DAIMLER TECHNICITY 01-2013 Deutsch

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ausgabe 01 2013

Das Jahrhundert der Stä dte Daimler-Experten erforschen die Städte von heute und morgen als Grundlage neuer urbaner Mobilitätsangebote.

Automobile Komfortzone Neue intelligente Komfortfeatures machen das Auto noch stärker zum Partner des Menschen.

Forschen für mehr Fahrspass Welche Faktoren beeinflussen die Freude am Steuer? Eine Daimler-Studie hat den Fahrspaß wissenschaftlich untersucht.

Innovation Technologie Mobilität

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TecHnicity <engl.> die, das; -ys (1, 2), -ies (3, 4); (Abk. T) 1. Eigenname als Zusammensetzung der Begriffe q Tech•no•log’ie (1) und q Ci•ty (2) 2. Magazin, das sich mit der Anwendung von (1) und speziell Mobilität im urbanen Umfeld und in weltweiten Metropolregionen befasst 3. <engl.> für q Tech•ni’zi•tät (3) 4. der technische Charakter einer q In•no•va•ti’on (4)

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Das Ja hr hundert Der Stä dte Ein stetig wachsender Teil der Menschheit lebt in Städten und verändert die Anforderungen an Fahrzeuge und Mobilitätsservices von morgen. Ein Trend weist zur „Urban Micro E-Mobility“, der Kurzstreckenmobilität mit kleinen Elektrofahrzeugen in Verbindung mit neuen Kommunikationstechnologien. Ein Vorreiter der Entwicklung ist das smart ebike mit iPhone-Schnittstelle.

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Mobile Zukunft

Die weltweit zunehmende Urbanisierung und die ­Möglichkeiten der digitalen Welt stellen uns vor neue Herausforderungen, wenn es um die Mobilität der Menschen geht. Wir müssen diese Trends und Entwicklungen verstehen sowie intensiv über Ergänzungen und Alternativen zu bisherigen Mobilitätslösungen nachdenken. Als ­Erfinder des Automobils sehen wir es als unsere Aufgabe an, dabei alle Parameter des Automobils ganzheitlich und konsequent auf den Prüfstand zu stellen, ohne die Grundbedürfnisse der individuellen Mobilität zu vernachlässigen. TECHNICITY vermittelt Ihnen Einblicke in unsere Forschung und begleitet Themen, mit denen wir uns bei der Entwicklung der Mobilität der Zukunft auseinandersetzen. Die Titelgeschichte „Das Jahrhundert der Städte“ (S. 12) berichtet über unsere Forschung auf dem Gebiet der Urbanisierung. Mit welchen Formen der Stadtentwicklung haben wir es zu tun und welche Konsequenzen hat das für die Entwicklung des Automobils? Aus einer Typologie unserer Städte lassen sich Empfehlungen für Fahrzeuge und Mobilitätsdienstleistungen von morgen ableiten. Ein detailliertes Verständnis der Bedürfnisse des Menschen im Hinblick auf die Mobilität ist unbedingte Voraussetzung, wenn man sich über die Fahrzeuge und die Mobilität der Zukunft Gedanken macht. In unserem Beitrag zum Thema Fahrspaß (S. 30) berichten wir über Forschungsergebnisse zu ganz elementaren Anforderungen, die Menschen an ein Automobil stellen. Dabei geht es vor allem um den Komfort im Auto (S. 24) und die Frage, was unsere verschiedenen Kunden in dieser Hinsicht erwarten. Wie immer begleitet TECHNICITY auch in dieser Ausgabe einen Protagonisten einen Tag lang durch sein urbanes Umfeld. In San ­Diego (S. 38) treffen wir den Neurologen Thilo Hölscher und erfahren mehr über die Ansprüche an die individuelle Mobilität in einer der höchstentwickelten Regionen der Welt. Bleiben Sie mit uns mobil und erfahren Sie mehr über diese und weitere Themen! Viel Freude bei der Lektüre von TECHNICITY wünscht Ihnen Ihr Thomas Weber Vorstandsmitglied der Daimler AG, verantwortlich für Konzernforschung und Entwicklung   Mercedes-Benz Cars

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INDEX Das Ja hr Hundert der Stä dte 12 Daimler-Experten erforschen die Städte   von heute und morgen als   Grundlage neuer Mobilitätsangebote.

Spektrum 18

Automobile Komfortzone 24 Neue intelligente Komfortfeatures   machen das Auto noch stärker zum   Partner des Menschen.

Forschen für mehr Fa hrspass 30 Welche Faktoren beeinflussen die Freude am Steuer? Eine Daimler-Studie hat den Fahrspaß wissenschaftlich untersucht.

Metropol 36

Innovationsr egion SAN diego 38 Die kalifornische Großstadt ist ein Tummel­ platz der Kreativen. Persönliche Treffen stehen hoch im Kurs – und damit Mobilität.

Digital 50 IMpressum UND KONTAKT 50 PROJEKTOR 51


WO: EINE GROSSSTADT IN EUROPA WANN: 2030


Urban Micro E-Mobility  Der Trend zur lokal emissionsfreien Elektromobilität in der Stadt zeichnet sich bereits heute deutlich ab. ­E-Autos, E-Bikes und E-Scooter genießen Platzvorteile auf engem urbanem Raum. Sie schonen wertvolle Ressourcen und lassen sich im Rahmen von Sharing­ konzepten etwa per Smartphone überall unkompliziert anmieten.


WO: EINE VORSTADT IN NORDAMERIKA WANN: 2030


Alternative Antriebe  Eine Option für künftige Fahrzeuge liegt in der Elektrifizierung des Antriebs – angepasst an unterschiedliche Anforderungen. Darum sind viele Städte im Jahr 2030 durchzogen von einem Netz an Ladesäulen für Plug­-inHybride und reine Elektrofahrzeuge mit modernster Batterietechnologie sowie Wasserstoff­tankstellen für Fahrzeuge mit Brennstoffzellensystem.


WO: EINE GROSSSTADT IN ASIEN WANN: 2030


Autonomes Fahren  Die Weiter­ entwicklung von Fahrerassistenzsystemen eröffnet in den kommenden Dekaden die Möglichkeit, Fahrzeuge bei Bedarf völlig automatisiert fahren zu lassen. In eigens dafür vorgesehenen Spuren sind nur selbstständig fahrende Autos in exakt definierten Abständen unterwegs. Der Fahrer kann entspannen, kommunizieren oder sich unterhalten lassen.


­ as D Ja h r h u n dert der Stä dt e

Städte entwickeln sich auf allen Kontinenten immer mehr zu den Zentralpunkten menschlichen Lebens. Daimler-Forscher haben eine Stadttypologie entwickelt, um die Auswirkungen auf das urbane Leben zu verstehen und Empfehlungen für Fahrzeuge und Mobilitätsdienstleistungen von morgen geben zu können.

Text Rüdiger ABELE

RENDERING Krieger des Lichts, xoio

ILLUSTRATION Iassen MARKOV

Fotografie Delia Baum

Schlüsselwörter

neue Mobilitätsfor men Sta dtentwick lung Zukunftsforschung Ur ba nität Ty pologie der Stä dte


EINE GROSSSTADT IN EUROPA 2030   Der Besucher steht auf dem Gehweg und betrachtet das Verkehrsgeschehen an einer Kreuzung. Windräder auf einem denkmalgeschützten Altbau signalisieren, woher ein Gutteil des Stroms mittlerweile kommt – aus regenerativen Quellen. Ein Geschäftsmann auf einem elektrisch betriebenen Roller sirrt vorbei, dahinter ein Mercedes-Benz Coupé mit einem Plug-in-Hybrid-Antrieb, mit dem das Fahrzeug elektrisch und leise fährt. Der Fahrer will nach links abbiegen, und alle Verkehrsteilnehmer in der Nähe erhalten auf die Straße projiziert einen Warnhinweis auf das entgegenkommende Fahrzeug, eine batterieelektrisch angetriebene B-Klasse. Eine rote Fahrspur markiert den Raum für Fahrräder. Der Besucher wird für seinen kurzen Weg durch die Innenstadt ein E-Bike an der öffentlichen Ladesäule mieten. Oder soll er den Bus mit Brennstoffzellenantrieb nehmen, der dort hinten heranrollt, oder eines der car2goFahrzeuge? Die urbane Mobilität der Zukunft bietet individuelle Flexibilität und Wahlfreiheit.

S

tädte, Kulminationspunkte menschlichen Lebens: Auf klar umgrenztem Raum tummeln sich Bewohner aller Generationen, finden Wohnraum, Bildungsstätten, Arbeitsplätze, Geschäfte, Freizeitangebote. Und sie nutzen Mobilität, um die Möglichkeiten auszuschöpfen und ihren Alltag auszugestalten. Mobilität ist das Bindemittel sozialer und wirtschaftlicher Aktivitäten. Verschiedene Verkehrsträger gibt es dafür, solche mit individueller Privatheit und solche des öffentlichen Nahverkehrs. Und alle und alles teilt sich miteinander die Stadt, sodass nahezu jedes Bedürfnis möglichst reibungslos erfüllt werden kann – „Shared Space“ nennen das Fachleute, wenn all dies sogar auf einem Verkehrsweg gemeinsam erfolgt. Es gibt viele verschiedene Städte, beispielsweise große und kleine, volle und leere, enge und weite, ­moderne und traditionsreiche. Die Zahl der Charakterisierungen inklusive Kombinationsmöglichkeiten ist nahezu ­endlos. Doch allen innewohnend ist auch der Aspekt, wie Lebensqualität dargestellt wird – wichtig für die Entfaltung des Menschen in seiner Umwelt und zentral für die Zukunftsfähigkeit des Gesamtsystems. Wenn man nun noch den Betrachtungshorizont um die Prognose erweitert, dass die Zahl der Menschen, die in Städten wohnen, weiterhin stark zunehmen wird, dann wird die Bedeutung des Gesamtthemas noch deutlicher. Immer mehr Menschen werden im Laufe des 21. Jahrhunderts in immer größere Städte ziehen – so lassen sich die Vorhersagen zusammenfassen. Bis zum Jahr 2025 wird die weltweite Stadtbevölkerung von heute 3,5 Milliarden Menschen auf voraussichtlich 4,5 Milliarden zunehmen, während die Landbevölkerung lediglich von 3,4 Milliarden auf 3,5 Milliarden wächst. Die Vereinten Nationen schätzen, dass statt heute 50 Prozent der Menschheit im Jahr 2050 rund 75 Prozent aller Menschen in Städten leben werden. In Städten verdichten sich die großen Zukunftsherausforderungen: Klimaveränderung, Energie- und Rohstoffversorgung mit vermutlicher Knappheit in einigen Weltgegenden,

wirtschaftliche Entwicklung, Lebensqualität und soziales Miteinander. Städte sind Kristallisationskeime für Innovationen. Auch die Daimler-Zukunftsforschung beschäftigt sich intensiv mit dem Wandel von Städten. Dabei geht es zunächst darum, in einer Zeit der voranschreitenden Urbanisierung die Städte von heute zu verstehen, um eine Perspektive für morgen zu gewinnen. Und natürlich geht es bei dieser Betrachtung immer wieder um Mobilität. Schließlich ist Daimler schon heute ein umfassender Mobilitätsanbieter. Ein Ergebnis der stadtorientierten Zukunftsforschung ist unter anderem eine Stadttypologie für das 21. Jahrhundert, die Vielfalt und Wandel von Lebensformen und Mobilität beschreibt. „Vor uns liegt das Jahrhundert der Städte“, sagt Frank Ruff, innerhalb der Daimler-Forschung Leiter der Abteilung Gesellschaft und Technik. „Deshalb haben wir acht Typen entwickelt, um Städte miteinander vergleichen zu können und Unterschiede und Gemeinsamkeiten besser zu verstehen.“ Die einzelnen Typen haben es in sich, was das künftige Leben von Menschen in Städten angeht: Da gibt es etwa den Typ „Compact Prosperous Variety“ – wohlhabende, kreative Städte auf vergleichsweise geringem Raum und zugleich meist mit großer Tradition, wie etwa New York, London, Berlin oder Barcelona. Oder der Typ „Flourishing Suburbia“, florierende Großraumgebiete wie etwa die San Francisco Bay Area, Los Angeles oder auch Ballungsgebiete wie Stuttgart und Umgebung. Der Typ „Urban Aspirants“ umfasst Städte, die schon jetzt einen großen Boom erleben und der in den kommenden Jahren auch kaum nachlassen wird; der Typ ist vor allem in Ostasien zu finden, als Beispiele können Peking oder ­Shanghai gelten. Interessant auch der Typ „Striving Modernity“ – aufstrebende Städte, die einen deutlichen Wandel durchlaufen von eher traditionsreichen Strukturen hin zu starker traditioneller Modernität, wie etwa ­Delhi, Mexiko-Stadt, São Paulo, Jakarta oder Moskau. vertiefte analyse von stadttypen „Das Ziel ist, Städte als Lebens- und Bewegungsraum noch besser zu verstehen und Schlussfolgerungen für Fahrzeuge und Dienstleistungen von morgen zu ziehen“, erläutert Ruff. „Die vertiefte Analyse der Stadttypen hilft dabei, indem sie vereinende und trennende Muster verdeutlicht und damit den Blick auf individuelle Mobilitätsmuster eröffnet.“ Wie jede Typologie basiert auch die Stadttypologie auf einem Satz relevanter Merkmale oder Dimensionen, auf denen die einzelnen Typen definiert werden. Die Untersuchungen der Daimler-Forscher ergaben sechs Dimensionen, die grundlegende Unterscheidungsmerkmale und Kategorien liefern (siehe Folge­ seite). „Auf Basis dieser Dimensionen ist es möglich, Städte über regionale und nationale Merkmale hinaus vergleichbar zu machen“, erläutert Stefan Carsten, der in der Forschungsgruppe zusammen mit seinem Kollegen Christian Neuhaus die Entwicklung der Stadttypen federführend betreut hat. „Zudem liefern sie Anhaltspunkte zu den zukünftigen Ausprägungen urbaner Mobilität – und damit schließlich auch Hinweise auf mögliche Handlungsfelder von Daimler.“ TECHNICITY.DAIMLER.COM

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EINE VORSTADT IN NORDAMERIKA 2030   Eine nordamerikanische Vorstadt im Jahr 2030, Teil eines ­großen Ballungsgebiets im Süden der USA: Das Stadt- und Straßenbild ist sehr weitläufig. Windgeneratoren im Hintergrund signalisieren, dass erneuerbare Energien stark an Bedeutung gewonnen haben. Auch amerikanische Avantgarden nutzen für Kurzstrecken neben  dem Auto immer häufiger andere Verkehrsmittel. E-Scooter sind unterwegs. Eine Wasserstofftankstelle direkt neben einem Einkaufszentrum bietet Komfort beim Betanken von Brennstoff­ zellenfahrzeugen. Ein Fußgänger läuft über den deutlich von der Fahrbahn abgesetzten Gehsteig, Kurzstrecken zu Fuß zu gehen  gilt als ein persönliches Statement für Fitness und Beitrag  zum schonenden Umgang mit Energien. Auf der Straße rollt eine  mit einem Brennstoffzellen-Plug-in-Hybrid elektrisch betriebene  Mercedes-Benz Limousine vorbei. Auch in den einst nur auto­ geprägten suburbanen Städten Amerikas ist die Mobilität sanft vielfältiger geworden.

