Kinder der Westkurve | Auszug

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12 | Einleitung

Die Ultras

Jahren Lachs oder Rosa. Ein paar ganz verrückte VIP-Fans werfen sich frech einen nagelneuen Fanschal um den Hals, um ihren Geschäftspartnern zu zeigen, wie authentisch der ganze Ausflug ist. Der Großteil hingegen beschränkt sich auf eine HSV-Krawattennadel oder einen dezenten Pin. Während die VIP-Fans im alten Stadion ausschließlich im sogenannten »Kuchenblock« der Haupttribüne saßen, verteilen sie sich heute auf immerhin drei Tribünen der modernen Arena. Der Verein hat längst erkannt, welch finanzielles Potenzial sich dort verbirgt. Und obgleich die VIP-Fans dafür sorgen, dass ein Heimspiel mit erheblichen Einnahmen für den Verein verbunden ist, schlägt ihnen oft die Abneigung der anderen Fan-Charaktere entgegen. Der Grund dafür liegt in der nahezu unerschütterlichen Passivität der VIPs. Weil es sich nicht schickt oder sie einfach nicht interessiert, zeigen sie kaum Regungen hinsichtlich des Spiels, was den restlichen Fans gleichermaßen unverständlich und unverschämt erscheint. Bezeichnenderweise lässt sich der größte Gefühlsausbruch seit Stadionumbau dem Champions-League-Heimspiel gegen Juventus Turin zuordnen: Nach einem denkwürdigen 4:4-Spektakel ließen sich einige der VIP-Fans zu wahren Gefühlsexplosionen hinreißen – sie warfen ihre Sitzkissen in die Luft und auf das Spielfeld.

Ähnlich elitär und dennoch denkbar weit entfernt von den VIP-Fans ist die nächste Gattung unter den HSVern aufgestellt. Die Ultras sind, so glauben sie zumindest, die Speerspitze der Fanszene. Auch wenn der normale Ultra oft noch minderjährig ist und die Dauer des Fanlebens dementsprechend überschaubar ist, fühlt er sich einem Großteil der anderen Stadionbesucher überlegen. Denn anstatt die Spiele des HSV einfach zu konsumieren, folgt der Ultra höheren Missionen. Er versteht sich als Hüter der Tradition – obwohl er nie etwas anderes als den modernen Fußball kennen gelernt hat – und versucht, die wachsende Kommerzialisierung des Fußballgeschäfts zu stoppen oder zumindest zu verlangsamen. Er mischt sich in vereinspolitische Prozesse ein, auch wenn er nicht immer auf das dazu notwendige Hintergrundwissen zurückgreifen kann. Den Ultra allein an seiner Einstellung zu erkennen, ist wahrlich einfach: Er ist dagegen. In seinen Adern fließt das Blut eines Revolutionärs, und er sieht sich umgeben von Feinden. Polizei, Politik, Vereine und Sponsoren – alle bedrohen den Ultra und seine Subkultur. Dabei kündigen die Ultras stets großspurig an, ihr restliches Leben ausschließlich dem Verein widmen zu wollen. Diese Schwüre halten in der Regel ein oder zwei Jahre, bis der Ultra ein Studium beginnt, eine Freundin findet oder schlicht das Interesse verliert, weil in seiner Gruppe »echt nur noch Kinder abhängen«. Der Ultra sieht es als die Aufgabe seiner Gruppe – er hat einen ausgesprochenen Herdentrieb und tritt fast ausschließlich im Rudel auf –, die Stimmung im Stadion zu verbessern. Durch die Herstellung und Durchführung von aufwändigen Choreografien sorgt er für optische Spektakel auf den Tribünen. Auch akustisch versuchen die Ultras, Leben ins Stadion zu zaubern. Dem Vorsänger mit dem Megafon folgen sie nahezu blind. Dieses Alphatier der Gattung Ultra gibt alle Gesänge vor, sein Rudel folgt und versucht, die restlichen Zuschauer zu animieren. Da der Ultra einfache Schlachtrufe langweilig findet, versucht er es mit komplizierten Texten und Melodien, die das restliche Publikum jedoch nicht verstehen kann oder will. Für den Ultra ist neben dem Spielergebnis der Wettkampf mit den gegnerischen Ultras wichtig. Der Vergleich von optischer und akustischer Unterstützung nimmt einen ähnlich hohen Stellenwert ein wie das eigentliche Spiel auf dem Rasen. Die Ultras (nicht zu verwechseln mit den früheren

Hooligans des HSV, die sich ebenfalls so nannten) gibt es in Hamburg erst seit der Jahrtausendwende und dem Stadionumbau. Zunächst hielten sie sich komplett im A-Rang der Nordtribüne auf, heute ist eines der beiden großen Rudel in den Block 22C ausgewichen. Bei Auswärtsspielen finden sich die Ultras stets in den untersten Reihen des Gästeblocks ein und fallen dort durch das permanente Fahnenschwenken auf, das andere Fans zuweilen ärgert. Obwohl der Ultra aufgrund seiner kommerzkritischen Haltung auf offizielle Fanartikel des Vereins verzichtet, ist er äußerlich leicht zu erkennen. Neben selbst hergestellten Artikeln, die oft die eigene Ultragruppe repräsentieren, trägt er eine nahezu uniformierte Kleidung: Schwarze Kapuzenjacke, schwarzer Kapuzenpullover, Jeans, teure Turnschuhe, Sonnenbrille (unabhängig von Wetter und Uhrzeit) und Bauchtasche machen ihn leicht als Mitglied dieser Spezies erkennbar. Und obgleich die Ultras nicht unumstritten sind, geben sie den Ton an. Ihren Aufrufen zu Fanmärschen oder besonderen Veranstaltungen folgen viele andere Charaktere. Diese Tatsache untermauert ihr Gefühl, der Nabel der Fanwelt zu sein.


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