints erarbeiten, weil alle Teammitglieder in Teilzeit am Projekt mitarbeiteten. Des Weiteren gelang uns auch die strikte Rollentrennung zwischen Product Owner und Teammitglied nicht vollständig. Zwar hatten wir eine Person mit der Rolle des Scrum Masters – und nur mit dieser – betraut, doch führte die Mitarbeit des Product Owners im Team recht häufig zu Verwirrung und Unsicherheit. Im Endeffekt konnte das Team mitnichten als sich selbst verwaltende Einheit agieren, was uns letztendlich wieder zum herkömmlichen Management à la „command and control“6 führte. Trotz dieser Unwägbarkeiten und der frühen Einsicht, dass einiges mehr als guter Wille zur Einführung von Scrum gehört, hielten wir an unserem Ziel fest: Zumindest im kleinen Kreis wollten wir gute, innovative Teamarbeit gewährleisten und die Möglichkeit des verrückten Denkens und dessen pedantischer Tauglichkeitsüberprüfung einräumen. Die regelmäßigen, vom Scrum Master moderierten Treffen, die wesentlich kürzer ausfielen als die im Modell vorgesehen Planungssitzungen, teilten wir in drei Phasen: Nach der gegenseitigen Information über jüngste Fortschritte und auftretende Schwierigkeiten wurde Zeit für die kritische Diskussion der nächsten Schritte eingeräumt, bevor wir diese anschließend gemeinsam vereinbarten. Die einzelnen Inkremente (Literaturübersicht, Durchsicht der Publikationen und einzelner Zeitschriften, Textvorlagen und bausteine etc.), die in unseren Sitzungen auch immer wieder angepasst wurden, hielten wir auf einer Meta-Plan-Wand fest, die im Projektbüro jederzeit einsehbar war. Besonders mit unserer Wiki-Plattform und regelmäßigem E-Mail-Verkehr ließ sich unsere Zusammenarbeit gut organisieren. Zwar hatten alle Teammitglieder ihre speziellen Aufgaben, doch war es eben auch immer möglich, Einblicke in die Arbeit der anderen zu bekommen und sich – wenn nötig – inspirieren zu lassen. In den zitierten Werken zu Scrum wird zwar betont, dass die Teammitglieder räumlich nah beieinander arbeiten sollten, doch glaube ich, lässt sich diese Nähe auch mit diversen Tools des sog. Web 2.0 (bspw. einem Wiki ) erzeugen. Zudem garantierte meine physische Abwesenheit im ZTG auch, dass ich mich auf meine Aufgaben konzentrieren und nicht von dem Projekt Außenstehenden ‚ausgeliehen’ werden konnte.

Fazit Schwerlich lässt sich behaupten, wir hätten Scrum in seiner geforderten Reinform in die Geistesund Sozialwissenschaften implementiert. Zu viel strukturelles Soll stand dem entgegen. Die her6

Das Command and Control Management bezeichnet Pichler (2008: 13f) als „traditionelles Management“, dass „die Übernahme von Verantwortung und das Ausführen der Arbeit *trennt+“ (ebd.: 14).

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kömmliche, von Hierarchie und Reputationsstreben geprägte Zusammenarbeit in Forschungsgruppen und -instituten bedarf dafür offenbar noch einiger Entwicklung. Angefangen bei vollzeitbeschäftigt Mitarbeitenden und angemessenen Räumlichkeiten mit entsprechender Ausstattung, bis hin zur Akzeptanz der Übergangsphase, in der sich ein Gros des wissenschaftlichen Mittelbaus selbst sieht, ist ein weit reichendes Umdenken gefragt. Und dieses Umdenken ist notwendig. Wenn Deutschland seinen Status als wirtschaftsstarke Exportnation mit positiver Handelsbilanz behalten will, bleibt wenig mehr als die systematische Produktion von Innovation, deren erste Voraussetzung die Kreativität und deren Tod eine fahrlässige Selbstbezüglichkeit universitärer Forschung wäre. Des Weiteren bedarf es für Innovation und Kreativität auch entsprechend talentierter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Ob sich der akademische Nachwuchs derzeit allerdings länger als unbedingt nötig auf den Forschungsbetrieb an deutschen Universitäten einlässt, ist für mich mehr als fraglich. Sicherlich: Universitäre Forschung genießt momentan noch hohes Ansehen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind gefragte Leute, weil sie erhellende, manchmal erstaunliche Erkenntnisse formulieren. Doch wie lange werden sie das noch tun können, wenn Innovation nicht das Ergebnis des Wissenschaftsbetriebes ist sondern eher zufälliges Nebenprodukt? Mit Scrum habe ich hier eine Option vorgestellt, mit der sich in dem hoch komplexen Umfeld von Hochschulen m.E. produktiv zusammen arbeiten ließe. Die empirische Prozesssteuerung macht es zum einen möglich, mit unvermeidlichen Unwägbarkeiten im Forschungsprozess und -betrieb umzugehen, was eben nicht nur die notwendigen Irrwege bei der Erarbeitung neuer Erkenntnisse, sondern bspw. auch deren Finanzierung betrifft. Zum anderen ließe sich mit dem Empowerment von Forschungsgruppen bzw. -teams zu sich selbst verwaltenden Einheiten auch kreatives Potential im Sinne Mihaly Csikszentmihalyis kultivieren. Sowohl verrückte Spinnerei – die allseits bekannte „Schnapsidee“ – als auch deren pedantische Tauglichkeitsprüfung könnten so im universitären Forschungsbetrieb ihren Platz finden.

