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fIlM DIenST Das Magazin für Kino und Filmkultur

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www.filmdienst.de

W e lte r FA H r u n g Der interkulturelle film sieht d ie welt mit den augen der anderen.

V i e r tA le nte Vier junge schauspieler trotzen in „fantastic four “ d en genre-effekte n.

»tH u le tu VA lu« matthias von gunte n ü ber den klimawandel zwischen tropen & nordpol.

mario aDorf seit sechs Jahrzehnten prägt der schauspieler den deutschen und auch internationalen film mit. ein werkstattgespräch mit mario adorf über das deutsche kino, filmrollen, Herzog, Dietl & schlöndorff. 16 4 194963 605504

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6. August 2015 € 5,50 68. Jahrgang

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filmDienst 16 | 2015 kinotiPP

der katholischen Filmkritik

51 coconut hero

24 matthias von gunten ÜBer „thuletuvalu“

Florian Cossens Jugendfilm über das Erwachsenwerden und Sterben.

neu im kino + 51 42 48 40 51 36 46 43 44 45 49 38 47 39 50 41 37

ALLE STARTTERMINE About a Girl 6.8. Aloha - Die Chance auf Glück 6.8. Barbie - Eine Prinzessin im Rockstar Camp 15.8. Buddha’s Little Finger 6.8. Coconut Hero 13.8. Dating Queen 13.8. Himmelverbot 13.8. Horns 6.8. Las Insoladas - Sonnenstiche 6.8. Learning to Drive 6.8. Lou! 23.7. Magic Mike XXL 23.7. Manuscripts don’t burn 13.8. Mission: Impossible - Rogue Nation 6.8. ThuleTuvalu 13.8. Toilet Stories 13.8. True Story - Spiel um Macht 6.8.

16 fantastic four: darstellerportrÄts

32 „aguirre“

fernseH-tiPPs

Mit „Masters of Sex“ entführt das ZDF in die prüden 1950er-Jahre, „Planet Erde“ auf 7MAXX bebildert die Schönheit unserer Welt und 3sat zeigt Staffel 2 & 3 von Mastermind „Sherlock“.

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28 gustavo tarettos „las insoladas“

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inHalt kino

akteure

filmkunst

10 interkulturelle filme

20 mario adorf

30 tarkowskis „opfer“

10 INTERKULTURELLE FILME

20 MARIO ADORF

27 E-MAIL AUS HOLLYWOOD

Von Wolfgang Hamdorf

Von Franz Everschor

24 MATTHIAS VON GUNTEN

28 GUSTAVO TARETTO

Von Margret Köhler

Von Peter Strotmann

25 LITERATUR

30 «OPFER» RE-REMASTERT

Ihnen wohnt eine ganz eigene Magie inne, wenn sie mit berührenden Geschichten Grenzen überwinden und Völker einander näherbringen. Ein Plädoyer für eine gefährdete Kino-Spezies. Fotos: TITEL: New KSM, S. 4/5: Alamode, Real Fiction, barnsteiner, Constantin, SudioCanal/Arthaus, Arsenal, Festival des deutschen Films Ludwigshafen, absolut MEDIEN, Ascot Elite

Von Katharina Zeckau

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Superhelden-Actioner glänzen vor allem mit Effekten. Die „Manpower“ sollte man aber nicht unterschätzen. Jüngstes Beispiel: Das junge Schauspiel-Quartett des neuen „Fantastic Four“-Films. Von Felicitas Kleiner & Marius Nobach

Gerade mit dem Preis für Schauspielkunst geehrt, steht im September sein 85. Geburtstag an. Ein Gespräch über „Fitzcarraldo“, Helmut Dietl und Hollywood.

Der Dokumentarist im Gespräch über „ThuleTuvalu“ und die Befürchtung, dass uns die Klimaerwärmung erst auf den Leib rücken muss, bevor sich etwas ändert.

Eine Neuveröffentlichung von Max Ophüls’ „Spiel im Dasein“ und ein Band zu polnischen Filmklassikern.

26 IN MEMORIAM 3 4 6 52 55 56 66 67

RUBRIKEN EDITORIAL INHALT MAGAZIN DVD/BLU-RAY DVD-PERLEN TV-TIPPS ABCINEMA VORSCHAU / IMPRESSUM

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Er brachte Ambition und Publikumsnähe in Einklang, als der Junge deutsche Film um seine Identität rang. Nachrufe auf Regisseur Wolf Gremm und andere Filmschaffende.

Paramount reagiert auf die „Kinoflucht“ und bläst zur digitalen Jagd auf Filme kurz nach ihrem Start. Erhofft werden weniger Marketingkosten und Downloadverluste.

Der Argentinier enthüllt ein gespaltenes Verhältnis zu Buenos Aires, das in „Medianeras“ wie in „Las Insoladas“ zum Startpunkt für Fluchtfantasien wird.

