eigenart #76-80

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meine chucks als archiv EIN

ERZÄHLTHEORETISCHER

ZUGANG

ZU

DINGKULTUR

UND

MATERIALWISSEN

Text: Lea Gimpel

Meine zwölf Jahre alten Chucks, in denen ich meine ersten Schritte in der Welt der Erwachsenen getan habe, tragen Wis­sen. Sie sind Zeugen einer Zeit, in der erste Zigaretten von mir geraucht wurden und die Welt zur Eroberung offenstand; in der Gerhard Schröder Bundeskanzler werden sollte, Wikipedia gerade im Entstehen begriffen war und so etwas wie ein iPhone Lichtjahre entfernt schien. Meine Erlebnisse und damaligen Gedanken lassen sich an diesem ausgelatschten Paar Schuhe wortwörtlich ablesen: Zitate und Symbole finden sich überall auf den Schuhen. Die Chucks sind aber mehr als das: Sie haben ihre eigene Geschichte vom Basketball­­schuh zu Beginn des 20. Jahrhunderts, über den Punk der 70er bis zur Mainstream-Mode der Gegenwart. Zu der Zeit, als ich sie leidenschaftlich­getragen habe, verstand man sie in meinem Umfeld als krude Mischung linker Popkultur und Konsumkritik, Vintagestyle und Reminiszenz an Bands wie die Ramones; das Bekritzeln der Schuhe selbst war so ein Zitat. All das sagt schon eine Menge darüber aus, wie ich mich damals gesehen habe und wie ich mich heute sehe – in einer anderen Zeit hätte ich zu den Chucks eine andere Geschichte erzählt.

e i n d i n g. v i e le g e sc h i c h ten  — Objekte wie diese könne Wissensträger sein: Sie geben Auskunft über unser Selbst(bild) der Vergangenheit und von heute, aber auch über eine ganze Generation von Chucksträgern. Der Vergleich von vielen persönlichen Geschichten zu einem Paar Chucks würde Interessantes zu Tage fördern, das mehr ist als die Summe seiner Teile: Die Befindlichkeiten einer Konsumentengruppe, zusammengefasst in Gemeinsamkeiten und Differenzen. Unter erzähltheoretischen Gesichtspunkten ist der Ansatz, Dinge nach ihrem Wissen zu befragen, neu: Schlossen die Strukturalisten in den 60er Jahren alles Nicht-textliche wie Bilder, Filme, Musik und Theaterstücke noch von einer Definition von Erzählungen und damit per se von einer Untersuchung als Wissensträger aus, so ist heute die Leitfrage des zeitgenössischen kulturwissenschaftlichen Diskurses für die Inklusion oder Exklusion von Dingen unter dem Begriff der Erzählung eher, ob ein Ding von einem Gegenüber eine narrative Antwort evozieren kann. Das heißt, gefragt nach der persönlichen Bedeutung eines Objekts, kann der Antwortgebende eine Geschichte erzählen, in der Ereignisse chronologisch geordnet und kausal miteinander verbunden werden. Meine Chucks erzählen beispielsweise eine Geschichte von Freundschaft, die in der Schule begann, sich bald im Szene­viertel der Stadt fortsetzte und bis heute reicht.

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Es kommen Konzerte und durchgetanzte Nächte darin vor, erste Verliebtheiten und gebrochene Herzen, Zigaretten, Alkohol und kleine Notlügen gegenüber den Eltern.

das wis s en der din ge  — Unter diesen Vorzeichen werden alle semantischen Objekte zu potenziellen Wissensträgern und können einer Analyse unterzogen werden. Also Objekte der Mode wie meine Chucks oder das iPhone, das die halbe Menschheit vor sich her trägt – aber auch Architektur, Websites und vieles mehr. Unsere Gegenwart, in der die Fähigkeit zu konsumieren über die Zugehörigkeit zur Gesellschaft entscheidet und das Kaufen von Gütern mehr denn je über den Wert des Produkts „Selbst“ entscheidet, das an den Markt gebracht werden muss, ist geprägt von einer Dingkultur. Durch die Materialität der von ihr hervorgebrachten Objekte bietet sich uns ein unüberschaubares Repertoire möglicher Wissensquellen.

das din g un d das s elbst — Daraus ergeben sich mehrere Schlussfolgerungen: Die Dinge, mit denen wir uns umgeben, ­ sind „Schöpfer der Menschen“, wie der Anthropologe Daniel Miller so schön sagt. Ihr Besitz manifestiert durch ihr Produktversprechen unsere Beziehungen zur Welt und dient uns als Instrument der Identitäts­konstruktion, Präsentation und Selbstreflexion. Nach der Bedeutung unserer Besitztümer befragt, spiegelt unsere Geschichte zu den Dingen unseren gegenwärtigen Selbstentwurf in Relation zur Vergangenheit wider. Denn diese Besitzgeschichten sind immer retrospektiv, sie beginnen mit dem Erwerb des Objekts oder manchmal sogar davor. Gleichzeitig werden sie von einem Standpunkt in der Gegenwart erzählt, sodass sich die Geschichten im Er­­­zählen verändern, da Motive und Gedanken von damals im Licht von heute erzählt werden. mi t er zäh lung en ordnen  — Die kognitive Erzählforschung hat in solchen persönlichen Geschichten ein Moment der Glorifizierung entdeckt, das durch unser Bedürfnis nach Kohärenz und Kau­salität entsteht. Diese Sinngebung und die logische Verknüpfung von Ereignissen, die vielleicht nicht viel miteinander zu tun haben, hilft uns darüber hin­wegzusehen, dass die Welt um uns herum chaotisch ist. Mit unseren Geschichten zu den Dingen und zu unseren Erlebnissen ver­suchen wir, unserem Dasein im An­­gesicht des Chaos der Welt Sinn zu geben. Deswegen wird so oft von den „gu­ten, alten Zeiten“ gesprochen, aus denen die Dinge stammen. Sie sind Zeu­gen der Zeit ihrer Produktion und Ver­wendung, denn hinter dem Rücken des Produ­zenten und Verwenders schreibt sich in die Geschichte des Dings unbemerkt die Gegenwart ein. Gesellschaftliche und persönliche Nutzungskontexte werden ebenso dokumentiert wie die Einschreibungen des Produzenten, der ein Ding mit Bedeutung auflädt und mit einer Nutzungsintention versieht. Unsere narrative Antwort lässt sich dann nicht nur von unserem individuellen Erleben, sondern auch von der Produktionsintention der Dinge leiten, wie beispielsweise dem Produktver­ sprechen und der Produktpräsentation. Das Unter­nehmen Converse Inc. verkauft heute beispielsweise Chucks, auf denen das Anarchiesymbol der Punks bereits aufgenäht ist. Umwertungsund Aneignungs­prozesse der Marke wie sie in den 70ern durch die Punks stattfand oder in den 90ern von Teenagern wie mir, stehen damit unter stark veränderten Vorzeichen.


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