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Quellen Berners-Lee, Tim (1999): Der Web-Report. Der Schöpfer des World Wide Web über das grenzenlose Potential des Internets. München. Bundesamt für Statistik (2011): Wirtschaft und Statistik. Kurznachrichten. Januar 2011. Online in: http://bit.ly/hmkM4M (Abruf: 28.02.11.). Bush, Vannevar (1945): As we may Think. In: The Atlantic Monthly. July 1945. Online in: http://bit.ly/hU3Pem (01.03.11). Csikszentmihalyi, Mihaly (1996). Kreativität. Wie das unmögliche schaffen und ihre Grenzen überwinden. Stuttgart. Goethe, Johann Wolfgang von (o.J.). Faust. Der Tragödie erster Teil. Original von 1808. zitiert nach Dig.Bib.Org (2004: 8). Online in: http://bit.ly/dWGcE4 (Abruf: 28.02.11). Greenleaf, Robert K. (2002): Servant Leadership: A Jurney into the Nature of Legitimate Power and Greatness. 25th Anniversary Edition. New Jersey. Grühn, Dieter, Hecht, Hildemarie, Rubelt, Jürgen, Schmidt, Boris (2009): Der wissenschaftliche "Mittelbau" an deutschen Hochschulen. Zwischen Karriereaussichten und Abbruchtendenzen. Berlin. Kanellos, Michael (2003): Moore's Law to roll on for another decade. Online in: http://cnet.co/fwvzKi (02.03.2011). Kruse, Peter (2008): Prof. Peter Kruse über Changemanagement. Interviewausschnitt aus der Kampagne "Lernen lernen". Online in: http://youtu.be/FLFyoT7SJFs (01.03.11). Moore, Gordon (1965). Cramming more components onto integrated circuits. In: Electronics. 38/8. 8. April 1965. Online in: ftp://download.intel.com/research/silicon/moorespaper.pdf (01.03.11). Pichler, Roman (2008): Scrum. Agiles Projektmanagement erfolgreich einsetzen. Heidelberg. Sutherland, Jeff, Schwaber, Ken (1995): The Scrum Papers: Nuts, Bolts, and Origins of an Agile Process. Online in: http://bit.ly/fUB0xv (28.02.11). Takeuchi, Hirotaka, Nonaka, Ikujiro (1986): New Product Development Game. Harvard. Online in: http://bit.ly/f5sjMR (Abruf: 28.02.11). Wagner, Wolf (2010): Tatort Universität. Vom Versagen deutscher Hochschulen und ihrer Rettung. Stuttgart. Webler, Wolff-Dietrich (2006): Personalentwicklung an Hochschulen - Grundbegriffe und Stellenwert. In: Personal- und Organisationsentwicklung in Einrichtungen der Lehre und Forschung. 1/2006. S. 2-6. Wintermantel, Margret (2007): Begrüßung zur HRK-Tagung „Quo vadis Promotion? Doktorandenausbildung im Spiegel internationaler Erfahrungen“. In: Beiträge zur Hochschulpolitik 7/2007. S. 511. Online in: http://bit.ly/gW4Grq (Abruf: 28.02.11). WTO (2009): Total merchandise trade. Datenbankabfrage zu Exporten im weltweiten Vergleich. Online in: http://bit.ly/glQSSo (Abruf: 28.02.11).

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