DIMENSIONEN DER STADTTYPOLOGIE VON DAIMLER „Change“ – wie schnell ändert sich die Stadt? Das bewertet diese Dimension, wobei der Wandel in eine gemeinhin positiv belegte Richtung gehen kann, beispielsweise über das Ansiedeln neuer Industrien, eine Revitalisierung oder den starken Zustrom von Menschen, oder auch in eine negative Richtung, etwa Verfall und Schrumpfung (von Bewohnerzahl und Industrien). „Life“ – wie lebendig ist die Stadt? Diese Dimension beschreibt, wie vital eine Stadt im Wortsinn ist – wie überlebensfähig im Sinne ihrer Bewohner. An dem einen Ende der Skala stehen Städte wie Kopenhagen, die eine vorzügliche „Gesundheit“ haben, was sich etwa in ­einer starken Wirtschaft und einer vielfältigen Kulturszene zeigt; am anderen Ende sind Städte wie Lagos oder Bagdad zu finden, wo viele Einwohner vor allem ums Überleben kämpfen. Die Dimension „Life“ differenziert besonders stark zwischen Städten der hochindustrialisierten sowie aufstrebenden Länder und denen in ­Entwicklungsländern. „Gestalt“ – wie sieht die Stadt aus? „Gestalt“ ­beschreibt die sichtbare Hülle des Stadtkörpers und ihre daran ablesbare Zukunftsfähigkeit. Einige Kriterien der Forscher für einen Entwicklungspol lauten: dicht, funktional und sozial gemischt, polyzentral, multimodal mobil verbunden, varietätsreich, grün, komplex gesteuert, verkehrsberuhigt und architektonisch markant. Nur wenige  Städte sehen sie bereits in der Nähe dieses Ideals,  darunter Stockholm und Barcelona oder mit Einschränkungen auch Berlin, London und Portland. In Schwellenund Entwicklungsländern besteht viel Nachholbedarf. „Size“ – wie groß ist die Stadt? Ab 2.000 Einwohnern gilt in manchen Ländern eine Ansiedlung per Defini14

tion bereits als Stadt, am oberen Ende der Skala sind es 20 Millionen Menschen und mehr. Urbanität und urbane Mobilität gibt es in Städten aller Größen, mit allen Ausprägungen von mäßig bis herausragend. Eine Erkenntnis mit Tragweite für die Untersuchungen: Städte einer bestimmten Größenklasse sind nicht identisch. „Relations“ – wie vernetzt ist die Stadt? Damit ist vor allem gemeint, welchen globalen Rang eine Stadt einnimmt und wie bekannt sie ist. Paris, Tokio, New York oder Shanghai haben ein markantes Image und sind international bekannt. Am anderen Ende der Skala stehen unbekannte Städte ohne herausragendes Profil. „Governance“ – wie wird die Stadt gesteuert? „Governance“ beschreibt, wie gut eine Stadt aufgrund gesellschaftlicher und politischer Instanzen in der Lage ist, sich zu einem beliebigen Zeitpunkt an neuen Zielen auszurichten – wie anpassungsfähig sie ist und zugleich, wie stark das Gemeinwohl vor Eigeninteressen steht. Skandinavische Städte haben eine starke „Governance“, aber auch Städte in autokratischen Systemen wie zum Beispiel in China. Die Städte am entgegengesetzten Ende der Skala entwickeln eine starke Eigendynamik zugunsten Einzelner, meist aufgrund wirtschaftlicher Interessen. Mithilfe dieser sechs Dimensionen haben die Berliner Forscher zahlreiche Städte auf allen Erdteilen betrachtet. „Daraus wurden dann die acht Stadttypen entwickelt, die es erlauben, die Verschiedenheit der urbanen Welt zu erfassen“, erläutert Stefan Carsten. Neben den vier bereits skizzierten Stadttypen gibt es noch die ­Typen „Classic Sprawl“, „Saturated Urbanity“, „Continuous ­Decay“ und „Desperate Stagnation“ (zur Erklärung siehe rechte ­Seite). differenzierte schlussfolgerungen Die Schlussfolgerungen aus den Untersuchungen für zukünftige Daimler-Produkte sind so differenziert wie die Stadttypen selbst. Da weisen die Forscher etwa dem Stadttyp „Compact Prosperous Variety“ einen ­rückläufigen Stellenwert des privaten Automobils zu und sehen zugleich neue Chancen für flexible Nutzungs­ modelle und Mobilitätsdienstleistungen, die verschiedene Verkehrsmittel verknüpfen. Der Stadttyp „Flourishing Suburbia“ steht für eine hohe Affinität und Nachfrage nach umwelt­freundlichen Antrieben bei stabiler Nachfrage nach Automobilen – oder der Stadttyp „Urban Aspirants“ für eine große Bedeutung des öffentlichen Nahverkehrs und zugleich große Chancen für eine fahrzeugbasierte Mobilität. Eine Zuordnung von Plänen für neuartige Fahrzeugkonzepte oder Dienstleistungen zu den Stadttypen oder Städten ist den Forschern nicht zu entlocken – es handele sich um wertvolles strategisches Wissen des Unternehmens. Es werde direkt den Produktentwicklungsabteilungen und dem strategischen Marketing zur Verfügung gestellt, etwa als Impuls bei der Suche nach interessanten Erweiterungen des Fahrzeugportfolios und der Auslegung zukünftiger Fahrzeuge, aber auch bei der Entwicklung neuer Mobilitätsdienstleistungen. Eine Aussage von dort lautet, dass es „Urban Fit“-Fahrzeuge geben wird – solche, die auf die Mobilität


Eine Typologie der Städte Die acht Stadttypen der DaimlerZukunftsforschung Desperate Stagnation (z. B. Kalkutta) Die bedrückende und   bedrückte Stadt mit nur geringen Entwicklungschancen.

Classic Sprawl (z. B. Las Vegas) Die wohlstands-

Urban Aspirants

erfahrene ­Vorortstadt

(z. B. Kuala Lumpur, Curitiba)

der westlichen Hemisphäre.

Die junge kompakte Stadt  auf dem ambitionierten Weg  in eine vielversprechende  urbane ­Zukunft.

Saturated Urbanity (z. B. Hamburg, Stockholm) Die traditionsreiche und   kompakte Stadt mit   un­gebrochener urbaner   Kontinuität.

Compact Prosperous Variety (z. B. Barcelona, Berlin, New York) Die kompakte, facettenreiche Stadt,  die dem Wandel der Zeit teils folgt, teils vorangeht und sich immer neu ­erfindet.

Striving Modernity (z. B. Delhi, Moskau) Die aufstrebende Stadt  auf traditionellen Wegen  der Modernisierung.

Continuous Decay (z. B. Bagdad) Die Stadt in fortschreitendem ­beständigem Verfall.

Flourishing Suburbia (z. B. San Francisco Bay Area) Eine blühende Siedlungs­landschaft, mit großem Raum, die sich immer wieder neu definiert.

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EINE GROSSSTADT IN ASIEN 2030   Eine asiatische Großstadt des Jahres 2030 in der Dämmerung, hochverdichtet und in die Vertikale strebend, da Platz knapp und teuer ist: Der Straßen­raum wird durch Mobilitätsachsen in höheren Ebenen ergänzt. Modernste Hochhäuser leuchten in grellen Farben um die Wette und säumen die Fahrbahn, die sich Autos, öffentliche Verkehrsmittel und Zweiräder teilen, mit diversen Antriebskonzepten ausgestattet. Eigene Fahrspuren sind fürs autonome Fahren reserviert. Dort rollt

t - Interview

»Städte sind das wichtigste ›Gefäß‹ für gelebte Welt.«

der Verkehr flüssig, und die Fahrer können sich anderen Aktivitäten zuwenden. Eine Hochgeschwindigkeitsbahn verbindet die Innenstadt mit anderen Verkehrsknoten wie etwa Flughäfen. Fußgänger flanieren neben der Straße und auf einer höheren Ebene, die in Form von Walkways und ­Brücken über der Fahrbahn angesiedelt ist. Wer nicht zu Fuß gehen will, kann für urbane Kurz- und Mittelstrecken auf diesem Walkway spontan auch kleine automatisch gesteuerte Kabinenfahrzeuge nutzen.

Stefan Carsten von der ­Daimler ­Society and Technology ­Research Group über die Zukunft der Städte.

Ein Wohnungsbesitzer ist gerade nach Hause gekommen und schwebt mit seinem Auto im Außenaufzug zu seiner Wohnung mit Car Loft empor.

einer Stadt ­maßgeschneidert sind, was innerhalb des Konzerns wiederum ein ganzes Portfolio von Fahrzeugen für die unterschiedlichen Stadt­t ypen bedeuten könne. Erkennbar sei zum Beispiel der Trend zu ­„Urban ­Micro E-Mobility“, also zu einer Kurzstreckenmobilität mithilfe kleiner Elektrofahrzeuge. smart als Marke von ­Mercedes-Benz Cars ist hier ein Vorreiter und bietet Produkte für eine lokal emissionsfreie Mobilität für kurze, mittlere und lange Distanzen: Neben dem smart fortwo electric drive gibt es bereits das ebike, und die Produktion des escooter mit batterieelektrischem Antrieb ist in Vorbereitung. An weiteren Innovationsimpulsen für die urbane Mikromobilität wird gearbeitet. „In unserem Projekt zur Stadttypologie geht es vor allem darum, ein Verständnis für die Vielfalt von Urbanität und deren Prägungskraft für die urbane Mobilität der Zukunft zu liefern“, fasst Ruff zusammen, „und dies sowohl für Personenkraftwagen, Nutzfahrzeuge, neuartige Fahrzeugkonzepte sowie Mobilitätsdienstleistungen.“ Zum Zweck detailreicher und lebhafter Visualisierung seien daraus die an einer möglichen Realität orientierten Szenariobilder entstanden – um die Vorstellungskraft für die Veränderungen des städtischen Umfelds und Innovationen in der Mobilität zu erhöhen. Ob es exakt so kommen werde? Ruff gibt zu bedenken: „Zukunft birgt immer wieder Überraschungen, aber wir haben bereits begonnen, sie in den beschriebenen strategischen Stoßrichtungen zu gestalten.“

HYPERLINK Weitere Informationen zu diesem Beitrag unter: technicity.DAIMLER.com/DE/zukunft-der-stadt

• INTERAKTIV Die Stadttypologie der Daimler-Zukunftsforscher interaktiv und animiert. • HINTERGRUND (1) Städte und ihre Gesetzmäßigkeiten. (2) „Urban Micro E-Mobility“: der Trend zur elektrischen Kurzstreckenmobilität

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in der Stadt.

Motivation Herr Carsten, was war der Auslöser dafür, dass sich Daimler mit einer Stadttypologie beschäftigt hat? Der Grund ist zunächst in ­unserem ­kontinuierlichen Interesse an Zukunfts­ themen zu finden. Das Team der Daimler-­ Zukunftsforschung beschäftigt sich ja mit den diversen Faktoren, die Einfluss auf künftige Produkte haben können, um ­daraus Empfehlungen für ­zukünftige Fahrzeug- und Mobilitätsoptionen ­abzuleiten. Städte sind für mich das wichtigste „Gefäß“ für gelebte Welt. Dort findet Leben statt, und Mobilität ist das alles verbindende Glied mit einer hohen zukünf­tigen Varianz. Deshalb haben wir Urbanität und urbane Mobilität über das Projekt zur Entwicklung einer Stadttypolo­ gie in den Mittelpunkt gerückt. Ihr Ziel ist es, insgesamt ein besseres Verständnis über die Ent­wicklungsperspektiven von Klein-, Mittel- und Großstädten zu erlangen. Denn auch in hochentwickelten Märkten entwickeln sich Städte kontinuierlich weiter.

TRENDS Welche Hinweise geben ­Statistikdaten für die Forschung? Sie haben einen zweiten wichtigen Grund geliefert, warum wir uns intensiv mit Städten beschäftigt haben. Denn um das Jahr 2008 gab es eine Zäsur statis­ tischer Natur: Damals durchbrach die Zahl der Menschen, die in Städten leben, erstmals die 50-Prozent-Marke. Anders gesagt: Mehr als die Hälfte der Menschheit lebt bereits heute in Städten. Und die ­Tendenz nimmt weiter zu. Die Vereinten Nationen schätzen, dass statt heute gut 50 Prozent der Menschheit im Jahr 2050 rund 75 ­Prozent aller Menschen in Städten leben werden. Das mag nach einer ent­ fernten Prognose klingen, das ist sie aber nicht: Sie betrifft bereits die nächste Generation.


Resultate Bitte beschreiben Sie das

tionen jeglicher Größe sehr aussagekräftig beschreiben lassen.

Ergebnis der Betrachtungen. Das Projektresultat war eine umfassende und sehr aussagekräftige Stadttypologie, die acht verschiedene Stadttypen umfasst. Sie ermöglicht, nahezu jede Stadt der Welt klar einzuordnen, also einem Stadttyp zuzuordnen. Das wiederum lässt uns gezielt Rückschlüsse auf das dortige Leben und damit auch auf Mobilität ziehen. Dabei ist die Typologie keinesfalls als Bewertungsskala zu verstehen, sondern sie ist ein Charakterisierungswerkzeug.

KoMPLEXITÄT Wie lange hat das Team an der Stadttypologie gearbeitet? Rund zwei Jahre haben wir intensiv daran gearbeitet. Aber mit Städten als Lebensraum beschäftigen wir uns schon seit den späten 1990er-Jahren, sonst wäre es in der Kürze der Zeit nicht möglich gewesen, eine derart komplexe Fragestellung zu beantworten. Es war interessant zu sehen, dass sich im Laufe der vergangenen Jahre auch die mediale Aufmerksamkeit immer stärker in Richtung der Städte verschoben hat.

DIMENSIONEN Welche Forschungen und Untersuchungen wurden für die Stadttypologie vorge­nommen? Eine Typologie ist immer nur so gut wie der Zweck, den sie erfüllen soll – in ­diesem Fall eine stärkere Klarheit über Städte als Lebens- und Mobilitätsraum der Zukunft zu gewinnen. Schnell wurde ­deutlich, dass es in diesem Projekt darum geht, die Bandbreite der unterschiedlichen Stadttypen darzustellen und jeden Stadttyp zu charakterisieren. Was ist bedeutsam, um Städte unterscheiden zu können? Welche Typen lassen sich identifizieren? Das waren Fragen, mit denen wir uns beschäftigt haben. Dazu haben wir eine Vielzahl von Einflussfaktoren benannt, mit denen sich nach unserer Überzeugung heutige und künftige Städte differenziert darstellen lassen. Diese Faktoren haben wir überführt in sechs Rubriken, von uns auch „Dimensionen einer Stadt“ genannt, mit denen sich urbane Agglomera-

curriculum vitae Stefan Carsten, Jahrgang 1973 promovierter Geograf seit 2000 bei der Daimler Society and Technology Research Group in Berlin seit 2009 im Forschungsnetzwerk thinkAUTO zur sicheren und nachhaltigen urbanen Mobilität seit 2010 Gastprofessor für sozialwissenschaftliche Zukunftsforschung an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig – Institut für Transportation Research (ITD) Arbeitsschwerpunkte in den Bereichen sozialwissenschaftliche Zukunftsforschung, Stadt- und Mobilitätsforschung, gesellschaftliche Trans­ formationsforschung

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MOBILITÄT Wo ist in den Stadttypen der Aspekt der Mobilität zu finden? Mobilität war bei allen Stadtbetrach­ tungen und auch beim Festlegen der Dimensionen stets unser Referenzaspekt, der direkt oder indirekt in allen Faktoren und damit in der gesamten Stadttypologie enthalten ist – denn einer umfassenden Mobilität gilt das Interesse von Daimler. Deshalb haben wir intensiv auch dazu Fragen betrachtet, beispielsweise: Wie sind unsere zukünftigen Kunden mobil? Für welche ­Einsatzzwecke benutzen sie ein Auto – heute und in Zukunft? Wie lange sind sie auf einzelnen Strecken unterwegs? Welche Durchschnittsgeschwindigkeiten werden erzielt? Dazu wurden auch Daten gezielt mithilfe von Aufzeichnungsgeräten erfasst. Daraus entstand ein sehr facettenreiches Mosaik von Mobilität, das wiederum mit unseren Zukunftserwartungen abgeglichen wurde. InnovationeN Können Sie einige Beispiele nennen, wie Mobilität in den Stadttypen enthalten ist? Jeder Stadttyp impliziert Mobilitäts­ szenarien und liefert damit ­Erkenntnisse für mögliche Produkte von Daimler. So hat das Automobil je nach Stadttyp eine unterschiedliche Bedeutung, auch mit einer Gewichtung von Antriebskonzepten wie etwa Elektroantrieb, Plug-in-Hybrid oder Gasmotor. Wir haben Hinweise auf ganz neuartige Fahrzeugkonzepte erhalten. Es hat Erkenntnisse gegeben, welchen Stellen­wert Mobilitätsdienstleistungen haben und ­welche es sein könnten. Und ­Hinweise auf die Aus­prägung des ­öffentlichen ­Personennahverkehrs je nach Stadttyp liefert uns die Stadttypologie auch. Diese Aussagen basieren auf Interviews und ­Studien, die vor Ort ermittelt worden sind, um beispielsweise Abschätzungen über die zukünftigen Stadt- und Verkehrs­ regulationen erhalten zu können.