Mit Andrej Tarkowskis „Opfer“ ist ein Meisterwerk des religiös-metaphysischen Films auf Blu-ray erschienen. Von Josef Lederle

32 KLANGLANDSCHAFTEN

Nick Cave und Warren Ellis haben für David Oelhoffens „Den Menschen so fern“ einen kongenialen Soundtrack geschaffen. Diese und zwei andere bemerkenswerte „Sound-scapes“ sind nun als CD zu haben. Von Ulrich Kriest

34 MAGISCHE MOMENTE

Als spanischer Konquistador „Aguirre“ wütet sich Klaus Kinski durch Werner Herzogs grandioses Größenwahn-Drama. Von Rainer Gansera

geborgene dvd-perle: kim hunter und david niven in »irrtum im jenseits«

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Was,

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wenn nicht das,

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ist Kino!? Über eine ebenso gefährdete wie lebendige Kino-Spezies: Plädoyer für den „interkulturellen Film“ Kinofilme spielen mit unserer Fantasie. Manche erfinden symbolische Raummodelle, andere reisen durch die Zeit in historische oder futuristische Epochen. Doch das ist nur die eine Seite des Kinos. Denn Filme sind so weit gefächert wie die Regionen, Religionen, Kulturen, Ethnien und Konflikte dieser Erde. Der Kunst des Kinos wohnt eine völkerverbindende Kraft inne, Filme können Ängste und Vorurteile abbauen. Auch das ist Filmkunst. Voraussetzung dafür aber ist, dass diese Filme ihr Publikum finden. Von Katharina Zeckau

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Es ist ein kurzer, beiläufiger Moment, aber er öffnet dem Zuschauer die Augen für das Wesentliche: In dem Film „Die Piroge“ von Moussa Touré (2012) machen sich Männer auf den lebensgefährlichen Weg aus dem Senegal nach Europa. Als sie ihre Bündel und Taschen aufs Boot hieven, wird dem Betrachter schlagartig bewusst: Der Inhalt dieser Bündel und Taschen wurde vor Reiseantritt gepackt, und zwar ganz individuell: sorgfältig oder eher nachlässig, rational oder eher emotional, eben so unterschiedlich, wie die Menschen sind. Denn um Menschen geht es hier, nicht um „Flüchtlinge“ – dieses allzu strapazierte Wort, das zunehmend abstumpfen lässt. Es ist der Blick dieser Menschen, den man übernimmt: Sehr bald ist der Zuschauer kein Betrachter von außen mehr, sehr bald „ist“ er Baye Laye oder Kaba und kennt auch nur noch den einen Gedanken: Werden wir es lebendig nach Europa schaffen? Selbst archaisch wirkende Rituale oder manche Rivalität zwischen den verschiedenen afrikanischen Ethnien, die zu Beginn des Films noch ein Gefühl von Fremdheit schufen, fügen sich mit Fortgang der Handlung zunehmend selbstverständlich in den eigenen Gefühlshaushalt ein. Was, wenn nicht das, macht Kino aus? Die Welt mit den Augen der Anderen zu sehen; für eineinhalb oder zwei Stunden ein fremdes Leben zu leben, das sich schon bald

gar nicht mehr so fremd anfühlt – eine Welt jenseits der eigenen Denkweisen und Erfahrungswerte kennen zu lernen und auf diese Weise über den eigenen Tellerrand zu blicken. Dies ist es, was im besten Sinne „kleine“ Filme aus Ländern und Vermarktungsstrukturen fern des großen Filmgeschäfts bieten können, jenseits von Eskapismus und globalisiertem Entertainment: eine Brücke zu schlagen in eine ferne, im Gegensatz zu Fantasy- und Superhelden-Universen reale Lebenswelt. Einen allgemein gültigen Oberbegriff für diese Art von Film gibt es nicht. Nennen wir ihn hier der Einfachheit halber: den interkulturellen Film.

interkulturelle filme eint regionale Verortung und politisches engagement. Die Spannbreite von derlei Filmen ist so weit gefächert wie es die Regionen, Religionen, Kulturen, Ethnien und Konflikte dieser Erde sind. Ob dokumentarisch, semidokumentarisch oder fiktiv, ob Komödie oder Drama (auch wenn letzteres eindeutig überwiegt), ob aus Kurdistan, dem Tschad oder Chile, ob von absoluten „Underdogs“ oder im internationalen Arthouse-Kino etablierten Filmemachern: Was diese Filme eint, sind ihre regionale Verortung und ein ernsthaftes politisches Anliegen, das ideologischer, religiöser, ökologischer, sozialer oder ökonomischer Natur sein kann. Wenn es ein solcher Film vermag, über sich selbst hinaus-

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XXX kino

In »Die Piroge« geht es um Menschen und nicht um »Flüchtlinge«

zuweisen und universell gültig zu werden, und wenn dann noch eine starke Ästhetik hinzukommt: Dann können Filmkunstwerke entstehen, die – so pathetisch das klingen mag – eine völkerverbindende Kraft entwickeln, Ängste und Vorurteile abbauen können. Voraussetzung dafür ist freilich, dass diese Filme auch ihr Publikum finden. Was ein ganz eigenes Problemfeld darstellt. Gelungene Beispiele des interkulturellen Films reichen von der epischen Familienund Irak-Historie des irakischstämmigen Schweizers Samir in 3D („Iraqi Odyssey“, 2014) zum poetisch-nüchternen Blick Hüseyin Karabeys auf die Unterdrückung der türkischen Kurden („Come to My Voice – Folge meiner Stimme“, 2014), vom bewegend-unterhaltsamen Road Movie Richtung religiöser Toleranz („Die große Reise“ des Marokkaners Ismaël Ferroukhi, 2004) zur packendsemidokumentarisch inszenierten Flucht zweier Afghanen Richtung Europa („In This World“ von Michael Winterbottom, 2002), vom symbolträchtigen politischen Lehrstück „Lemon Tree“ des Israelis Eran Riklis (2008) hin zum Film-im-Film „Und dann der Regen“ der Spanierin Icíar Bollaín (2010).