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Bat t e r i e t ech nik

SPEKTRUM

Martin fritz Ostasien-Korrespondent der   WirtschaftsWoche und anderer Medien mit Sitz in Tokio Tokio, Japan

KIOTO, Japan

Das Zeitalter der elektrischen Antriebe kommt – sobald es Akkumulatoren gibt, die noch deutlich mehr leisten als aktuelle Lithium­-Ionen-Batterien. Nur mit einer Reichweite von mehreren Hundert Kilometern je Batterieladung schafft das Elektroauto den Durchbruch zum Massenfahrzeug. Daher ­arbeitet die Industrie auch in Ostasien fieberhaft an der Entwicklung kommender AkkuGenerationen. Ein Favorit ist die LithiumLuft-Batterie. Hier füllt Lithium als Anode die komplette Batteriezelle aus, als Kathode wirkt der Sauerstoff aus der Luft. Die Kon­ struktion ermöglicht eine 10-fach höhere Energiedichte als bisher. Ähnlich vielversprechend sind Natrium-Ionen-Zellen. Ein münzgroßer Prototyp aus Japan lieferte bereits 30 Prozent mehr Spannung als ein aktueller Lithium-Akku. Natrium ist in großen Mengen in Salzwasser gelöst und würde die Batteriekosten drastisch senken.

Singapur, Singapur

»Die neue Akku-Generation braucht neben einer hohen Leistungsdichte auch eine ausreichende Zahl an Lade­ zyklen und eine lange Lebenszeit.«

Im Akkord testen Chemiefirmen andere interessante Materialien als Elektroden und Elektrolyte. Einige setzen harten Kohlenstoff als Anode und ein Oxid auf der Basis einer Metallmischung als Kathode ein. Eine Testzelle erreichte schon 90 Prozent der Energie eines Lithium-Akkus. Aber die neue AkkuGeneration braucht neben einer hohen ­Leistungsdichte auch eine ausreichende Zahl an Ladezyklen und eine lange Lebenszeit. Die Kunst der Batterieforscher liegt darin, alle diese Forderungen unter einen Hut zu bringen. Angesichts von Aufwand und Anstrengung ist dies aber nur noch eine Frage der Zeit.

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Wachsen der M ar kt 500.000 Elektroautos werden laut einer Prognose von Roland Berger 2015 weltweit gebaut werden.

22 Prozent jährliches Wachstum erwartet das Yano Research Institute am Markt für Lithium-Akkus.

37.000.000.000 US-Dollar sollen im Bereich der Lithium-Akkus im Jahr 2015 global umgesetzt werden.


ASIEN OZEANIEN

500 Km / h Prototyp für magnetschwebebahn TOKIO, Japan   Die einzige Magnetbahn der Welt – abgesehen von der kurzen Transrapidstrecke in Shanghai vom Flughafen in die Stadt – entsteht gerade in Japan. Jetzt hat der Betreiber Central Japan Railway Company (JR Tokai) einen Prototyp für den ersten Wagen des Magnetzuges enthüllt. Die 16 Waggons eines einzelnen Zuges sollen rund 1.000 Passagiere aufnehmen können. Die erste Strecke führt von Tokio nach Nagoya und soll die aktuelle Reisezeit im Superschnellzug Shinkansen bei einer Geschwindigkeit von rund 500 Stundenkilometern von 90 Minuten auf nur noch 40 Minuten verkürzen. Die Fertigstellung des ersten Streckenabschnitts ist für 2015 geplant, die gesamte Strecke soll 2027 in Betrieb gehen. Nur China will hier mithalten und Japan sogar in Kürze übertrumpfen. Dort plant man eine Magnetbahn, die in einer Vakuumröhre fahren soll. Dadurch ließe sich die potenzielle Geschwindigkeit verdoppeln – auf bis zu 1.000 Kilometer pro Stunde. engadget.com

0,002 W

–20 °C

Winzige solarzellen in der kleidung Kioto, Japan

Kühlung durch Laserimpulse Singapur, Singapur

Japanische Wissenschaftler haben einen Stoff entwickelt, in den zahllose winzige Solarzellen eingewebt sind. Sie könnten unterwegs Strom für das Handy liefern und in Notfällen Energie für lebenswichtige Dinge erzeugen. Die in die Textilien eingearbeiteten Solarzellen des Startups Sphelar-Power in Kioto sind nur 1,2 Millimeter groß und nehmen aufgrund ihrer sphärenartigen Struktur mehr Sonnenlicht auf als flache Solarzellen. Die Elektroden sitzen auf der jeweils entgegengesetzten Seite der Körner. Bis zur Serienreife müssen die Forscher noch die Isolierung der Stromleitungen verbessern und das Gewebe haltbarer machen. Bis 2015 soll das gelingen. Das Spezialgewebe wurde zusammen mit dem Industrietechnologiezentrum der Präfektur Fukui entwickelt und kann mehrere Zehntausend körnerförmige Solarzellen enthalten. Jede Zelle liefert 0,002 Watt Strom an einem Sonnentag, der mithilfe einer Batterie für die Nacht gespeichert wird. Der Stoff ist so flexibel und faltbar, dass er sich auch für Vorhänge und andere gewerbliche Haushaltsmaterialien eignet.

Forscher der Nanyang Technological University NTU in  Singapur haben eine optische Kühltechnik präsentiert, die große und oftmals laute Kühlaggregate in Zukunft überflüssig machen könnte. In ihrem Experiment kühlten sie mit gezielten Laserimpulsen einen Halbleiter aus Kadmiumsulfid von plus 20 Grad Celsius auf minus 20 Grad Celsius ab. Damit ist der erste Beweis erbracht, dass sich Halbleiter durch das optische Verfahren abkühlen lassen. Noch weitaus tiefere Temperaturen sollen sich laut der Forscher mithilfe der Laser erzielen lassen. Die möglichen Anwendungsgebiete für die Technik sind  äußerst vielfältig: von Computerchips, die sich selbst kühlen und so die Lebensdauer von Batterien in portablen Endgeräten signifikant erhöhen, über den Verzicht auf Kühlmittel in Kühlschränken bis hin zu umweltfreundlichen, energie- und platzsparenden Kühlsystemen für medizinische Großgeräte, Satelliten oder Fahrzeuge. asianscientist.com

eetimes.com

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SPEKTRUM VÄSTERÅS, Schweden

GRAPHEN Jochen WITTMANN Seit 1993 freier Auslandskorrespondent für

HAMBURG, Deutschland

das Newsforum Eurotopics und zahlreiche deutsch­

Karlsruhe, Deutschland

sprachige Tageszeitungen mit Sitz in London

Aberporth, Großbritannien

Es verspricht, das Wundermaterial der Zukunft zu werden: Graphen könnte als Werkstoff zur Produktion von neuartigen Transistoren oder Solarzellen verwendet werden. 2004 wurden seine ­Eigenschaften von zwei Forschern der Universität von Manchester erstmals beschrieben. ­Andre Geim und Konstantin Novoselov erhielten dafür 2010 den Nobelpreis für Physik.

»Europa muss lernen, die wirtschaftlichen Früchte seiner Graphen-Forschung zu ernten.«

Drachensegel sparen Treibstoff Hamburg, Deutschland   Altbekannte Technologien müssen nicht zwangsläufig ausgedient haben.  In der Schifffahrt kommt es jetzt zu einer Rückkehr der Windkraft, der günstigsten und zugleich umweltfreudlichsten Energiequelle auf hoher See. Das Hamburger Unternehmen SkySails stattet große Frachtschiffe und kleinere Jachten zusätzlich zu ihren Antrieben mit riesigen Drachensegeln aus, wodurch zwischen 10 und 35 Prozent an Treibstoff eingespart werden sollen. Der von SkySails eingesetzte Zugdrachen generiert pro Quadratmeter Fläche bis zu fünfundzwanzigmal so viel Kraft wie konventionelle Segelantriebe. Gesteuert wird das riesige Segel von der Brücke des Schiffes aus, Start und Landung erfolgen teilweise automatisiert. Während des Flugbetriebs wird der Drache vollständig via Autopilot gelenkt. skysails.info

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Heute wird überall auf der Welt unter Hochdruck geforscht und entwickelt. Denn man ­erhofft sich von Graphen eine technologische Revolution. Das ist kein Wunder bei den ­erstaunlichen Qualitäten des Materials. Graphen ist nichts anderes als Kohlenstoff, ­allerdings nur eine Atomlage stark. Die zweidimensionale, bienenwabenähnliche Struktur gibt dem Material fantastische Eigenschaften: Es ist extrem leicht, extrem zugfest, extrem leitfähig und in der Fläche extrem steif, dazu noch transparent, hitzebeständig ­sowie gas- und flüssigkeitsundurchlässig. Soeben haben chinesische Forscher ­entdeckt, dass es auch noch bakterizid ist. Ende 2012 gab es weltweit in Sachen Graphen 7.351 Patente und Patentbewerbungen. Obwohl die Grundlagenforschung von Europa ausgegangen ist, gehen die meisten Patente – und damit die potenzielle Wertschöpfung – nach Fernost. Allein China hat 2.204 Graphen-Patente, während es in Südkorea 1.160 sind. In England wurden gerade einmal 54 Patente angemeldet. Jetzt hat die EU-Kommission eine Milliarde Euro für die Graphen-Forschung versprochen. Europa muss lernen, die wirtschaftlichen Früchte seiner Forschung zu ernten.


Europa

Ai rw r i t ing

144 M ill i ar den E -m ails

Schreiben ohne stift und tastatur Karlsruhe, Deutschland

Das Internet 2012 in Zahlen VÄSTERÅS, Schweden

Am Cognitive System Lab des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) haben Wissenschaftler ein System zur Bewegungserkennung entwickelt, dessen Prinzip in Zukunft die Benutzung von Tastaturen und Touchscreens zum digitalen Schreiben überflüssig machen könnte. Stattdessen kann dank eines am Handgelenk befestigten gyroskopischen Sensors einfach mit der Hand in die Luft geschrieben werden. Ein Computer erkennt die typischen Bewegungen und sogar die individuellen Unterschiede in der Schrift verschiedener Nutzer und setzt sie in digitale Texte um. Momentan ist der tragbare Teil des Systems noch in einen dünnen Handschuh integriert, die Forscher arbeiten aber an der weiteren Verkleinerung, damit die Sensoren etwa in einem unauffälligen Armband untergebracht werden können. Bei einer Integration in Endgeräte wie Smartphones könnte eines Tages dann selbst auf das Armband verzichtet werden. Außerdem muss die Schrifterkennung noch optimiert werden. Bisher können nur Großbuchstaben erkannt und in einen Wortschatz von rund 8.000 Wörtern umgesetzt werden.

F lug L a bor Unbemannte Luftfahrt Aberporth, UK   Das britische Luftfahrtkonsortium Astraea will Flugzeuge ohne Piloten in die Luft schicken. Das ­Unternehmen, an dem unter anderem BAE ­Systems und Thales beteiligt sind, arbeitet eng mit der britischen Luftaufsichtsbehörde zusammen und will Drohnen auch in der zivilen Luftfahrt ­etablieren. Nach erfolgreichen Testflügen über der irischen See sind weitere Versuche geplant, um zu beweisen, dass die Funksysteme und Sensoren an Bord des fliegenden Testlabors „Jetstream“ andere Flugzeuge selbstständig erkennen und eine Kollision vermeiden können. Ein zukünftiger Einsatz der Drohnen ist allerdings vorläufig nicht im Passagier-, sondern nur im Frachtflugverkehr geplant.

Rund 2,2 Milliarden Menschen auf der Welt versenden am Tag rund 144 Milliarden E-Mails. Leider sind mehr als zwei Drittel aller verschickten Nachrichten unerwünschter Spam. 634 Millionen Webseiten existierten zum Jahresende 2012, 51 Millionen davon sind innerhalb des Jahres neu hinzugekommen. 1,3 Milliarden Smartphones waren im Dezember weltweit im Einsatz – bei insgesamt 5,5 Milliarden  Mobiltelefonnutzern. Das sind nur einige der Kennziffern aus der alljährlichen Internetstatistik der Internetfirma Pingdom im schwedischen Västerås. Die USA behaupten dabei 2012 ihre Vormachtstellung im Web: 43 Prozent der eine Million größten Webseiten sind in den Vereinigten Staaten beheimatet. Auch bei E-Mail-Diensten sind die USA führend. Mit 425 Millionen Nutzern ist Gmail die Nummer eins bei den Mail-Anbietern, und mit mehr als 35 Prozent Marktanteil ist Mail auf ­Apples iOS-Geräten das populärste Mail-Programm der Welt. Bei der Zahl der individuellen Nutzer liegt Asien mit 1,1 Milliarden Menschen in Führung, gefolgt von 519 Millionen in Europa. Nordamerika findet sich mit 274 Millionen auf Platz drei. royal.pingdom.com

astraea.aero

kit.edu

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Cowo r k ing

SPEKTRUM

Steffan HEUER USA-Korrespondent für brand eins und   die deutsche Ausgabe von Technology Review, ­Fachgebiete: Hightech und Ökonomie

Kostenbewusste Start-ups leben nicht nur in der Cloud, sondern virtualisieren auch ihre Teams. Anstatt sich mit langfristigen ­Büromieten zu belasten, mieten sich Gründer in Coworking-Räumen ein. So senken sie ihre Fixkosten und schaffen spontane, aber wertvolle Verbindungen zu anderen ­Kreativen. Bestes Beispiel ist ein Coworking-Korridor, der in der Hightechhochburg San ­Francisco entstanden ist. Während es Erfolgsunternehmen wie Twitter in einen ehemals verwaisten Teil des Zentrums zieht, haben sich um die Ecke mehrere große CoworkingAnbieter angesiedelt. Bislang vier Firmen bieten Infrastruktur und eine Gemeinschaft Gleichgesinnter für Hunderte von Gründern –

»Die Zukunft der Arbeitswelt benötigt kreative Coworking-Spaces als dynamische Umschlagplätze.«

ganz zu schweigen von rund 20 weiteren Coworking-Räumen in der Stadt. Coworking ist weit mehr als ein flexibler Arbeitsplatz. Der größte Wert liegt in den zufälligen Begegnungen mit anderen Fachleuten. Sonst kultivieren große Unternehmen wie Google diese Kultur des innovativen Austauschs, um ihr Innovationstempo anzukurbeln. In der neuen Welt des Coworking ist der Ideenbasar die größte Attraktion für Kreative. Jeremy Neuner, Coworking-Pionier und CEO von NextSpace, legt diese Vision in seinem neuen Buch „The Naked Economy“ dar. Die Zukunft der Arbeitswelt, argumentiert er, wird von vergänglichen Teams geprägt sein, die sich für ein Projekt zusammenfinden und schnell wieder auf­lösen, sobald der Job erledigt ist. Und diese Arbeitswelt benötigt Coworking-Räume als dynamische Umschlagplätze.

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STANFORD, USA LAS VEGAS, USA

PITTSBURGH, USA

WASHINGTON D.C., USA

Cowo r k ing in Z ahlen 2.150 Coworking-Räume existieren heute weltweit.

53 Prozent der „Coworker“ sind selbstständige Berufstätige.

42.000.000 Selbstständige arbeiten heute in den USA.

24 Coworking-Räume gibt es allein in San Francisco.


Nordamerika

Soz i ale r R aum Roboter lernen soziales Verhalten Pittsburgh, USA   Forscher an der ­Carnegie Mellon University in Pittsburgh wollen Roboter mithilfe von Kameras zu besseren ­Zuhörern machen. Dazu rüsteten sie menschliche Probanden mit am Kopf montierten ­Videokameras aus, die immer dann aktiv wurden, wenn sich die Blicke mehrerer ­Gesprächsteilnehmer überschnitten. Dort muss, so die Schlussfolgerung, eine für die Unterhaltung wichtige Person stehen. Aus den gesammelten Daten kann ihre Software einen dreidimensionalen „Raum der sozialen Bedeutung“ konstruieren. Jeder ­Hotspot ist für Roboter wertvolles Anschauungs-  material. Wenn Maschinen solche „sozialen Signale“ besser verfolgen und deuten können, so hoffen die Wissenschaftler, sind sie in der Lage, sich zu einer Gruppe von Menschen oder anderen Maschinen zu gesellen und zu lernen, den richtigen Gesprächspartner auszuwählen.

1,6 Pe ta by t es

∅ 4 me t e r

Supercomputer für strömungssimulationen STANFORD, USA

Aufblasbare Raumkapseln LAS VEGAS, USA

Computerwissenschaftler der Universität Stanford im USBundesstaat Kalifornien können sich rühmen, einen der größten und schnellsten Supercomputer gebaut zu haben. Der Rechner besteht aus knapp 1,6 Millionen Prozessoren und besitzt 1,6 Petabytes oder 1.024 Terabyte Speicherkapazität. Der IBM Sequoia dient dazu, komplizierte Simulationen für Strömungsdynamik durchzuführen, insbesondere den Lärm eines Überschalljets zu modellieren. Ziel des Forschungsprojektes im Lawrence Livermore National Laboratory ist es, im Rechner Triebwerke zu entwickeln, die weniger Lärm verursachen als die herkömmlicher Flugzeuge. Streng genommen ist der Supercomputer ein ausgeklügeltes Netzwerk, bei dem jeder Prozessor mit jeweils zehn anderen vernetzt ist. Der größte Supercomputer ist Sequoia allerdings nicht. Diese Ehre gebührt einem Rechner namens Titan, der in einem US-Labor in Oak Ridge, Tennessee, steht. engineering.stanford.edu

RANG EINS Silicon Valley führt bei Patenten Washington D.C., usa   Keine andere Region in den USA bringt mehr Patente pro Arbeitnehmer hervor als das Silicon Valley rund um San Jose. Nach einer Erhebung der Denkfabrik Brookings ­Institution in Washington D.C. liegt die High­techhochburg im Landkreis Santa Clara damit unangefochten an der Spitze, und zwar seit 1988 ohne Unterbrechung Jahr für Jahr. Das Silicon Valley erzeugte im vergangenen Jahr 12,57 Patente pro Arbeitnehmer – vor allem aufgrund der ungebrochenen Innovationskraft dort beheimateter Firmen wie Apple, Cisco, IBM und Hewlett-Packard. An abgeschlagener zweiter Stelle liegt die Region Corvallis südlich von Portland im Bundessstaat Oregon mit 5,27 Patenten. Die Bay Area, also der Großraum zwischen San Francisco, Oakland und San Jose, folgt erst auf Rang sechs.

Mit einer Billighotelkette wurde der Unternehmer Robert Bigelow auf Erden reich. Jetzt wird sein Traum, eine aufblasbare Herberge für den Weltraum zu bauen, endlich Realität. Nachdem zwei seiner Module bereits seit 2006 in der Erdumlaufbahn Testkreise ziehen, hat die Weltraumbehörde NASA mit Bigelow einen Vertrag abgeschlossen, Mitte 2015 eine „Beam“ genannte, aufblasbare Raumkapsel als Teil der internationalen Raumstation ISS zu testen. Bigelow Aerospace hat bisher rund 250 Millionen USDollar in die Vision vom Weltraumgeschäft investiert. Neben dem Abkommen mit der NASA hat das Unternehmen vorläufige Verträge mit sieben anderen Raumfahrtbehörden von Singapur bis Schweden unterzeichnet. Am Ende steht das Ziel, die aufblasbaren Kapseln an Forschungseinrichtungen und Unternehmen zu vermieten, die dort Produkte testen, Experimente durchführen oder Astro­ nauten unterbringen wollen. Gebaut werden die „Beams“, die einen Durchmesser von vier Metern haben, in einem eigens errichteten Werk in Las Vegas.

brookings.edu bigelowaerospace.com

cmu.edu

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Au tomob i le Komfort zone

Umfassender Komfort macht das Auto zum Partner des ­Menschen. ­Aktuelle Aufgabenstellungen ­betreffen unter anderem die nahtlose Integration digitaler Endgeräte.

Text Peter Thomas ILLUSTRATION Bernd Schifferdecker

E

ine Autofahrt wird auch in Zukunft mit dem Einsteigen beginnen: die Tür öffnen (oder sich vom Auto öffnen ­lassen), die Sitzposition hinter dem Lenkrad einnehmen (oder hinter dem jeweiligen Steuerinstrument), den ­Motor anlassen (oder das aus mehreren Aggregaten unterschiedli­ cher Prinzipien bestehende Antriebssystem starten) – und sich wohl­ fühlen. Der Wunsch des Menschen nach Komfort im Fahrzeug ist so alt wie das Automobil selbst, und er betrifft die luxuriöse ­Limousine genauso wie Sportwagen, Van und Nutzfahrzeug. Komfort hat nicht unbedingt etwas mit Luxus zu tun, sondern mit der Erfüllung emotionaler Erwartungen nach so unterschiedlichen Faktoren wie Sicherheit und Geborgenheit, nach Leistung und Fahr­ dynamik, nach intelligenter Unterstützung durch das Fahrzeug und technischen Schnittstellen zu den alltäglichen Kommunikations­ systemen. Jede Epoche hat dabei den Designern und Ingenieuren ei­ gene Ziele gesetzt – und entsprechend groß ist die Bandbreite der technischen Lösungen, die den automobilen Komfort vorangetrieben haben. Mit jeder Fahrzeuggeneration ist ganzheitlicher Komfort für die Daimler-Ingenieure und -Designer ein zentraler Wert bei ihrer Arbeit am Auto der Zukunft. Das betrifft die Vernetzung der aktiven und pas­ siven Assistenzsysteme zum „Mercedes-Benz Intelligent Drive“ ­genauso wie innovative Ansätze für die Gestaltung der Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine, um die zunehmend komplexen ­Systeme sicher beherrschen zu können. Komfort bedeutet deshalb in Zukunft beispielsweise auch Reduk­ tion: Klarheit und Ruhe werden den Fahrern im Innern des Wagens empfangen; statt einer Sinfonie von Informationen, Statusmeldungen und der Aufforderung zur Interaktion wird der Mensch eine perfekt auf ihn abgestimmte Welt erleben. Faktoren wie Kommunikations­ einstellungen, Mediennutzung, Ergonomie, Klimatisierung und Licht­ führung passt der Wagen selbstständig an seine individuellen ­Vorlieben und die jeweilige Situation an, alles Weitere lässt sich auf intuitive Weise einstellen. Komfort als historische Konstante der Automobilentwicklung

Schlüsselwörter

Intelligent Dr i v e Ga nzheitlicher Komfort Assistenzsysteme Inter ieur Komfortempfinden

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Dass sich solche intelligent vernetzten Assistenzsysteme selbst­ ständig organisieren, erinnert an die Prinzipien der vierten industriel­ len Revolution: Nach den Epochen von Antriebsmaschine (im Auto steht dafür vor allem der Verbrennungsmotor), arbeitsteiliger Produk­ tion (diese spiegelt sich in der schnellen und bezahlbaren techni­ schen Evolution des Kraftfahrzeugs durch Serientechnik wider) und Digitaltechnik (Elektronik als Wegbereiter von automobiler Assistenzund Kommunikationstechnik) zeichnet sich heute in der Industrie ein Zeitalter dezentraler, vernetzter und auf selbstständigen Kommunikations­prozessen basierender Produktion ab. Das Auto der Zukunft wird ähnliche Funktionalitäten erhalten und mit einem neuen Niveau der ­Unterstützung des Fahrers eine besondere Qualität ­ganzheitlichen automobilen Komforts bieten. Auch das Verhältnis zwischen Fahrer und Fahrzeug ändert sich bei diesem epochalen Wandel: „Das Auto wird für den Nutzer immer mehr zu einem Partner“, sagt Hartmut Sinkwitz, Leiter Interieur-­ Design von Mercedes-Benz. Dieser Partner auf vier Rädern lernt die Präferenzen des Fahrers kennen und kann ihm so zahlreiche ­Aufgaben abnehmen, ohne dabei die Entscheidungsmöglichkeiten des Men­ schen zu beschneiden. „Von der Rolle des Maschinisten, welche uns die ersten Fahr­ maschinen kurz nach der Erfindung des Automobils noch zugedacht


Neue Powernap-Möglichkeiten

Neue Audiofunktionen

sorgen für schnelle Erholung für Körper und Geist.

werden zum wichtigen Wohlfühlbestandteil.

Stimulierende und beruhigende Düfte geben zusätzlich fit machende Impulse.

Neue Klimatisierungsfunktionen für eine noch angenehmere Atmosphäre im Innenraum.

Massagesitz mit deutlich mehr funktionen ermöglicht spürbare körperliche Erholung durch Rückenmassagen.

Personal Coach  Das Konzept AktivKomfort von Mercedes-Benz – definiert als „­leistungssteigernder Komfort“ – sorgt für ­Wohlfühlen, Erholung und damit Fitness im Fahr­ zeug. Das Automobil wird mit neuen aktiven und passiven Funktionen zum Personal Coach.

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Mercedes-Benz Intelligent Drive mit neuen Assistenzsystemen

Verkehrszeichen-Assistent mit erweiterter Funktionalität. COLLISION Prevention Assist Die radargestützte Kollisionswarnung mit adaptivem Brems­ assistenten verringert die Gefahr eines Auffahrunfallls deutlich. BAS PLUS mit Kreuzungsassistent erkennt Gefahrensituationen auch an Kreuzungen mit Quer­ verkehr und warnt optisch und akustisch. Attention assist warnt in einem erweiterten Geschwindigkeitsbereich und mit ein­ stellbarer Empfindlichkeit vor Unaufmerksamkeit und Müdigkeit.

Aktiver Park-Assistent ermöglicht automatisches Einparken mit aktiven Lenk  Intelligenter Fahren  Neue und optimierte Fahrassistenzsysteme wie in der neuen Mercedes-Benz E-Klasse und der k­ ommenden S-Klasse sorgen dafür, dass Komfort und Sicher­ heit immer mehr miteinander verschmelzen. ­Mercedes-Benz nennt dies „Intelligent Drive“.

und Bremseingriffen. Aktiver Spurhalte-Assistent kann belegte Nachbarspuren erkennen und bei ­Kollisionsgefahr unbeabsichtigtes Spurverlassen durch einseitige Bremsung verhindern.

Hochmoderne Sensoren und Algorithmen sind die

DISTRONIC PLUS mit lenkassistent

Basis für ein neues Sicherheits- und Komfort­

entlastet den Fahrer bei der Spurhaltung und beherrscht

gefühl am Steuer.

teilautonomes Staufolgefahren.

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Rückfahrkamera unterstützt beim Einlegen des ­Rückwärtsgangs ­Park- und ­Rangiervorgänge. 360-Grad-Kamera hat alle vier Fahrzeugseiten im Blick und ermöglicht eine ­homogene Rundumsicht inklusive virtueller Vogel­ perspektive. Dynamische Hilfslinien helfen beim Parken und Rangieren.

h­ aben, entfernt sich der Fahrer heute weiter als je zuvor“, erklärt Sinkwitz. Die automobilen Komfortfeatures kommender Jahre schei­ nen heute denn auch als Echo dessen, was der Philosoph Eduard Graf Keyserling bereits 1905 über die Psychologie des Komforts ­formulierte: „Wir wollen Sachen [...], die mit uns Freundschaft ­schließen, aber eine Freundschaft, die wunderlich eigennützig unse­ rerseits, ganz dienend von Seiten des anderen ist.“ Der Diskurs über den Komfort ist also kein neues Phänomen. Und das Streben nach automobilem Komfort durchzieht denn auch die Entwicklungsgeschichte des Kraftfahrzeugs als Konstante. Gerade für Daimler-Ingenieure und -Designer ist das kontinuierliche ­Optimieren dieses Wertes eine stets aktuelle Herausforderung gewesen, seit Carl Benz und Gottlieb Daimler im Jahr 1886 unabhängig voneinander das Automobil erfunden haben. Verändert hat sich in dieser Zeit nie das Ziel an sich, sondern die jeweilige Definition von automobilem ­Komfort vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Entwicklung des ­Straßenverkehrs, des aktuellen Stands der Fahrzeugtechnik und der typischen Fahrsituation. Komfortable Entwicklungsgeschichte Schon die Integration des schnell laufenden Verbrennungsmotors in ein Straßenfahrzeug war 1886 ein entscheidendes Komfortmerk­ mal im Vergleich zu bisherigen Mobilitätsangeboten. In den Jahrzehn­ ten nach dieser Geburtsstunde des Automobils strebten die ­Ingenieure nach immer besseren Fahreigenschaften, höherer Leistung und mehr Sicherheit – außerdem ging es darum, die Leistungsfähigkeit des ­Fahrers zu erhalten und zu verbessern. Der Mercedes 35 PS aus dem Jahr 1901 mit niedrigem Schwerpunkt, langem Radstand und weg­ weisender Antriebstechnik gilt heute als erstes modernes Automobil überhaupt – er setzte seinerzeit auch Maßstäbe für den Komfort. Fahrzeuge von Mercedes-Benz haben seither immer wieder Maß­ stäbe für den automobilen Komfort mit seinen verschiedenen Facet­ ten gesetzt, insbesondere die der Oberklasse: Das trifft auf die luxu­ riösen Repräsentationsfahrzeuge vom Typ 770 „Großer Mercedes“ oder die legendären Kompressorsportwagen der späten 1920er- und frühen 1930er-Jahre zu, aber auch auf den Typ 170 von 1931, der als erster Großserienpersonenwagen vier einzeln aufgehängte Räder hat. Nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert der Mercedes-Benz Typ 300 einen neuen Standard einer neuen Repräsentationslimousine, und die Baureihe W 180 als Vorläufer der S-Klasse bietet 1954 durch ­ihren von der Karosserie entkoppelten Fahrschemel und die neue ­Eingelenk-Pendelachse eine bisher unerreichte Laufruhe. Weitere ­Wegmarken der Daimler-Komfortentwicklung sind unter anderem Servolenkung und Luftfederung (1961), Raumlenker-Hinterachse (1982) und Active Body Control ABC (1999). Einen Vorgeschmack darauf, wie die ablenkungsfreie Steuerung umfangreicher Fahrzeugfunktionen in kommenden Baureihen tech­ nisch gelöst werden kann, geben regelmäßig die Forschungsfahrzeuge und Studien von Mercedes-Benz. So zeigt bereits 2011 der F 125! mit dem visionären System „@yourCOMAND“, wie Telematikfunktionen durch Gesten und Wörter sowie 3-D-Effekte in der Bildschirmdarstel­ lung gesteuert werden können. Auf komplexe Manöver mit Tastaturen und anderen Eingabegeräten lässt sich so verzichten. Zudem trägt die selbstständig organisierte Car-to-X-Kommunikation des Fahrzeugs zur Entlastung des Fahrers bei. Und das 2007 im Forschungsfahrzeug F 700 präsentierte aktive PRE-SCAN-Fahrwerk vermisst mit Lasersen­ soren die Straßenoberfläche, um das Aktivfahrwerk für ein besonders ruhiges Fahrverhalten perfekt einzustellen.