erkenntnis setzt ein, wenn sich der zuschauer ertappt fühlt. „Und dann der Regen“ war mit 115.000 Kinozuschauern in Deutschland verhältnismäßig erfolgreich. Hier werden, enorm aufwändig,

im Grunde drei Filme auf einmal inszeniert: die Geschichte der Dreharbeiten eines spanischen Filmteams in Bolivien, der dabei entstehende historische Film über Christoph Kolumbus und schließlich der reale „Wasserkrieg von Cochabamba“ aus dem Jahr 2000, in den die bolivianischen Laiendarsteller verwickelt sind. Durch diese Struktur über mehrere Ebenen und deren wechselseitige Durchdringung und Parallelführung machen die Regisseurin und Drehbuchautor Paul Laverty den Perspektivwechsel selbst zum Thema, der so zentral ist für die Wirkungsgewalt des interkulturellen Films. In der Konfrontation des in der Theorie wohlfeilen „Gutmenschenblicks“ des spanischen Filmteams mit der konkreten bolivianischen Realität wird hier nichts weniger hinterfragt als die Haltung des ureigenen Stammpublikums: Es ist der vermeintlich aufgeklärte, soziale, liberale Blick des Film-im-Film-Regisseurs Sebastián (Gael García Bernal), den wohl auch der typische Zuschauer des interkulturellen Films für sich in Anspruch nehmen würde. Aber eben nur so lange dies keine eigenen Opfer bedeutet: Bei aller Liebe, mehr als die üblichen zwei Dollar Tagesgage möchte auch Sebastián seinen verarmten bolivianischen Statisten nicht bezahlen! Es ist auch dieses Sich-Ertappt-Fühlen des Zuschauers, das einen guten interkulturellen Film ausmacht: etwa wenn sich die spanischen Schauspieler in „Und dann der Regen“

von der indigenen Kellnerin wohlfeil einige Worte Quechua beibringen lassen, die sie zweifellos schon bald wieder vergessen haben werden – war man das da gerade nicht eigentlich selbst? Dieser Westler, der sich in der folgenlos bleibenden Rolle des weltoffenen Gutmenschen wohlfühlt? Ertappt fühlt man sich auch, wenn der jugendliche Jamal aus „In This World“ billige Armbänder an Triester Touristen „vertickt“ – hat man derlei fliegende Händler nicht schon selbst genervt ignoriert, ohne darüber nachzudenken, warum sie tun, was sie tun?

zu filmereignissen strömen die menschen, nicht aber ins reguläre kinoprogramm. Sich selbst hinterfragen, den eigenen Horizont erweitern: Im Fall von „Die Piroge“ ist dies wortwörtlich zu nehmen. Indem der endlose Horizont, den Baye Laye und die anderen Tag für Tag von ihrer Piroge aus vor Augen haben, zum eigenen Gesichtsfeld wird. Und damit die Außenperspektive des europäischen Mediennutzers, der täglich mit Berichten über hierher strömende Flüchtlingsmassen konfrontiert wird, abzugleichen mit dem Binnenblick der Betroffenen, den Menschen hinter den Zahlen. Keine noch so mitreißend geschriebene Zeitungsreportage kann dieses „Fremde“ so vermitteln und nahebringen, wie das ein (guter) Film kann.

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kino interkulturelle filme

Vertrieben wird „Die Piroge“ hierzulande vom Evangelischen Zentrum für Entwicklungsbezogene Filmarbeit (EZEF) in Stuttgart, das den Film bereits im Produktionsprozess unterstützte. „Bestimmt zehn Verleihern“ habe er den Film angeboten, berichtet Bernd Wolpert, Leiter der Fachstelle. Doch alle hätten abgewunken. Das afrikanische Kino, so Wolpert, habe es in Deutschland besonders schwer – auch einem großen Erfolg wie unlängst „Timbuktu“ zum Trotz. So beschloss man, „Die Piroge“ selbst ins Kino zu bringen, was das kleine EZEF laut Wolpert „nur zur Not“ macht, ist doch dessen Kernaufgabe die nichtgewerbliche Bildungsarbeit. Bislang haben den Film (Start: April 2013) in Deutschland etwa 6.500 Zuschauer gesehen. „Ein durchaus guter Wert“, sagt Wolpert. Der Film sei auch die nächsten Monate noch gut gebucht, von Flüchtlingsinitiativen, für Schulkinowochen oder eine Berliner OpenAir-Veranstaltung. Laut Wolpert sind es mittlerweile vor allem Sonderveranstaltungen, bei denen Filme wie „Die Piroge“ zu sehen sind: „Der Event-Charakter wird auch im Kino immer wichtiger. Etwa bei Festivals: Da strömen die Leute. Aber später eben nicht mehr ins reguläre Kinoprogramm.“ Und doch klingen 6.500 Zuschauer sehr bescheiden. Da braucht man nicht mal die Millionenergebnisse von Filmhitlisten-Anführern wie „Der Hobbit“ zum Vergleich heranziehen. Selbst der letzte Platz der hiesigen „Top 100“ des vergangenen Jahres, die US-Komödie „Urlaubsreif“, brachte es noch auf gut 273.000 Zuschauer. Nur ein einziger dieser 100 Filme kam weder aus den USA noch aus Westeuropa: der türkische Film „Recep Ivedik 4“, der stellvertretend für den Boom des türkischen Kinos steht. Fünf Jahre zuvor, also im Jahr 2009, stellte sich die Lage fast ebenso einseitig dar: Wieder