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Der technische Unterschied zwischen den jungen Forschungs­ fahrzeugen F 125! sowie F 700 und dem Mercedes 35 PS aus dem Jahr 1901 ist gewaltig – das betrifft auch den automobilen Komfort. Aus heutiger Sicht scheinen über 100 Jahre alte Kraftfahrzeuge auf den ersten Blick sowieso extrem unkomfortabel. Doch stimmt das? Kann nicht gerade die strikte Reduktion eines Oldtimers auf das tech­ nisch Notwendige einen besonderen Reiz ausmachen? Die Konjunk­ tur der Kultur historischer Automobile zeigt, wie die Kargheit eines schönen und seltenen Klassikers die Sehnsucht nach der Essenz des Automobils genauso befriedigen kann wie das Fahren in einem aufs Wesentliche reduzierten Supersportwagen. Beide Erlebnisse bieten auf ihre Weise einen hohen emotionalen Komfort. Komfort, dieser so wichtige Faktor für die Wertschätzung eines Autos, lässt sich nicht in absoluten Werten messen. Es gibt keine feste Formel für seine Berechnung, keine festgelegten Kriterien. Das liegt zum einen daran, dass sich das Automobil zu einer vielfältigen Welt verschiedener Fahrzeugtypen entwickelt hat und sich immer weiter ausdifferenziert. So erwarten Fahrer und Passagiere in einer Luxuslimousine ein optimal abgestimmtes Fahrverhalten, eine perfek­ te Ergonomie, eine ruhige und gediegene Atmosphäre sowie eine möglichst umfassende Unterstützung durch die technischen Syste­ me. Zur gleichen Zeit aber können in einem Sportwagen die härter abgestimmte Federung und die imposante Geräuschkulisse zu den positivsten Elementen des individuellen Komfortempfindens gehören. Ein Hersteller wie Mercedes-Benz, der eine umfassende Palette von Fahrzeugklassen anbietet, muss also für jede Baureihe und jeden Fahrzeugtyp ein individuelles Konzept optimalen Komforts definieren. Eine die verschiedenen Baureihen der Marke umfassende Klammer stellt dabei das Angebot modernster technischer Systeme in Berei­ chen wie Sicherheit, Kommunikation und Ergonomie als Kernpunkte modernen automobilen Komforts dar. Komfortempfinden ist ein ­Konzert der Emotionen Wie schwer der Komfortbegriff mit konkreten Faktoren zu f­assen ist, zeigt sich schon in der gängigen Praxis, Komfort als die Abwesenheit von störenden und unangenehmen Empfindungen zu beschreiben. Der Schlüssel zum menschlichen Komfortempfinden liegt eben in Emotionen, nicht im rationalen Abgleich von Daten. ­Diese Art der Wahrnehmung läuft zu einem großen Teil unbewusst ab, erklärt René Hurlemann, der an der Universität Bonn die Forschungs­ gruppe „Neuromodulation von Emotionen“ (NEMO) leitet: „Die exter­ nen Reize durchlaufen zunächst eine Kaskade von Verarbeitungs­ prozessen, bevor sie uns als Gefühl bewusst werden“, ­erklärt der Neurowissenschaftler. Hinzu kommt, dass Gefühle selten linear verarbeitet werden. Die Emotion der Behaglichkeit beispielsweise, die ein wichtiger Faktor der Komfortwahrnehmung ist, setzt sich aus verschiedenen Komponen­ ten zusammen, erklärt Hurlemann: Erstens sind die Alarm­zentren (Teilbereiche von Hirnstamm und Amygdala) vermindert aktiv, und die Körperwahrnehmungszentren (insbesondere Insula) signalisieren ­vegetative und muskuläre Entspannung. Zweitens vermittelt die Mehraktivierung von Zentren im Mittelhirn (insbesondere Striatum) Belohnungseindrücke. Und drittens erzeugen bewusstseinsnahe Be­ wertungs- und Kontrollinstanzen (insbesondere Unterbereiche des präfrontalen Cortex) Gefühle von Sicherheit, Vertrauen und Behag­ lichkeit. Als Partitur in diesem Konzert der Emotionen dient dem menschlichen Gehirn auch die eigene Erinnerung: So wird beispiels­ weise oft ein spezifischer Geruch mit erinnerten Emotionen aus Kind­ 28

heitstagen – positiven wie negativen – verbunden. Bei wegweisenden Studien wie dem „TopFit -Truck“ setzt Daimler daher im Bereich des Komforts auch auf Dufterzeugung in der Nutzfahrzeugkabine, um ­positive Stimmungen zu fördern. Markenwert in der digitalen Welt Was einen hohen automobilen Komfort für das Individuum aus­ macht, bestimmen immer auch die Rahmenbedingungen: Straßen­ qualität, Verkehrsdichte und die allgemeine Entwicklung der Mobili­ tätssysteme, die aktuellen ökologischen und sozialen Diskurse, aber auch technische Innovationen, Design, Mode und populäre Kultur lie­ fern dem Menschen Impulse, die seine Wahrnehmung beeinflussen. Auch ­Klima, Geografie und lokale Kulturtraditionen spielen hier eine ­wichtige Rolle. So wird der Fahrer in einer aufstrebenden asiatischen Megacity andere Anforderungen an den Komfort seines Fahrzeugs stellen als der Kunde, der im suburbanen Raum eines nördlichen ­Industrielandes unterwegs ist. Im Zentrum steht dabei stets die ­Forderung der bestmöglichen Unterstützung des Fahrers durch das Auto – oder, wie es Keyserling 1905 am Beispiel eines Landhauses ­formuliert, eine „Maschinerie der Lebensharmonie“. Dennoch sieht Hartmut Sinkwitz keine einschneidenden Unter­ schiede zwischen den Komfortwünschen der Mercedes-Benz Kunden in verschiedenen Weltregionen. Entscheidend ist aber, dass der spe­ zifische Komfort eines Mercedes-Benz von Kunden in allen Kultur­ kreisen als eigenständiger Wert geschätzt wird, erklärt der Designer: „Fahrzeuge von Mercedes-Benz sind ein starkes Statement, das in ganz unterschiedlichen Kulturen eine sehr starke Strahlkraft besitzt.“ Und zu den Quellen dieser Faszination gehört die markentypische Feinarbeit an technischen Details, die zum Komfort einer Fahrzeugge­ neration beitragen. „Beispielsweise ist das Grafikdesign der Benutzer­ oberflächen in der kommenden S-Klasse von einer starken Ästhetik der gestalterischen Ruhe geprägt“, sagt Hartmut Sinkwitz, „auch ­damit trägt Mercedes-Benz zur Entlastung und Entspannung des ­Fahrers bei.“

HYPERLINK Weitere Informationen zu diesem Beitrag unter: technicity.Daimler.com/DE/komfortzone

• INTERVIEW René Hurlemann (Universität Bonn) über das menschliche ­Komfortempfinden. • VIDEO Mercedes-Benz Intelligent Drive: wie Komfort und Sicherheit miteinander verschmelzen.


Drei Fragen an

Hartmut SINKWITZ, Leiter Interieur-Design bei Mercedes-Benz Kultur Herr Sinkwitz, unterscheiden sich Anforderungen an den automobilen Komfort in verschiedenen Kulturkreisen? Es gibt zahlreiche spezifische ­Ansprüche, die auf geografische Rahmen­ bedingungen und kulturelle Traditionen zurückgehen. In unterschiedlichen Regionen der Erde haben sich sogar typische Zugänge zur digitalen Welt und bestimmte Umgangsformen damit entwickelt. Hier müssen Interfaces im Auto den Vorlieben Rechnung tragen. Aber das Automobil ist vor allem ein internationales Konsumgut mit eigenständigem Charakter. Deshalb überwiegt die Übereinstimmung in den Wünschen der internationalen Käufer ganz erheblich die regionalen Unterschiede.

Werte Die Kunden schätzen gerade die PRE-SAFE ® Impuls Erweiterte Schutzfunktionen des Frontsicherheitsgurts.

PRE-SAFE ® PLUS kann eine drohende Heckkollision erkennen und löst Insassen­ schutzmaßnahmen aus.

MAGIC Body control Die kamerabasierte Fahrwerkstechnologie kompensiert bereits vorausschauend Unebenheiten der Fahrbahn.

Adaptiver Fernlicht-Assistent PLUS ermöglicht blendfreies Dauerfernlicht durch Ausblenden anderer Fahrzeuge im Fernlichtkegel. PRE-SAFE ® Bremse kann Fußgänger erkennen und Kollisionen durch autonome Bremsung vermeiden.

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deutschen Werte eines Mercedes-Benz? Kunden in China etwa sagen uns regel­ mäßig, dass sie gerade den Charakter der Fahrzeuge von Mercedes-Benz als Produkte einer starken deutschen Marke schätzen. Man kann sagen, dass hier der gezielte Konsum eines mit besonderen Werten ver­ bundenen Markenprodukts zum individuel­ len Komfort des Käufers gehört.

Digital Auf welche Komfortfeatures werden Kunden in Zukunft einen besonders großen Wert legen? Der Megatrend wird die nahtlose digitale Vernetzung des Fahrers mit dem Auto sein. Heute sind wir im Fahrzeug noch indirekt ab­ hängig vom Handy, um uns mit dem Internet zu verbinden. Künftig wird das Auto selbst zum digitalen Medium, das Informationen aus dem Internet bezieht und mit anderen Fahr­ zeugen und der Infrastruktur kommuniziert, ohne den Fahrer zu beanspruchen. 29


For sche n für me hr Fa hr s pa SS

Fahrspaß ist ein wichtiger Faktor bei der Auswahl und dem Gebrauch eines Auto­mobils. Durch welche Faktoren er beeinflusst wird – das war Gegen­ stand einer wissenschaftlichen Unter­ suchungsreihe der Daimler-Forscher.

Text Andreas Kunkel


Schlüsselwörter mimik er fassung emotionsforschung PH ysiologische r ea ktionen Fa hr erty pus stimmeigensch a ften

E

ine Fahrt mit dem Automobil ist weit mehr als nur die Überwindung einer Distanz von A nach B, um Dinge zu transportieren und Menschen zusammenzubringen. Was aber ist dieses „Mehr“? Wovon wird es beeinflusst? Und warum zeichnen sich Premiumfahrzeuge in besonderer Art und Weise dadurch aus, dass ihre Entwickler nicht nur Sicherheit und Zuverlässigkeit zu ihren Maximen erklärt haben, sondern auch Lebensgefühl, Stil und „Fahrspaß“ im Blick haben, kurz all das, was wir unter Komfort verstehen? Um zu bestimmen, wie sicher ein Fahrzeug ist, reicht es im Grunde aus, technische Daten zu erfassen und zu verifizieren, auch wenn dies schwierig und technisch hochkompliziert ist. Selbst im Bereich Komfort gibt es mittlerweile Kriterien, die sich messen lassen, um Vergleichswerte zu generieren und Fahrzeuge weiterzuentwickeln. Diffiziler ist dies allerdings mit gleichfalls wichtigen, aber eben „weichen“ Faktoren wie Fahrspaß. In einer bislang einmaligen Pilotstudie haben Psychologen, Informatiker und Ingenieure des Mercedes-Benz ­Customer Research Center (CRC) in Böblingen erforscht, ob und wie sich Fahrspaß messen und sich die Attraktivität von Fahrzeugen weiter steigern lässt. Kurz: Gesucht wurde die Formel für den Fahrspaß. „Freude zu messen ist eine Wissenschaft für sich“, sagt der Psychologe Götz Renner, Leiter des Customer Research Center. Im Gegensatz zu negativen Begleit­ erscheinungen des Autofahrens wie etwa Ermüdung oder Stress, die man mittlerweile recht gut messen kann, gibt es bei „Spaß“ keinen eindeutigen Wert, den man erfassen könnte. Die menschlichen Gefühle sind zu komplex. „Um festzustellen, wie und warum sich positive Erregungen beim Autofahren steigern lassen, mussten wir diesem Problem mit einer Kombination von unterschiedlichen Messmethoden begegnen“, erklärt Renner. Deshalb sollten verschiedene Verfahren wie beispielsweise Mimikerkennung, Stimmanalyse und psychologische Befragung zunächst auf Praktikabilität und Aussagekraft hin getestet werden, um dann erste Ergebnisse daraus ableiten zu können. Dabei arbeiteten die Wissenschaftler des CRC intensiv mit Fachleuten des Fraunhofer-Instituts für Grafische Datenverarbeitung IGD in Rostock und der Technischen Universität München zusammen.


MIKROSKOP

Der mitfühlende ­Computer  Neueste Forschungsansätze zeigen, dass ­Maschinen den Menschen künftig immer besser verstehen ­werden. Einige mögliche Vorteile: So ­könnten Sprachhotlines die Verärgerung von Kunden erkennen und angemessen reagieren. Computerspiele würden sich je nach Gemütszustand weniger ­beängstigend oder anspruchsvoll zeigen. Vor allem aber beim ­professionellen Kontakt zwischen Mensch und Maschine wird das zuverlässige Erkennen von ­Emotionen immer wichtiger. So könnte der Flugzeugbordcomputer beispielsweise einen gereizten K ­ apitän besänftigen. Ähnlich könnte es auch im Fahrzeug aussehen: Das Erkennen beispielsweise von Ärger oder Irritationen des Fahrers könnte Sicherheitsoder Fehlerlösungsprogramme aktivieren und etwa beruhigende oder anregende Musik einspielen, das Sprachverhalten des Navigationsgeräts anpassen und sogar Notrufsignale senden.

verärgert glücklich traurig überrascht neutral

MESSGERÄTE UND VIDEOKAMERA ALS TESTFAHRTBEGLEITER Als Testwagen für die Fahrspaßuntersuchungen wurden zwei verschiedene Mercedes-Benz Modelle ausgewählt: ein aktuelles Fahrzeug der C-Klasse und ein Vorgänger, der Mercedes-Benz 190 E aus dem Jahr 1982. Beide Fahrzeuge wurden mit einer Freisprecheinrichtung (Mikrofon), Fahrdynamikmessgeräten, Kontakten für physiologische Messgeräte etwa zur Messung des Herzschlages oder der Hauttemperatur und einer Videokamera ausgestattet. Danach konnten acht Testautofahrerinnen und -auto­ fahrer ein spezielles Fahrzeugerprobungsgelände in Boxberg nahe Würzburg nutzen und unterschiedliche Strecken wie Landstraßen, Autobahnen und Kurvenparcours befahren. Neben der „live“ vorgenommenen Messung ihrer physiologischen Reaktionen, der sprachlichen Erregung und der Mimik 32

wurden alle Probanden nach ihren Testfahrten von den Forschern intensiv nach ihren Eindrücken befragt. „Erstaunt hat uns dabei, dass sportliche Motive im Schnitt nicht zwangsläufig oben auf der Agenda der ‚Spaßfaktoren‘ stehen“, erklärt Martin Tischler vom CRC. Geschwindigkeit und Beschleunigung bescheren den Fahrern also nicht ­zwangsläufig

»Sportliche Motive s­ tehen nicht zwangsläufig oben auf der Spaßskala.« gute Laune. Im Vordergrund steht meist das ­entspannte, gleichmäßige, aber zügige Fahren bei entsprechender Kraftentwicklung. Überraschend sei es auch gewesen, wie sehr die Straßenlage eines Wagens dazu