Filme, die um ihren Platz im Kino kämpfen müssen: »Come to My Voice«...

nur USA und Westeuropa in den „Top 100“, wieder bildete ein türkischer Film die Ausnahme – Teil 2 der „Recep-Ivedik“-Saga –, hinzu kamen immerhin noch zwei australische Produktionen. Das wirft die Frage auf, ob unser Kinoprogramm angesichts von US-Blockbustern und globalisiertem Entertainment immer ärmer wird und es kleine, interkulturelle Filme heute schwerer haben, ihr Publikum zu finden. Die Antwort darauf fällt unterschiedlich aus, je nachdem, wen man fragt: den Regisseur, den Leiter der evangelischen Filmbildungsstelle, den Kinobetreiber oder den Verleiher.

„Von zehn filmen zu interkulturalität und migration kriegen wir acht nicht finanziert.“ Zunächst wäre da Samir, Regisseur des 162-minütigen 3D-Dokumentarfilm-Epos’ „Iraqi Odyssey“ (Schweiz/Irak/Vereinigte Arabische Emirate/Deutschland 2014). Sein beeindruckender Film ist geeignet, einen völlig neuen Blick auf den Irak zu vermitteln (Kinostart in Deutschland: September 2015). Allerdings ist er hierzulande, außer bei einer Kinotour durch einige Universitätsstädte, voraussichtlich fast nur in 2D zu sehen – und stark gekürzt in einer 90-Minuten-Version. Ein Beispiel für den lieblosen Umgang mit dem interkulturellen Film?

Samir und sein Produzent Joel Jent zeigen Verständnis dafür, dass der deutsche Verleih NFP die kürzere Fassung bevorzugt: Zu wenige Kinobetreiber seien eben bereit, für einen Film zwei Programmblöcke freizuhalten. Zudem seien die deutschen ArthouseKinos, anders als ihre Schweizer Pendants, nicht gut ausgestattet mit 3D. Dabei zeigt der bisherige Erfolg des Films, dass es mit dem richtigen Zielgruppen-Marketing eben auch funktionieren kann: In der kleinen Schweiz haben bereits mehr als sensationelle 12.000 Besucher „Iraqi Odyssey“ in der Langfassung gesehen, sieben Wochen war der Film unter den ersten 20 Titeln der Charts. Freilich: Die vielsprachige Schweiz ist kinoaffiner als Deutschland, zudem auch Originalfassungen zugewandter. Den ewig bedrohten Zustand des interkulturellen Films sieht Samir nüchtern: „Ich bin ja auch noch als Produzent tätig. Von zehn Filmen, die sich mit Interkulturalität, Migration oder Transformation der Gesellschaft in eine Migrationsgesellschaft befassen, kriegen wir acht nicht finanziert.“ Um lachend hinzuzufügen: „Ganz ehrlich: Das war aber vor zehn, 20 Jahren auch nicht anders!“ Bernd Wolpert hingegen findet, dass es zumindest im Bereich des afrikanischen Kinos „vor fünf Jahren deutlich leichter“ war, einen Verleih zu finden. „Kleinere Starts

Die Initiative „Kino Global“ einen neuen ansatz, die Präsenz von interkulturellen filmen im kino zu stärken und zu unterstützen, verfolgt die initiative „kino global“, die von der „engagement global ggmbH – service für entwicklungsinitiativen“ ins leben gerufen wurde. finanziell unterstützt wird sie

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aus mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und entwicklung (BmZ). „kino global“ versteht kinofilme als wichtiges kulturelles leitmedium: „sie sind Botschafter der wirklichkeit jener länder, in denen sie entstehen und handeln: authentische stimmen

ihrer jeweiligen kultur. sie berichten von gesellschaft, lebensbedingungen und alltag, von lebensfreude, selbstbewusstsein und würde. sie zeigen universelle menschliche regungen, gefühle, Ängste, träume und hoffnungen. sie analysieren globale Zusammenhänge und decken

missstände auf. sie informieren uns nicht nur, sondern sie wecken empathie und erleichtern uns den wechsel unserer perspektive.“ „kino global“ will solche filme zum publikum bringen und das publikum darüber ins gespräch bringen. „so wird das kino zu einem ort des dialogs und des

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interkulturelle filme kino

Masse funktionierende Video-on-DemandDienste zu vermarkten. Diese Nische, ob als exklusive DVD-Box oder als wachsende Zahl kleiner regionaler Filmfestivals, ist und bleibt das natürliche Biotop, in dem sich der interkulturelle Film tummelt. Doch so lange dort Filme wie „Die Piroge“ oder „Come to My Voice“ ein (wenn auch bescheidenes) Dasein fristen, ist die Lage des interkulturellen Films, um mit Wolpert zu sprechen, „unübersichtlich, aber nicht hoffnungslos.“

Fotos: EZEF/Barnsteiner/Dschoint Ventschr Filmprod.