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beitragen kann, die gewünschte „Fahrlaune“ zu ­erzeugen. „Bei den emotionalen Einflussfaktoren liegen Fahrwerk und Motorleistung ganz weit vorn“, sagt Tischler. Um die Tests zu perfektionieren und wissenschaftlich so weit wie möglich plausibel zu machen, setzte das Team leistungsfähige Hard- und spezielle Software ein. „Dass sich Spaß, genau wie andere grundlegende ­Emotionen, an den Gesichtszügen eines Menschen ablesen lassen, ist jedem einleuchtend“, erklärt Tischler. Das Problem aber ist, Mimik möglichst automatisiert analysieren zu können: Ein Informatikteam um Bernd Radig von der Technischen Universität München hat dafür ein System entwickelt. Damit können Kamerabilder so ausgewertet werden, dass jeder der 140 für die Mimik relevanten Gesichtspunkte erfasst und in seiner Bewegung erkannt wird. Bei einem ­Lachen beispielsweise bewegen sich die Mundwinkel Richtung Ohren, beim Erstau-


verärgert

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neutral

5 %

nen formen sie eher ein „O“ und die Augen weiten sich. Werden bestimmte vorab definierte Grenzwerte überschritten, erkennt das eingesetzte Rechenprogramm diese ­Regungen und versteht die Gefühlsäußerung, zumindest im Grundsatz. „Derartige Reaktionen sind zwar in jedem Kulturkreis gleich und damit unverwechselbar, das Problem ist aber, dass die Mimik bei Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt ist, auch wenn sie mit vergleichbarer Gefühlsintensität reagieren“, sagt Radig. ALGORITHMEN ERFASSEN GEFÜHLSREGUNGEN Deshalb mussten die Wissenschaftler jeden der Probanden bitten, sich zunächst neutral zu verhalten oder gezielt Reaktionen zu zeigen, um die Messinstrumente auf die Intensität seiner körperlichen Gefühls­ regungen zu kalibrieren. Erst danach ließen

sich die individuellen Werte miteinander vergleichen. Und ein zweiter, individueller Faktor musste – so weit möglich – in die Berechnungen mit einfließen: „Stellen Sie sich vor, jemand bekommt feuchte Augen oder beginnt sogar leicht zu weinen. Weint er, weil er gerade im Lotto gewonnen hat, entwickelt er Sehnsucht oder ist er betrübt?“ Der Kontext ist entscheidend – und stellte die Wissenschaftler auf eine harte Probe. Denn natürlich lassen sich individuelle Gedanken oder beispielsweise auch durch die Landschaft hervorgerufene Assoziationen nicht unmittelbar mit dem Fahrgefühl in Beziehung setzen. „Unser Vorteil war, dass wir unterschiedliche Fahrzeuge zur Verfügung hatten, die jeder Proband in der gleichen Umgebung fuhr. Die jeweiligen emotionalen Ablenkungen waren also ähnlich, nur das Fahrzeug und seine Eigenschaften hatten sich geändert“, meint Radig. Zusätzlich nutzten die Wissenschaftler einen Trick, um die Mimik der Fahrer zu TECHNICITY.DAIMLER.COM

verstärken: Durch den Kontakt per Handy und damit das Sprechen mit einem anderen Menschen wird die ­Mimik quasi von selbst ausdrucksstärker. ­Reaktionen sind für die Technik dann leichter zu erkennen. Insgesamt wurden rund 32 Stunden Videoaufzeichnung vom Computer ausgewertet. Jede einzelne Fahrt brachte eine Ausbeute von rund 60.000 Einzelbildern und 52 Gigabyte an Messdaten, mit eindeutigem Ergebnis: In der neuen Mercedes-Benz ­C-Klasse wurde mehr und länger gelächelt als im rund 30 Jahre alten Mercedes-Benz 190 E – und zwar bis zu 48 Prozent. Was nicht heißt, dass der 190er keinen Fahrspaß bereitet – dieser hat sich über vier Fahrzeuggenerationen wie die übrige Technik erheblich weiterentwickelt. Dass ein (Mimik-)Bild nicht zwangsläufig mehr sagen muss als die sprichwörtlichen tausend Worte, zeigen die Experimente von Mercedes-Benz, um den Fahrspaß parallel 33


teststrecke boxberg Parcours der Fahrzeugentwicklung 1 HOCHGESCHWINDIGKEITSOVAL

5 schlechtwegstrecke

3.000 Meter lang mit zwei Geraden und zwei

Neun verschiedene Fahrbahnbeläge für

Kurven für höchste Fahrgeschwindigkeiten.

Geräusch-, Vibrations- und Materialtests.

2  fahrdynamikfläche

6  STEIGUNGSHÜGEL

Ebene, fugenlos asphaltierte Kreisfläche mit

Unterschiedliche Steigungen für Bergab­

einem Gesamtdurchmesser von 300 Metern.

bremsungen und Assistenzsystemtests.

3 bremsmessstrecke

7  wasserdurchfahrten

Strecken für Bremsversuche auf

Bis zu einem Meter Wassertiefe, um die Wider-

unterschiedlichen Fahrbahnbelägen.

standsfähigkeit gegen Wasser zu untersuchen.

4  handlingkurs

8 geräuschmessstrecke

Verschiedene Kurvenradien, -neigungen,

Messen von Vorbeifahrgeräuschen mithilfe

Steigungen und Gefälle für extreme Fahrtests.

­hochempfindlicher Mikrofone.

Strecken und flächen 5

1

Die Teststrecke in Boxberg ist ein Gelände, das den Ingenieuren und Designern von Daimler zur Ver­ fügung steht. Auf acht Strecken bzw. Flächen lassen

4

sich auch extreme Alltagsbedigungen simulieren, um Erkenntnisse für die Verbesserung von Fahrzeugen und Systemen zu erhalten.

2 5

8

6 3 7

zur Gesichtserfassung auch über die Sprache zu messen. Die Fachleute nutzten dafür Methoden, die vom Fraunhofer-Institut für Grafische Datenverarbeitung IGD entwickelt wurden. Mit ihnen lassen sich rund 1.200 Merkmale von Stimmeigenschaften wie Tonlage, Sprechgeschwindigkeit und Betonung analysieren und diese „akustischen Fingerabdrücke“ zuverlässig verarbeiten. STIMMEIGENSCHAFTEN ALS INDIKATOR „Der Klang der Stimme ändert sich je nach Gemütszustand. In der Regel ist ­diese Methode optimal, beispielsweise um die emotionale Entwicklung eines Kunden­ gesprächs im Callcenter zu erfassen, die wir dann an der Monitorgrafik des Analyseprogramms sichtbar machen können“, erklärt Jörg Voskamp vom IGD. Doch den Vorteil, dass zwei Menschen zu einem bestimmten 34

Zweck ohnehin miteinander sprechen, hatten die Wissenschaftler in diesem Fall nicht. Denn die Probanden saßen allein im Auto, um die Ergebnisse möglichst wenig durch ­äußere Einflüsse zu verfälschen. Die Institutsmitarbeiter nutzten deshalb auch hier den Funkkontakt mit den Fahrern und animierten sie, ihre Eindrücke auf den einzelnen Streckenabschnitten zu schildern. Dieses „laute Denken“ ist ein bewährtes Verfahren in der Psychologie – wobei es nicht so sehr darauf ankommt, was die ­Befragten sagen, sondern wie sie es sagen. Auch diese Methode lieferte Ergebnisse, die den eindeutig positiven Emotions­ trend bei modernen Fahrzeugen gegenüber ­älteren Modellen bestätigen. „Allerdings ist der Störfaktor durch das Sprechen gelegentlich so hoch, dass einige Menschen sich vom reinen Fahrzeugvergnügen abgelenkt ­fühlten“, konstatiert Voskamp. Deshalb seien die ebenfalls vom Fraunhofer-IGD betreuten

physiologischen Messungen eine wichtige Ergänzung gewesen. Denn natürlich reagieren Organe wie Haut oder Herz auf unser Empfinden und spiegeln unseren emotionalen Erregungszustand wider, ­allerdings auch hier wieder mit vergleichbar hohen Hürden, denn jeder Mensch reagiert anders, und die wahren Ursachen für ­Erregung können nicht

»Sicherheit, ­Sportlichkeit und Komfort prägen das ­Fahrspaßempfinden.« exakt ermittelt werden. Trotzdem sind sich die Wissenschaftler im Resümee sicher, dass die Fahrer in der Mercedes-Benz C-Klasse zu 72 Prozent der Strecke ein positives Gefühl hatten. Im älteren Mercedes-Benz 190 E dagegen wurde Fahrspaß nur auf 36 Prozent


»Seit dem 190 E hat sich auch Fahrspaß stark weiterentwickelt.«

baureihe: W 201 Länge: 4.420–4.448 Millimeter Breite: 1.678–1.706 Millimeter höhe: 1.353–1.390 Millimeter radstand: 2.665 Millimeter

»In der C-Klasse wurde um bis zu 48 Prozent mehr und länger gelächelt.«

baureihe: W 204 Länge: 4.581 Millimeter Breite: 1.770 Millimeter höhe: 1.444–1.449 Millimeter radstand: 2.760 Millimeter

der Strecke erlebt. Aus heutiger rückblickender Sicht ist das ein Indikator, wie sehr sich Fahrzeuge in vielerlei Hinsicht weiterentwickelt haben. NICHT ALLE GLÜCKSFAKTOREN LASSEN SICH ERFASSEN „Bei den Untersuchungen mussten wir zusätzlich auch den Fahrertypus mit einbeziehen“, erklärt Martin Tischler vom CRC. Denn routinierte Fahrer erleben manchmal gerade bei älteren Fahrzeugen mehr Fahrfreude, weil bei ihnen das Kompetenzerleben – im Sinne eines „Nervenkitzels für Könner“ – größer ist. Je höher also das fahrerische Können ist, desto schwieriger sollte die ­Fahraufgabe sein, um sie lustvoll erleben zu können. In der Regel aber gibt es einen starken Zusammenhang zwischen Souveränität des Fahrzeugs und dem empfundenen Fahrspaß.

Auch die Gewissheit, in einem sicheren Auto zügig fahren zu können, erhöht die Fahrfreude letztlich deutlich stärker als einzelne Ausnahmesituationen. Das bestätigen auch die Interviews, die im Anschluss an die Fahrten mit den Probanden geführt wurden und die ebenfalls in die Gesamtauswertung eingegangen sind. Danach gehören vor ­allem Einschätzungen wie „Ich brauchte mir ­keine Sorgen um die Sicherheit zu ­machen“, „Ich hatte das Gefühl der ­Kontrolle“ sowie Faktoren wie die Berechenbarkeit des Fahrverhaltens und die zuverlässige Umsetzung von Fahrbefehlen zur Glücksformel für ein modernes Auto. „Das Rezept für die richtige Mischung besteht letztlich aus den Grundzutaten Sportlichkeit, Sicherheit und Komfort“, konstatiert CRC-Leiter Götz Renner. Und ­diese werden stark beeinflusst durch eine gute, sichere Straßenlage, eine gute Längsdynamik, eine direkte Ansprache, ein allgemeines Gefühl der Sicherheit, die ­maximale TECHNICITY.DAIMLER.COM

Handlungsfreiheit sowie einen hohen Komfort. Kurz: Dynamik und Agilität des Fahrzeugs sollten spürbar sein, und der Fahrer muss zu jeder Zeit sicher sein können, das Fahrzeug voll im Griff zu haben. All das können die Mercedes-Benz ­Ingenieure in der Fahrzeugentwicklung zwar weiter positiv beeinflussen und den ­richtigen Spagat zwischen Komfort, Sicherheit und Fahrspaß gewährleisten. Martin Tischler aber befürchtet, dass weitere Glücksfaktoren von der Technik gänzlich unbeeinflusst ­bleiben. „Das wahre Glück ist auch, wenn man das Schiebedach aufmacht und die Sonne scheint herein – oder wenn man eine angenehme Begleitperson auf dem Beifahrersitz hat. Auf beides haben wir (leider) ­keinen Einfluss.“

35


Toronto   Kanadas größte Stadt, Hauptstadt von  Ontario, Wirtschafts- und Finanzmetropole  Gründungsjahr   1793 (als York) Fläche (Stadt)   630 km² Einwohnerzahl (Stadt)

Wissenswertes aus Metropolen, in denen sich Urbanität und ­technologische Innovationen auf besondere Weise vereinen.

2,6 Millionen Einwohnerzahl (Metropolregion)   5,6 Millionen Bevölkerungsdichte (Stadt)   4.151 Einwohner/km²

Amsterdam   Hauptstadt sowie kulturelles und ­wirtschaftliches Zentrum der Niederlande Gründungsjahr   um 1275 Fläche (Stadt)   219 km² Einwohnerzahl (Stadt)   800.000 Einwohnerzahl (Metropolregion)   1,3 Millionen Bevölkerungsdichte (Stadt)   3.644 Einwohner/km²

Wien   Bevölkerungsreichste Metropole und ­Hauptstadt Österreichs Gründungsjahr   vor 881 Fläche (Stadt)   414 km² Einwohnerzahl (Stadt)   1,7 Millionen Einwohnerzahl (Metropolregion)   2,5 Millionen Bevölkerungsdichte (Stadt)   4.173 Einwohner/km²

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METROPOL TO RO NTO

Toronto ist ein Magnet für junge Fachkräfte, jeder zweite Einwohner stammt nicht aus Kanada. Die Infrastruktur ist unter Druck und muss schnell weiterentwickelt werden.

StadtEntwicklung

Architektur

Öffentlicher Nahverkehr

Toronto testet europäische Verkehrskonzepte: Im Viertel West Don Lands mit 6.000 Neubauwohnungen entstehen die ­ersten „Woonerfs“ der Stadt. Das aus den Niederlanden stammende Konzept steht für ein Wohnviertel, in dem Fußgänger Priorität besitzen und Fahrzeuge deshalb langsam fahren müssen. Im Gegensatz zu seinem ­niederländischen Vorbild, das absichtlich auf Bürgersteige verzichtet, will der Bauherr ­Waterfront Toronto einen sanften Bürgersteig anlegen, der Fahrern wie Fußgängern signalisiert, wo ihr Territorium endet.

147 Wolkenkratzer befinden sich in ­Toronto gegenwärtig im Bau – ein Rekord für ganz Nordamerika und doppelt so viele wie in New York. 15 dieser Neubauten werden höher als 150 Meter sein, auch das ein Rekord. Ende 2012 befanden sich 14.000 ­Wohnungen im Bau. Architekten wie Daniel Libeskind preisen die Bautätigkeit der Stadt schon als Vorbild für hochverdichtete Urba­ nität. Der größte Boom spielt sich entlang der Toronto Waterfront ab, wo die Einwohnerzahl in zehn Jahren um ganze 134 Prozent gestiegen ist.

Torontos Pendler verbringen im Schnitt 80 Minuten pro Tag im Verkehr – mehr als in Los Angeles. Stadtplaner bemängeln unter anderem, dass die alten Straßenbahnen den Verkehrsfluss der Millionenstadt unnötig behindern. Jetzt haben die Verkehrsbetriebe TTC eine komplett neue Straßenbahn entwerfen lassen, die 2014 in Dienst gestellt werden soll. Jede der 30 Meter langen ­Bahnen verfügt über vier flexible Gelenke, um Torontos viele enge Kurven und Hügel ­optimal bewältigen zu können.

Amster daM

Die niederländische Hauptstadt profitiert ökonomisch und kulturell von ihrer zentralen Lage in Europa. Eine gut ausgebaute Infrastruktur trifft auf hohe Lebensqualität.

kultur und Innovation

Stadtentwicklung

Wirtschaft

Seit April 2012 ist das futuristische „Eye“, der Neubau des Niederländischen Filmmuseums, die neue Architekturikone der Stadt. Entworfen wurde es von den Wiener Architekten Delugan Meissl. Im Herbst fand an dem spektakulären Veranstaltungsort erstmals das jährliche PICNIC Festival statt, das seit 2006 internationale Wirtschafts­ führer, Vordenker, Aktivisten und Technologieexperten im Geiste der Zusammen­arbeit und der Innovation in der Haupt­stadt zusammenbringt.

Auf sieben künstlichen Inseln aus Sand entsteht nach und nach der neue Stadtteil IJburg. Eines Tages sollen hier 45.000 Einwohner in 18.000 Häusern und Wohnungen leben und arbeiten. Ein jahrzehntealter Plan nimmt damit Gestalt an, der rechteckige Gebäudeblocks, schnurge­ rade Straßen sowie viele Grünflächen und Wasserwege vorsieht. Architektonische Experimente wie schwimmende Wohnhäuser sind in einigen Gebieten ohne Gestaltungsbeirat ausdrücklich willkommen.

Amsterdam wird die Welthauptstadt der App-Entwickler, meint die Non-ProfitPlattform „Appsterdam“ des ehemaligen Apple-Mitarbeiters Mike Lee, die die Stadt zum wirtschaftlichen und kreativen Gravita­ tionszentrum der App-Industrie machen will. Als Gründe für die Wahl von Amsterdam nennt der gebürtige US-Amerikaner unter anderem die europäische Gesetzgebung, die freie Verfügbarkeit öffentlicher Daten, die große Dichte an Kreativen und Designern sowie die allgemein hohe Lebensqualität in der niederländischen Hauptstadt.

Wien

Die Bevölkerung von Wien soll in naher Zukunft stark wachsen. Kein Wunder, denn in Sachen Lebensqualität und öffentlicher Verkehr ist die Metropole Teil der Weltspitze.

Lebensqualität

Mobilität

Architektur

Die Unternehmensberatung Mercer hat Wien jüngst zur lebenswertesten Stadt der Welt gekürt. Das renommierte britische Fachmagazin Economist sieht in seinem Ranking für 2012 lediglich das australische Melbourne in Sachen Lebensqualität noch ganz knapp vor der österreichischen Hauptstadt. Diese glänzt unter anderem mit geringer Umweltbelastung sowie einem hohen Anteil an Grün­flächen und Erholungsgebieten – im Durchschnitt rund 120 Quadratmeter pro Einwohner. Damit ist Wien auch eine der grünsten Millionenstädte der Welt.