... und »Iraqi Odyssey«

werden von angestammten Arthouse-Verleihern mittlerweile eher abgelehnt, da fehlt mir ein bisschen das politische Selbstverständnis.“ Er verweist auf die Schwierigkeit, „Die Piroge“ in Deutschland ins Kino zu bekommen, sagt aber auch, dass es „schwieriger geworden ist, mit Kino Geld zu verdienen“. Weshalb die Verleiher heute genauer hingucken: „Was hat Potenzial, was bringt Publikum?“. Christian Pfeil hingegen empfindet es andersherum: Der Betreiber der Münchner Programmkinos „Neues Arena“ und „Monopol“ wünscht sich, dass Verleiher stärker ihre Rolle als „Filter“ wahrnehmen. Für ihn ist die wachsende Filmflut mit zehn bis 15 Kinostarts pro Woche das zentrale Problem. Diese Flut spült laut Pfeil auch unzählige marginale Filme ins Kino und bringe gelungene Produktionen um ihre berechtigte öffentliche Wahrnehmung – beispielsweise den georgischen Film „Die Maisinsel“ von George Ovashvili: „Als wir vor zwölf Jahren mit Kino angefangen haben, da war es total spannend zu gucken, was neben dem Markt herunterfällt. Mittlerweile ist der Markt so riesig, dass jeder Film, der überhaupt fertig geworden ist, am Ende einen Verleih hat. Das verstopft meine Aufmerksamkeit und auch die Aufmerksamkeit unseres Publikums. Das liest

von Filmen, die dann nach einer Woche schon wieder verschwunden sind. Dadurch marginalisieren wir das gesamte Produkt Film: Wenn es so schnell wieder weg ist, dann kann es ja auch nicht wichtig gewesen sein! Wie soll ich denn meinem Publikum erzählen, dass ein wirklich guter Film wie ‚Die Maisinsel’ so toll ist, wenn ich ihn nach zwei Wochen wieder herausnehmen muss, weil er zu wenig Besucher bringt?“ Pfeil plädiert leidenschaftlich für eine Reduktion und Konzentration auf weniger und bessere Filme, die man dann aber auch wirklich „highlighten“ müsse. Auch Daniel ó Dochartaigh vom auf lateinamerikanisches Kino spezialisierten Kleinstverleih Cine Global glaubt, dass es die kleinen, interkulturellen Filme noch nie leicht hatten – zumal in Deutschland, wo für die allermeisten Kinogänger nur ein synchronisierter Film in Frage kommt. Dennoch sieht auch er Mechanismen, die das Geschäft heute besonders erschweren: „Der Markt ist, auch durch die zunehmende Filmflut, zunehmend umkämpft. Und natürlich gilt: Je mehr Filme es gibt, desto beliebiger wird der einzelne Film.“ Weshalb der Verleiher bewusst auf die Nische setzt und lieber eine hochwertige DVD-Box für eine kleine, klar umrissene Zielgruppe erstellt als seine Filme etwa über große, über die reine

lernens.“ „kino global“ ist als kooperationsprojekt mit der filmwirtschaft konzipiert. partnerkinos in allen 16 Bundesländern starten zwischen august/september und november 2015 mit individuell zusammengestellten filmprogrammen zu fragen weltweiter gerechtigkeit und nach-

„Denn Hass kommt von ignoranz und unkenntnis.“ Freilich: Diese Unübersichtlichkeit erfordert vom Publikum Flexibilität, Engagement und Recherche. Wenn Anfang 2016 der Film „Come to My Voice – Folge meiner Stimme!“ in die Kinos kommt, wird man schnell ins Kino gehen müssen, ehe er wieder aus dem Programm verschwindet. Gar nicht zu sprechen von der Kinolandschaft jenseits der Großstädte, wo man allenfalls auf eine eventuelle Fernsehausstrahlung zu später Stunde oder auf die DVD-Auswertung warten darf. Und doch: Es lohnt sich. Es ist, um bei „Come to My Voice“ zu bleiben, vor allem die archetypische, universelle, auf zahlreiche Regionen der Welt übertragbare Erzählung, die diesen poetisch-pragmatischen Blick auf die türkische Besatzung der Kurdengebiete so besonders macht. Hüseyin Karabey, der kurdisch-türkische Regisseur dieses kleinen großen Films, bringt denn auch entsprechend allgemeingültig das enorme Potenzial des interkulturellen Kinos auf den Punkt: „Man kann einen Menschen wegen seiner Kultur niemals hassen. Es kann sein, dass man ihn nicht mag. Aber hassen: Das ist nicht möglich, wenn man seine Kultur erstmal kennen gelernt hat. Denn Hass kommt von Ignoranz und Unkenntnis.“ •

haltigkeit. Bei allen veranstaltungen sollen diskussionen das gesehene vertiefen, wobei viele kinos eng mit partnerorganisationen vor ort zusammenarbeiten, die erfahrungen im globalen lernen mitbringen. die filmprogramme orientieren sich thematisch an der 2014 beschlosse-

nen Zukunftscharta der deutschen entwicklungspolitik. dabei geht es um themen wie migration, flucht, gesundheit, armut, klimaschutz und menschenrechte.