Die Metropolregion erwartet für die nächsten Jahre einen massiven Bevölkerungsanstieg. Trotzdem hat die Stadtregierung das ambitionierte Ziel gesetzt, zum Weltmeister umweltfreundlicher urbaner ­Mobilität zu werden. U-Bahn- und Straßenbahnlinien werden ausgebaut, der neue Hauptbahnhof ist bereits im Teilbetrieb. Die Jahreskarte des öffentlichen Nahverkehrs ist mit 365 Euro konkurrenzlos günstig, der ­ÖPNV-Anteil liegt schon heute bei rund 40 Prozent. Zugleich gibt es bereits über 100 Ladestationen für Elektromobilität.

Der Schutz der historischen Innenstadt verbietet die Errichtung von Wolkenkratzern im Zentrum, etwas außerhalb sind aber die zwei Türme der Donau City Towers mit einer Höhe von bis zu 220 Metern im Bau. Bislang ist noch der Büroturm ­Millennium ­Tower mit 171 Metern das höchste Gebäude der Stadt. Am neuen Hauptbahnhof entsteht bis 2017 auf rund 25 Hektar das Quartier Belvedere, ein ganz neues Viertel, das unter anderem einen Informations- und BildungsCluster beherbergen und zur neuen „Kultur­ achse“ der Stadt werden soll.

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Mobilität in Innovations­ regionen Stadtflagge von San Diego

REPORT  Wo Technologie, Wirtschaft und Kreativität zusammenkommen, liegen die Innovationsregionen der Welt. San Diego gehört dazu – TECHNICITY stellt die kalifornische   Metro­pole vor, die unter anderem immer wieder   für einen ­erfolgreichen Transfer aus der Wissenschaft hin zu Start-up-Unternehmen steht.


eckdaten einer metropole KLIMA San Diego liegt im Süden Kaliforniens unmittelbar an der Küste des Pazifiks. Das Klima ist entspre-

SAN DIEGO

chend mild, mit einer Jahresdurchschnittstem8h

peratur von 17,3 Grad Celsius. Die Luftfeuchtigkeit beträgt im Jahresmittel rund 69 Prozent. Nur 30 Regentage im Jahr und im Durchschnitt über acht Stunden Sonne pro Tag sorgen für fast durchgehend angenehme Wetterverhältnisse an der Südspitze des „Sunshine State“ im äußersten Westen der USA.

Quelle: National Weather Service

Einwohner

Kreativität, Mobilität und Lebensqualität

1.545

pro km2

Im 964 Quadratkilometer großen Stadtgebiet von San Diego leben heute mehr als 1,3 Millionen Menschen mit einer Bevölkerungsdichte von rund 1.545 Einwohnern pro Quadratkilometer. Damit ist San Diego die achtgrößte Stadt der USA. Die Metropolregion von San Diego beherbergt circa 3,2 Millionen Einwohner auf einer Fläche von 11.137 Quadratkilometern. Quellen: SANDAG, U.S. Census 2010

Text Steffan Heuer

Fotografie David Magnusson

Bevölkerungswachstum

Sascha Pfläging

W

er „San Diego“ und „Surfen“ im selben Satz hört, denkt in der Regel an die langen Sandstrände der Stadt im südwestlichsten Zipfel Kaliforniens, die Millionen von Einheimischen und Touristen anziehen. Die Profis rufen schon im Morgengrauen auf ihrem Smartphone Gezeiten und den aktuellen Wellenbericht auf, bevor sie sich mit Neoprenanzug und Surfbrett auf den Weg zur Brandung machen. Für Thilo Hölscher, Neurologe an der University of California, San Diego (UCSD), hat die Begriffskombination eine andere und viel prosaischere Bedeutung.

+ 49 % 2000

2050

Zwischen den Jahren 2000 und 2010 ist die Bevölkerung von San Diego um rund 6 Prozent gewachsen, die der Metropolregion sogar um 13 Prozent. Für die kommenden Dekaden wird weiteres starkes Wachstum erwartet: Bis zum Jahr 2020 soll die Einwohnerzahl der Stadt bereits 1,54 Millionen Menschen betragen und im Jahr 2050 dann 1,95 Millionen. Das entspricht einem Plus von rund  49 Prozent innerhalb von 50 Jahren. Quellen: SANDAG, U.S. Census 2010

Durchschnittsalter

33,8 < 37,1 Die Bevölkerung von San Diego ist deutlich jünger als im Rest der USA. Das Durchschnittsalter beträgt hier nur 33,8 Jahre, während die übrige Bevölkerung der Vereinigten Staaten von Amerika im Durchschnitt 37,1 Jahre alt ist. Quellen: SANDAG, U.S. Census 2010

Der gebürtige Deutsche sitzt an diesem Morgen – wie immer – um halb sechs in seiner Küche am Rechner, schlürft den ersten von vielen Espressi an diesem Tag und klickt sich durch die über Nacht aufgelaufenen E-Mails. Zeit ist kostbar, denn bald werden seine beiden Söhne aufwachen und mit ihrem Vater spielen wollen, bevor er sich um halb acht auf den Weg in sein Forschungslabor macht. „Die  Stunde zwischen fünf und sechs gehört mir. Da kann ich in Ruhe Kor­ respondenz erledigen und lesen, was Kollegen und Bekannte in Europa so treiben“, sagt der 46 Jahre alte Mediziner, der seit zehn Jahren in San Diego lebt und arbeitet. „Wenn der normale Tagesbetrieb erst einmal angefangen hat, muss alles Schlag auf Schlag gehen.“

Strände

27 km

San Diegos ausgedehnte Sandstrände und Buchten am Pazifik sind nicht nur bei Surfern berühmt und beliebt. Die Küstenlinie der Stadt erstreckt sich über ganze 27 Kilometer vom nördlichen Black’s Beach über La Jolla Cove bis Ocean Beach. Viele der  Strände wie der Windansea Beach oder Children’s Pool sind direkt mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar. Quelle: City of San Diego

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ÖFFENTLICHE VERKEHRSMITTEL  Das Metropolitan Transit System stellt verschiedene Verkehrsmittel zur Verfügung – auch auf der Schiene.

Während seine Frau die drei und fünf Jahre alten Sprösslinge für den deutschen Kindergarten fertig macht, greift Hölscher Rucksack, Laptop und Handy und verlässt die in der Innenstadt gelegene Wohnung. Zwischen den Hochhäusern zieht gerade einer der morgendlichen Jets vorbei, der zur Landung auf dem direkt neben dem Zentrum gelegenen Flughafen ansetzt. Minuten später hat der Akademiker schon seinen Laptop auf einer Bank aufgeklappt, ist mittels Handy erneut im Netz und nutzt die Wartezeit.

07:47 Uhr vor dem Universitätskrankenhaus hält. „Die Konzentration an Akademikern, Forschern, Unternehmern und unglaublich smarten Leuten aus allen möglichen Branchen ist erstaunlich. Für jede Frage findet man jemanden, der einem zuhört und weiterhilft – gerade wenn man seine Forschungsarbeit in ein Start-up umwandeln will, wie ich es gerade tue.“ Nicht umsonst ist San Diego einer der größten Cluster für Biotechnologie- und Live-Science-Unternehmen in den USA. Branchenkenner zählen mehr als 400 solche Firmen in der Region – mehr gibt es nur rund um Boston und in der Bucht von San Francisco. Die Stadt mit rund 1,3 Millionen Einwohnern ist das Herzstück  eines rapide wachsenden Ballungsraums von mehr als 3,2 Millionen Menschen. region mit enormer ausdehnung

Kurze Wege sind wichtig für ihn, denn Zusammenarbeit in dieser Hochburg der kreativen Klasse heißt vor allem: so viele persönliche Termine wie möglich, anstatt sich mit Telefonaten oder anderen elektronischen Hilfsmitteln zu begnügen. An diesem ganz normalen Tag wird Hölscher insgesamt acht Termine wahrnehmen, die ihn bis nach 22 Uhr in Bewegung halten. Er wird zu Fuß, mit dem Bus, einem Hochschulshuttle, dem Mobilitätskonzept car2go sowie mit dem eigenen Fahrzeug rund 100 Kilometer zurücklegen. Kurz nach 07:30 Uhr hält der rot-weiße MTS-Bus (Metropolitan Transit System), und Hölscher macht sich auf den Weg zum UCSD Medical Center im Stadtteil Hillcrest. Dort betreibt er seit 2009 sein eigenes Labor, das am therapeutischen Einsatz von Ultraschall forscht. „Einen besseren Standort als San Diego kann ich mir  gar nicht wünschen“, berichtet der Mediziner, als der Stadtbus um  40

Die enorme Ausdehnung der Metropolregion San Diego über mehr als 11.000 Quadratkilometer – was etwa dem Zwölffachen der Fläche Berlins entspricht – ist der ungewöhnlichen Geografie zu verdanken. Den kompakten Stadtkern mit seinen Hochhäusern rund um das historische Hafenbecken verbinden zum Teil zehnspurige Freeways und Landstraßen mit einem Ring aus Vorstädten und benachbarten Ortschaften, die von typischen „Suburban Sprawl“ geprägt sind: Einfamilienhäuser und Einkaufszentren. Wer hier mobil sein will, muss fast immer eine Küstenstraße nehmen, einen tiefen Canyon überwinden oder die Ausläufer der Anza-Borrego-Wüste durchqueren. Das führt dazu, dass San Diegos Bürger im Tagesdurchschnitt ein Drittel mehr Kilometer im eigenen Fahrzeug zurücklegen als sogar die Bewohner von Los Angeles, das für seine Autokultur berühmt und berüchtigt ist. Über San Diegos wichtigste Freeways schieben sich an einem durchschnittlichen Tag rund 300.000 Fahrzeuge, zu Stoßzeiten im Dauerstau.


„Es gibt viele andere Transportmöglichkeiten, aber San Diego ist wie ganz Südkalifornien vom Auto geprägt worden und für Autos gebaut. Das Umdenken hat jetzt erst eingesetzt“, sagt Sherry Ryan, Transportforscherin der San Diego State University. Sie untersucht die wachsende Zahl von Radfahrern, die nicht nur am Wochenende mit einem teuren Vehikel die Küste entlangstrampeln, sondern täglich zur Arbeit pendeln. radfahren neu entdecken „Zu wissen, wer mit dem Rad zur Arbeit fährt, ist enorm wichtig für die Verkehrs- und die Stadtplanung von morgen. Bisher hatte  niemand genaue Zahlen“, berichtet Ryan, die 2012 ein Netz von rund 40 Sensoren auf San Diegos Straßen installierte, um Radfahrer zu  zählen – die größte derartige Installation in den USA. So viel steht schon fest: Radler sind bislang eine kleine Minderheit. Noch wählen 85 Prozent aller Einwohner San Diegos das eigene Auto als Transportmittel. Nur drei Prozent entscheiden sich für öffentliche Verkehrsmittel und gerade einmal ein Prozent für das Rad. Hölschers Umgang mit Mobilität ist dennoch ein Beleg für den von Ryan und anderen Verkehrsexperten beobachteten Trend zu mehr Nachhaltigkeit. Der stete Zustrom an jungen Wissensarbeitern hat das Bewusstsein dafür geschärft, näher am Arbeitsplatz wohnen zu wollen und intelligent mobil zu sein. Wie der Mediziner sind in der vergangenen Dekade Zehntausende von Bürgern in die Innenstadt umgezogen, weil sie es schätzen, in einem dicht besiedelten urbanen Kern zu wohnen. Die zu Zeiten des Immobilienbooms errichteten Apartmenthochhäuser liegen meist direkt an Buslinien und Haltestellen der drei Straßenbahnlinien. „Wir wohnen absichtlich mitten in der Stadt. Das geht auch als junge Familie wunderbar“, erzählt Hölscher in einer Besprechungspause in seinem Labor. „Der Stadtpark ist direkt vor unserer Haustür. Wir können zu Fuß essen gehen, sind in zehn Minuten am Meer oder am Flughafen.“ Wenn er genügend Zeit hat, fährt er gerne mit dem Rad zur Arbeit und stellt es an der Klinik ab, um den Rest seines meist hektischen Tagespensums zu absolvieren. Gerade hat ein

Mobilität in San diego Flughäfen

Der San Diego International Airport („Lindbergh Field“) fertigt mit nur einer Start- und Landebahn pro Jahr 1,8 Millionen Passagiere ab. Internationale Direktflüge gehen nach Kanada, Mexiko, Großbritannien und Japan. Weitere kleinere Flughäfen sind Montgomery Field (MYF) und Brown Field (SDM). Quellen: SDIA, SANDAG, Connect

StraSSenverbindungen Die Interstate 5 verbindet San Diego von Norden nach Süden mit Los Angeles und führt bis in den nördlichen Bundesstaat Washington. Zur rund 30 Kilometer von San Diego entfernten Grenze nach Mexiko

5

führt außerdem die Interstate 805. In nordöstlicher   Richtung führt die Interstate 15 über Las Vegas und zahlreiche Bundesstaaten bis nach Kanada. Die   Interstate 8 sorgt für die Verbindung ins südöstlich gelegene Arizona. Verkehrsaufkommen An neuralgischen Punkten in und um San Diego liegt das Verkehrsaufkommen auf den Highways I-5 und I-805 bei bis zu 302.000 Fahrzeugen an einem Tag.

»San Diego ist eine für das Auto konzipierte Stadt. Das Umdenken hat jetzt erst eingesetzt.« Sherry RYAN, Professorin für Stadtplanung an der San Diego State University Fahrradwege Die Länge des Radwegenetzes von San Diego beläuft sich aktuell auf rund 515 Meilen (829 Kilometer). An 60 Haltestellen des öffentlichen Nahverkehrs stehen insgesamt 872 Schließplätze für Fahrräder zur Verfügung. Bei der Wahl des bevorzugten Verkehrsmittels spielt das Rad jedoch in der Autostadt San Diego keine große Rolle: Nur etwa ein Prozent aller Fahrten werden mit dem Fahrrad zurückgelegt. Quellen: SDIA, SANDAG, Connect, U.S. Census

Mitarbeiter der Anatomieabteilung zwanzig präparierte Schädel in seinem Labor abgegeben. Hölscher hat die nach eigenen Angaben umfassendste Schädeldatenbank der Welt aufgebaut. Die Schädel werden mit einem Computertomografen dreidimensional erfasst und in einem Wassertank auf ihr Resonanzverhalten gegenüber Ultraschallwellen vermessen. Aus beiden Datensätzen entsteht ein Computermodell, das die Behandlung von Schlaganfallpatienten revolutionieren soll. Noch wird Ultraschall fast ausschließlich zur Diagnose eingesetzt, um Ablagerungen in einem Gefäß oder gefährliche Blutgerinnsel im Hirn abzubilden. Mittels intelligenter Software, so das Ziel von Hölschers Brain Ultrasound Research Lab (BURL), können Schallwellen künftig solche lebensbedrohenden Thrombosen sofort auflösen oder Medikamente gezielt freisetzen. „Jeder menschliche ­Schädel

Verkehrsmittelwahl

86 Prozent aller Fahrten werden in San Diego mit dem eigenen Pkw zurückgelegt, gegenüber 3,1 Prozent mit den Angeboten des öffentlichen Nahverkehrs. Bei den pro Tag und Kopf zurückgelegten Automeilen nimmt San Diego mit 14,5 Meilen sogar einen Spitzenplatz im Bundesstaat Kalifornien ein – noch vor Los Angeles mit 10,5 Meilen. Zum Vergleich: In San Francisco werden pro Tag nur 4,5 Meilen mit dem Auto zurückgelegt, und der Mittelwert für ganz Kalifornien beträgt 13 Meilen pro Kopf und Tag. Quellen: GENI: Sustainable Transportation for San Diego

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Bildung und forschung ForschungsCluster