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kritiken neue filme

Dating Queen US-Stand-up-Komikerin Amy Schumer glänzt in ihrer ersten Kinorolle In Zeiten von Partnerbörsen, Speed Dating und SingleRekordzahlen hat Romantik sogar im Kino keine große Lobby mehr. Mittlerweile findet selbst in romantischen Komödien die Liebe meist nur noch auf Umwegen ihre Ziele. Erschwerend kommt hinzu, dass das Repertoire romantischer Bildmotive überschaubar ist, wie es „Dating Queen“ in einem von vielen klugen Momenten vorführt: Da erlebt die Heldin Amy das Erblühen der Beziehung mit ihrem neuen Freund Aaron und wandelt durch eine Montage der romantischsten Flecken von New York, die freilich alle längst abgegrast sind. Entsprechend sarkastisch fällt Amys Off-Kommentar aus: Das Entenfüttern im Central Park weckt bei ihr Verwunderung, dass sie dort nicht überfallen werden, die Bank vor der Brooklyn Bridge macht sich zwar gut, ist aber als Motiv bereits von Woody Allen in „Manhattan“ (1978)

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verbraucht worden, und bei der Aussicht auf eine geteilte Zahnbürste regt sich endgültig ihr Wunsch, dass aus der Affäre bloß nichts Festes erwachsen möge. Womit sie in ihr altes Verhaltensmuster zurückzufallen droht, ein Liebesleben ohne emotionale Belastung, bei dem sie ihre verdutzten Liebhaber nach einem One-Night-Stand mit Hinweisen des Überdrusses oder gleich mit klaren Worten aus ihrer Wohnung jagt. Ihr Verhalten irritiert, doch der Zuschauer hat die Erklärung dafür schon zu Beginn erhalten: Amy hat im zarten Alter eine Lektion ihres chronisch untreuen Vaters erhalten und diese tief verinnerlicht. Den Part der sexuell freizügigen jungen Frau mit dem schnoddrigen Mundwerk, den sich die US-Komikerin Amy Schumer für ihr Kinodebüt selbst auf den Leib geschrieben hat, war bereits fester Bestandteil ihres Stand-Up-Programms. Nach

einer langen Ochsentour über kleine Bühnen hat die 1981 Geborene in den letzten Jahren einen steilen Aufstieg erlebt. Seit 2013 hat sie ihre eigene Sketch-Serie „Inside Amy Schumer“ auf dem Fernsehsender Comedy Central, mit der sie zu einer der gefeiertsten Komikerinnen Amerikas aufstieg. Einerseits, weil Schumer darin mit Wandlungsfähigkeit und grenzenloser Bereitschaft zur Selbstironie glänzt und noch die vulgärsten Pointen charmant rüberbringt, mehr aber noch, weil hinter ihren Provokationen eine scharfzüngige Kritikerin sozialer Normierungen steckt. So inszenierte sie etwa eine Episode ihrer Show als kongeniale Parodie auf „Die 12 Geschworenen“ (1957) und ließ eine männliche Jury heftig darüber streiten, ob sie selbst – groß, blond und deutlich pummliger, als es das Hollywood-Schönheitsideal vorsieht – schön genug fürs Fernsehen sei. Zu derartigen Spitzen hintergründiger Gesellschaftskritik läuft Schumers SpielfilmDrehbuch zwar nicht auf; dafür hat ihr Mentor und Regisseur Judd Apatow zu sehr die Hand im Spiel gehabt. Apatow setzt einmal mehr auf seine cha-

rakteristische Mischung aus Scherzen, die öfter mal unter die Gürtellinie gehen, und einem unironischen Festhalten an traditionellen Mustern, sodass Amys Männerverschleiß bis zum Ende wenig überraschend für eine solide Beziehung aufgegeben wird. Auf der anderen Seite hat Apatows fünfte Regiearbeit allerdings an Gagdichte und Einfallsreichtum so viel zu bieten wie keine andere romantische Komödie aus Hollywood seit Ewigkeiten mehr. Das liegt vor allem daran, wie gekonnt Amy Schumer die stereotypen Geschlechterrollen des Genres ins Gegenteil verkehrt: Während ihre Figur lustvoll „männliche“ (Un)sitten – Bindungsangst, häufiges Betrinken und Kiffen – auslebt und sich als Journalistin an ein Männermagazin mit tief gelegten Ansprüchen verkauft hat, ist ihr Traummann Aaron vernünftig, einfühlsam und mehr als bindungswillig. Obendrein ist er auch noch ein angesehener Sportmediziner, der sich bei „Ärzte ohne Grenzen“ engagiert. Dass Aaron trotz dieser Rundum-Perfektheit nicht todlangweilig wirkt, ist ebenso ein Verdienst des Drehbuchs wie seines sympathischen Darstellers Bill Hader, der mit seinem zurückgenommenen Spiel stark an den jungen Tom Hanks erinnert. Amy Schumer hat sich eine Vielzahl irrsinnig komischer One-Liner und peinlicher Situationen reserviert und beweist in einem Handlungsstrang um das schwierige Verhältnis zu ihrem Vater, dass sie auch ernste Töne anschlagen und glaubhaft verkörpern kann. Trotzdem ist „Dating Queen“ dabei alles andere als eine One-Woman-Show. Neben Schumer glänzen auch wunderbar geschriebene und gespielte Nebenfiguren. Das überrascht bei Tilda Swinton, die unter der Maske von Amys Solarium-gebräunter Chefin

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neue filme kritiken mal wieder kaum erkennbar ist, weniger als beim sich selbst spielenden Basketballstar LeBron James, der sich wunderbare Dialogscharmützel mit Aaron liefert, die von Beziehungsratschlägen nahtlos in ein Plädoyer für die Vorzüge von Cleveland münden, und dabei beachtliches Komiker-Talent beweist. Weit entfernt von Apatows bisherigen „Bromances“ und oft schwer zu glaubenden Paarbildungen ist „Dating Queen“ seine formal reifste und darstellerisch bei weitem überzeugendste Arbeit, mit Figuren, die ebenso zum Lachen reizen wie sie berühren. Und bei Amy Schumer kann man angesichts dieses Debüts gar nicht anders, als immense Erwartungen an ihre weitere Kinokarriere zu knüpfen. Marius Nobach

Bewertung Der filmkommission

eine junge new Yorkerin führt ein scheinbar erfülltes party-leben mit hohem alkoholkonsum und männerbeziehungen, die nie länger als eine nacht dauern. ihre demonstrative Bindungsunlust wird erschüttert, als sie in einem sportarzt ihren traummann kennenlernt. das kinodebüt der stand-up-komikerin amy schumer entfesselt in der umkehrung stereotyper geschlechterbilder aus romantischen komödien ein gag-feuerwerk, das erst gegen ende in konventionellere Bahnen einschwenkt. trotz einiger vulgärer einschübe charmant und bis in die nebenrollen hervorragend gespielt. – ab 16.

true story – spiel um macht Raffiniertes Vexierspiel über Manipulation Der tiefe Fall eines Journalisten. Michael Finkel, ein wortgewandter Jung-Star bei der „New York Times“, hat bei einer Cover-Story über Kindersklaverei absichtlich Fakten und Namen manipuliert, um das emotionale Interesse der Leser zu bündeln. In der Folge wird Finkel entlassen, und auch sonst will ihn niemand mehr beschäftigen. Da erfährt er vom FBI, dass seine Identität von einem Fremden gestohlen wurde. Christian Longo, mutmaßlicher Mörder seiner Frau und seiner Kinder, gibt sich bei seiner Verhaftung in Mexiko als der bekannte Journalist der „New York Times“ aus. Anstatt verärgert zu reagieren, beginnt Finkel sich für den Mann zu interessieren, er besucht ihn sogar im Gefängnis: „Wie es ist, ich zu sein?“ Rasch gehen die beiden Männer einen faustischen Pakt ein: Finkel darf Longo in mehreren Sitzungen zur Bluttat befragen, wenn der ihm im Gegenzug das Handwerk des professionellen Schreibens beibringt. Finkel, der sich von dem eloquenten Häftling blenden lässt, ahnt nicht, dass Longo seiner eigenen Agenda folgt. Und dann verblüfft Longo das Gericht mit einer schockierenden Aussage. „True Story“, heißt das Spielfilmdebüt des britischen Thea-

terregisseurs Rupert Goold, weil die Geschichte authentisch ist, sich so oder ähnlich tatsächlich zugetragen hat; zum anderen aber auch deshalb, weil es hier um die Subjektivität von Wahrheit geht. In einem klugen Vexierspiel stehen sich öffentlicher Kriminalfall und privates Scheitern, Wahrnehmung und Wirklichkeit, Vertrauen und Verführbarkeit unversöhnlich gegenüber. Mit dieser Themenvielfalt erinnert der Film an Atom Egoyans „Wahre Lügen“ (2005), in dem ebenfalls eine Journalistin einen Mordfall lösen wollte. Wie bei Egoyan geht es auch in „True Story“ jedoch um mehr: Finkel und Longo haben im jeweiligen Gegenüber einen Beichtvater, vielleicht sogar Erlöser gefunden. Sie brauchen den anderen für ihre Zwecke. Eine unheilvolle Symbiose, die – darauf verweist der Untertitel „Spiel um Macht“ – in einen doppelbödigen Machtkampf ausartet. Häufig wechselt dabei die Erzählperspektive, von der journalistischen Recherche (die, wie der Anfang beweist, durchaus auch mal schiefgehen kann) bis zur Aussage im Gerichtssaal, die die Unschuld beweisen soll. „True Story“ ist deshalb auch das Duell zweier Schauspieler, nämlich von Jonah Hill und James Franco.

Hill erscheint dabei für eine mit allen Wassern gewaschene Edelfeder allerdings zu jung und zu naiv. Aber nur so ist es zu erklären, dass er dem schillernden Charme des Häftlings auf den Leim geht. Franco hingegen verkörpert glaubwürdig die Last der Rolle eines mutmaßlichen Mörders, der seine ganze Familie ausgelöscht haben soll, sich aber als ausgefuchster Manipulator erweist. Die willkürlich eingestreuten Rückblenden der Bluttat sind denn auch höchst irritierend, weil sie in ihrer Grausamkeit enigmatisch bleiben und nichts erklären. „True Story“ löst das Versprechen nicht ein, Longos Motiven auf die Schliche zu kommen. Die Auflösung fehlt. Vor allem das ist unbefriedigend. Michael Ranze

Bewertung Der filmkommission

ein ehrgeiziger journalist hat wegen der manipulation von fakten seinen job bei der „new York times“ verloren. als ein mutmaßlicher mörder die identität des reporters vortäuscht, um auf sich aufmerksam zu machen, sieht er die chance auf rehabilitation. in zahlreichen sitzungen im gefängnis befragt er den häftling zur Bluttat, um darüber ein Buch zu schreiben, doch der gefangene betreibt seine eigene agenda. kluges vexierspiel um öffentlichen kriminalfall und privates scheitern, wahrnehmung und wirklichkeit. allerdings krankt der gut gespielte film über vertrauen und verführbarkeit an seiner allzu unentschlossenen auflösung. – ab 16.

trainwreck. scope. usa 2015

true storY. usa 2015

regie: judd apatow

regie: rupert goold

Darsteller: amy schumer (amy townsend), Bill hader (aaron), Brie larson (kim), colin Quinn (gordon), john cena (steven), tilda swinton (dianna)

Darsteller: jonah hill (michael finkel), james franco (christian longo), felicity jones (jill), maria dizzia (maryjane), ethan suplee (pat), conor kikot (Zach)

länge: 130 min. | kinostart: 13.8.2015

länge: 100 min. | kinostart: 6.8.2015

Verleih: universal | fsk: ab 12; f

Verleih: fox | fsk: ab 12; f

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fD-kritik: 43 242

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26 FILMDIENST-Ausgaben erscheinen im Jahr, 26 Buchstaben hat das Alphabet. Das bedeutet 26 Gelegenheiten, auffällige Kinophänomene durchzubuchstabieren. Diesmal:

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Psychopathen-Pinnwand

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In „One Hour Photo“ tapeziert ein Stalker sein Wohnzimmer mit den Schnappschüssen von Fremden. Buffalo Bill, der Killer aus „Das Schweigen der Lämmer“ (1991), hat in seiner Wohnung nicht nur Menschenhäute – sondern auch eine Wand mit Zeitungsartikeln über seine Morde. Wenn die Kamera im Psychothriller eine Wand streift, die unter der Last von Fotos, Zeitungsausschnitten und Notizen umzukippen droht, weiß jeder: Wir sind im Hobbykeller des Killers. Oder, ganz im Gegenteil: beim Ermittler. Denn nur hier sieht es in Filmen und Fernsehfilmen ganz genauso aus. Ob „Sherlock“, „Fargo“ oder „True Detective“: Polizisten, die ihre Arbeit ernst nehmen, sammeln Hinweise auf einer wandfüllenden, von wuchernden Linien überzogenen Mind Map. Die Pinnwand ist das filmische Bild für die Zwillingsbeziehung von Cop und Killer. Wie sehr sich der Kriminalist dem Täter anverwandelt, macht schon die Umgangssprache deutlich: Im Englischen heißen die Pinnwände „Crazy Wall“, egal, ob der Ermittler oder der Killer sie pflegt. Mitunter verschwimmen die Grenzen ohnehin – beim Mörder-Ermittler „Dexter“ ebenso wie im Fall der psychisch kranken „Homeland“Agentin Carrie Mathison. Die Set-Designer schaffen PsychopathenPinnwände in so hoher Zahl, dass Blogs inzwischen Top-10-Listen aufstellen. Ihr suggestiver Reiz liegt auf der Hand: Als religiöser Schrein, als Abbild des wilden Denkens verkörpern sie den Einbruch des Atavistischen ins Rationale. Die Angst-Lust-Schlagzeilen der Zeitungsausschnitte an der „Crazy Wall“ thematisieren die Komplizenschaft der Öffentlichkeit mit dem Grauen. Und als Chaos mit System illustrieren die Sammelsurien die Idee vom wahnsinnigen Genie. Einen „All Time Favourite“ der „Crazy Walls“ bastelt der Held in „A Beautiful Mind“ (2001). Sind die Psychopathen-Pinnwände mehr als ein Filmklischee? Der (echte) Profiler Axel Petermann, dessen Fallanalysen auch einige „Tatort“-Episoden inspiriert haben, bestätigt: Er selbst hat in seiner Arbeit als Kommissar die bekannten Übersichtswände angelegt. Auf der Täter-Seite ist ihm vor allem von sexuell motivierten Ver-

Was haben Filmcops und Verbrecher gemeinsam? Die Vorliebe für »Crazy Walls«, an denen Täterprofile plastisch Gestalt annehmen. Hier aus »Sherlock« (o.l.), »Homeland« (o.r.) und »True Detective«

brechern auch das Sammeln von Trophäen vertraut. Sogar für das machtverliebte Katz-und-Maus-Spiel mit Polizei und Medien nennt er einen realen Fall als Beispiel, der alle Filme übertrifft: den Frauenmörder Jack Unterweger. Der hat – so Petermann –, erst in Serie gemordet und dann die zuständigen Ermittler für den Rundfunk interviewt. Nur eins hat Petermann nie gesehen: eine klassische Pinnwand mit den Erinnerungsstücken des Psychopathen. Wieso also sind Psychopathen-Pinnwände im Film so viel häufiger als in der Wirklichkeit? Ganz sicher aus praktischen Gründen: Sie ermöglichen Täter-Introspektion, ohne einen Kunstgriff wie den Off-Ton zu bemühen. Sie machen das Hirn des Mörders zu einem Raum, den man besichtigt wie ein Museum. Ein bisschen Selbstporträt steckt vielleicht auch in dem Motiv: Für die Filmkonzeption eignen sich die Pinnwände schließlich auch. Neben der von Buffalo Bill steht im „Schweigen der Lämmer“ nicht ohne Grund – seine Daniel Benedict Videokamera.

Fotos: Polyband, Twentieth Century Fox, Warner Home

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