MOBILOGRAMm

Insgesamt 83 Forschungsinstitute haben ihren Sitz in San Diego, darunter viele weltbekannte Einrichtungen: Scripps Research Institute, Salk Institute, Sanford-Burnham Institute for Medical Research, Scripps Institution of Oceanography (SIO), California   Institute for Telecommunications and Information Technology (Calit2) sowie das Forschungsinstitut der US Marine SPAWAR. Quellen: Connect, EDC

Hochschulen

100.000 Über 100.000 Studenten sind an den Hochschulen von San Diego eingeschrieben. Zu den wichtigsten Bildungsstätten gehören die UC San Diego (29.000 Studenten), die University of San Diego (8.300), die San Diego State University (31.000), die San Marcos State University (10.300), die National University (22.700) sowie die Point Loma Nazarene University (3.500). Über die US-Bundesbehörden flossen im Jahr 2011 1,14 Milliarden US-Dollar an Forschungsmitteln nach San Diego. Quelle: EDC

wirtschaft und innovation Patente Von 2007 bis 2011 brachte San Diego im Jahresdurchschnitt 3.165 neue Patente pro Jahr hervor. Damit liegt die Stadt auf Platz 8 von insgesamt 358 Städten in den USA. Pro 1.000 Arbeitnehmer ergeben sich im Durchschnitt 2,3 Patente (Platz 13). Quelle: Brookings Institution, 2013

» San Diego hat eine Lebensqualität, die ihresgleichen sucht. Kreative bekommen viele Angebote.« Mark CAFFERTY, Präsident und CEO der San Diego Regional Economic Development Corporation

2011 flossen 927 Millionen US-Dollar an Wagniskapital nach San Diego, 2012 waren es bereits 1,12 Milliarden US-Dollar. Größte Nutznießer waren dabei Firmen der Biotechnologiebranche (48 Prozent im ersten Quartal 2012) sowie des Industrie- und Energiesektors (39 Prozent). Quellen: Connect, PwC Money Tree Survey

Bruttoinlandsprodukt Zwischen 2001 und 2010 ist das Bruttoinlandsprodukt der Metropolregion San Diego von 114,37 Milliarden US-Dollar auf 171,57 Milliarden gestiegen: ein kontinuierlicher Wachstumstrend, der nur im Krisenjahr 2009 (168,98 Milliarden) unterbrochen wurde. Quelle: Statista

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zentralpunkt  Thilo Hölschers Forschungslabor ist Dreh- und Angelpunkt seines Tagesablaufs – doch was zählt, sind persönliche Kontakte und damit Mobilität im Stadtgebiet.


antworten auf fragen  Der Tagesablauf des Wissenschaftlers orientiert sich an den Forschungsvorhaben und auch seinem Plan für ein Start-up-Unternehmen.

Campuswege Zwischen den verschiedenen   Standorten der University of ­California San Diego (UCSD)   pendelt Thilo Hölscher meist   zu Fuß oder mit dem Busshuttle   der Universität.

Alltagsmobilität  Als Wissenschaftler und Gründer eines Start-up-Unternehmens mit zahlreichen persönlichen Terminen ist Thilo Hölscher in seinem Alltag höchst mobil. An einem durchschnittlichen Arbeitstag legt er in und um San Diego einhundert Kilometer und mehr zurück – oft die Summe vieler kürzerer Wege im Stadtgebiet. Öffentliche Verkehrsmittel und car2go sind neben dem eigenen Paar Füße dabei die Grundpfeiler seiner beruflichen Fortbewegung. Für längere Fahrten aus der Innenstadt hinaus, etwa mit der Familie zum Abendessen nach Mexiko, nutzt er stattdessen das eigene Auto.

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leben und arbeiten Einkommen Mit einem mittleren ­Haushaltseinkommen

von 63.198 US-Dollar im Jahr 2010 lag San

Diego deutlich über dem Landes­durchschnitt

von 52.762 US-Dollar.

Quellen: SANDAG, U.S. Census, CIA World Factbook

ist so individuell wie ein Fingerabdruck. Wenn man genügend Datensätze auswertet, kann man schnell bestimmen, welche Therapie für welchen Patienten geeignet ist“, erklärt Hölscher. Zu diesem Zweck hat er ein erstes Patent angemeldet und will die Technologie mit  einem eigenen Start-up-Unternehmen kommerzialisieren.

Arbeitsmarkt I Der Arbeitsmarkt von San Diego ist stark geprägt vom ansässigen US-Militär und den zahlreichen Bildungsinstitutionen. Die United States Navy ist mit 54.000 Angestellten (a) der größte Arbeitsgeber der Stadt, die University of California San Diego folgt mit 27.406 Mitarbeitern (b). Zu den größten Unternehmen gehören zwei Firmen der Gesundheitsbranche, Sharp HealthCare (14.924 Mitarbeiter) (c) und Kaiser Permanente (7.101) (d), sowie das mit Hauptsitz in San Diego angesiedelte Telekommunikationsunternehmen Qualcomm (11.500) (e). Quelle: San Diego Comprehensive Annual Fiscal

(a) (b) (c) (d) (e)

Report 2011

Arbeitsmarkt II Rund 6.000 der „Innovation Economy“ zuzurechnende Unternehmen beschäftigen fast 140.000 Arbeitnehmer. Davon sind 3.000 Unternehmen in den Bereichen Wireless und Mobilkommunikation, Web Services, Data Analytics und Software tätig. Zum Sektor der Biotechnologie und Lifesciences gehören weitere 600 Firmen. Die größte Sparte ist der Telekommunikationssektor, der 2.000  Firmen mit rund 65.000 Beschäftigten umfasst. Quellen: EDC, Connect

Immobilienpreise San Diego gehört zu den teuersten Immobilienmärkten der USA. Was die Preise für Häuser und Wohnungen betrifft, liegt die Metropole am Pazifik   im nationalen Vergleich auf Platz 4. Nur in den kalifornischen Städten San Jose und San Francisco

4. Platz

Deswegen ist auch keine Zeit für eine lange Pause: Geschäftspartner und wissenschaftliche Mitarbeiter warten. Um 09:30 Uhr besteigt  der Neurologe den Universitätsshuttle zum Hauptcampus der UCSD nördlich von San Diego. Eine gute halbe Stunde dauert die Fahrt nach La Jolla, entlang der Interstate 5 und durch mehrere steile  Canyons. Die UCSD ist eine der wichtigsten akademischen Einrichtungen  der Region, an der rund 29.000 Studenten eingeschrieben sind und deren Wissenschaftler im Jahr mehr als eine Milliarde US-Dollar öffentlicher Forschungsgelder auf sich ziehen. Bei so viel Forscherdrang ist die Ausgründung Erfolg versprechender Ideen unvermeidlich. Nach Berechnungen der Hochschule haben UCSD-Akademiker bislang knapp 160 Start-ups ins Leben gerufen. Die UCSD ist nur eine von einer Handvoll großer Hochschulen in San Diego mit einer Studentenschaft von insgesamt knapp 104.000 –  ein Hauptgrund für das junge Durchschnittsalter von nur 33,8 Jahren. Dazu gesellen sich 83 öffentliche wie private Forschungseinrichtungen von Weltruf, darunter das Scripps Research Institute, das Salk Institute, das Sanford-Burnham Institute for Medical Research und die Scripps Institution of Oceanography. Viele der hier gemachten Entdeckungen sind zu großen Unternehmen geworden, die sich  entlang der Torrey Pines Mesa genannten Hochebene am Rande von La Jolla angesiedelt haben.

sowie in New York ist Wohnraum noch teurer.

wissensvielfalt als erfolgsbasis

Quelle: Statista

Grünflächen Rund 20 Prozent der Stadtfläche von San Diego sind Park- und Erholungsflächen. Das bedeutet im nationalen Städtevergleich den fünften Platz, den sich San  Diego mit New York City teilt. Unangefochten an der Spitze: Anchorage im US-Bundesstaat Alaska mit einem Anteil von 46 Prozent Grünflächen.

Quelle: Statista

Internationale Anziehungskraft San Diego erlebt einen ständigen Zufluss an nationalen und internationalen Fachkräften. Beispielsweise kommt rund die Hälfte  aller Doktoranden an der UCSD aus dem Ausland. Die asiatischen (+24 Prozent) und hispanischen (+21 Prozent) Bevölkerungsgruppen sind innerhalb des letzten Jahrzehnts stark gewachsen. Quellen: City of San Diego, U.S. Census 2010

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„San Diego hat in keiner Disziplin den größten Cluster, also eine Wissensansammlung. Unser Erfolg liegt in der Vielfalt, auch wenn das Nichteingeweihte kaum auf Anhieb bemerken“, sagt Mark Cafferty,  Chef der örtlichen Wirtschaftsförderungsgesellschaft EDC. Er unterteilt San Diegos Wirtschaft in drei große Sektoren. Mehr als 150.000 Menschen arbeiten für das US-Militär, dessen Pazifikflotte hier beheimatet ist. Der zweite große Cluster ist die Tourismusbranche, die wegen der fotogenen Pazifiklage und des damit verbundenen milden Klimas rund 160.000 Menschen beschäftigt. Das größte Augenmerk richtet die EDC auf die „Innovation  Economy“, zu der Informationstechnologie, Telekommunikation, Lifesciences und Cleantech zählen. In diesem dritten Sektor arbeiten 140.000 Menschen in rund 6.000 Unternehmen. Die Nähe zur Wüste ist ein Plus für die Ansiedlung von Cleantechfirmen, die an Solarenergie und Biokraftstoffen forschen. Seit seiner Gründung 1985 hat sich Qualcomm als Hersteller von Chips für die Mobilkommunikation zum größten privaten Arbeitgeber


university city marine corps air station miramar

Verkehrswege und Fahrzeiten in SAN DIEGO

805

Stadtautobahn Straßenbahn Straße

la jolla

Grünflächen/Parks

Durchschnittliche Fahrzeit zum Arbeitsplatz nach Wohnort 25-35 Minuten

15-20 Minuten

20-25 Minuten

<15 Minuten

montgomery field 805 5

8 UCSD Medical center Universitätsklinik

8

nordpazifik

hillcrest

5

balboa park

san diego international airport

USA San Diego

New York

port of san diego


der Stadt entwickelt. Das Unternehmen beschäftigt knapp 12.000 Menschen in San Diego und ist laut einer jüngsten Studie die Keimzelle für eine boomende Telekombranche mit 65.000 Arbeitsplätzen. „Einen von zwölf Jobs hier verdanken wir unserem Telekomcluster“, berichtet Cafferty. „Diese Innovationskraft zieht Kreise in völlig neue Sparten wie Wireless Health.“ Dabei geht es um die Schnittstelle zwischen drahtloser Kommunikation und vernetzter Gesundheitsversorgung. Seit Sommer 2012 befasst sich sogar ein eigenes Forschungsinstitut, das West Wireless Health Institute, mit dieser neuen Disziplin. start-up-gründungEn im trend In diesem Gebiet wird sich auch Hölschers Start-up bewegen, denn er will seine Software zum Einsatz von therapeutischem Ultraschall auch als mobile Lösung in Krankenwagen und Rettungshubschraubern installieren. Er hat inzwischen seinen Termin am SulpizioHerz-Kreislauf-Zentrum in La Jolla abgeschlossen und sitzt um 10:30 Uhr bereits wieder im Shuttle zurück Richtung Labor. Nach einer ­Besprechung mit seinem Team und einem hastig verzehrten Sandwich zückt der Mediziner sein Smartphone und reserviert einen smart fortwo electric drive von car2go. Er muss um 12:30 Uhr einer Biotechfirma einen Besuch abstatten, die Chemotherapie für Hirntumore mittels gezieltem Ultraschall schonender und zugleich effektiver machen will. „Noch sind wir Forschungspartner, aber das kann unser erster Kunde werden“, sagt Hölscher und entriegelt den Wagen mit seiner hellblauen car2goKarte. „Überall komme ich mit dem Bus doch nicht hin, vor allem, wenn man sich jenseits der Innenstadt und dem Campuscluster bewegt. Da ist Carsharing genau richtig.“ Seit November 2011 bietet Daimler mit seinem Mobilitätskonzept car2go in San Diego 300 smart mit Elektroantrieb an. „Wir hatten nach den ersten 100 Tagen schon 5.000 Mitglieder und sind jetzt bei rund 12.000. Die Zahl der wöchentlichen Trips hat sich von anfangs 500 auf bald 6.000 gesteigert. Das zeigt, dass die Menschen auf ein solches Transportangebot gewartet haben“, berichtet    Surfin’ USA  Die Lebensqualität in San Diego ist nicht zuletzt aufgrund der Nähe zum Pazifik hoch. Die 27 Kilometer langen Strände am Stadtrand ziehen schon in den frühen Morgenstunden Surfer und Schwimmer an.

San diego

New York*

Los Angeles**

Zweitgrößte Stadt in Kalifornien

Bevölkerungsreichste Region

Hinter New York die zweitbe-

und achtgrößte Stadt der USA

der USA

völkerungsreichste US-Region

Einwohner (Metropolregion):

3,1 Millionen

18,9 Millionen

13,2 Millionen

Passagierfahrten im ÖPNV pro Jahr:

102 Millionen

4,1 Milliarden

665,8 Millionen

979 Millionen Kilometer

34 Milliarden Kilometer

5,5 Milliarden Kilometer

1,7 Millionen

9,1 Millionen

7,3 Millionen

5 Stunden

6,75 Stunden

8 Stunden

37 Stunden

59 Stunden

61 Stunden

Im Vergleich Status:

Zurückgelegte Fahrstrecke im ÖPNV pro Jahr: Reisende zur Spitzenzeit: Tägliche Dauer der Rushhour: Verspätungsdauer pro Pendler pro Jahr:

* inkl. Newark, ** inkl. Long Beach und Santa Ana; Quelle: TTI, 2012 Annual Urban Mobility Report

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Daimler in Kalifornien Walter Rosenkranz, der den Service in enger Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung aufbaute. Rosenkranz lebt seit 18 Jahren in San Diego und beschäftigte sich schon an der Business School mit Carsharing. „Die Grundidee war mir vertraut, aber als ich das erste Mal von car2go las, wusste ich, dass das die Zukunft ist. Es ist ein Vorgeschmack auf die Sharing Economy, in der man Ressourcen intelligent einsetzt.“ Insbesondere die unter anderem auch in San Diego ausschließlich elektrisch betriebene smart Flotte ist ein Novum für Nordamerika. „Vor car2go gab es in San Diego rund 800 Elektrofahrzeuge. Unsere Flotte hat den Bestand auf einen Schlag um 40 Prozent erhöht“, so der car2goManager. Noch wichtiger sei es, dass zum ersten Mal in einer Stadt in Nordamerika die gesamte Bevölkerung Zugang zu einem Elektroauto habe und so erleben könne, wie sich lokal emissionsfreies Fahren anfühlt. Neben rund 100 öffentlichen Ladestationen, welche die Kommune eingerichtet hat, betreibt car2go ein eigenes, zentrales Ladedepot. In einem umgebauten Lagerhaus in San Diegos trendigem Viertel East Village können 30 smart gleichzeitig am Netz hängen. Das East Village ist ein gutes Beispiel für den Wandel hin zu einem urbaneren Lebensstil, zu dem ein Mobilitätsmix aus Fortbewegung zu Fuß, mit öffentlichen Verkehrsmitteln und Carsharing ideal passt. Bis vor ein paar Jahren war dieses Viertel, das ein Dutzend Blocks

Mercedes-Benz Research & Development North America (MBRDNA)

Mercedes-Benz Research & Development North America verfügt gleich über mehrere wichtige Forschungs- und Entwicklungsstandorte in Kalifornien. Hinzu kommt ein Büro für politische AnDesign Studio gelegenheiten am kalifornischen Regierungssitz in Sacramento. Group Research und Advanced Engineering: Das Kompetenzzentrum für Digital Life, App-Entwicklung und  Advanced User Experience Design in Palo Alto, gegründet 1995: Hier wurden unter anderem die Digital DriveStyle App für das iPhone, die smart drive App für den smart fortwo und der DICE (Dynamic and Intuitive Control Experience) designed und entwickelt. Advanced Exterieur Design Studio Das Designstudio in Carlsbad, rund 30 Kilometer nördlich von San Diego,

Los Angeles

zeichnet unter anderem verantwortlich für das Exterieurdesign der Studien Biome und Vision Ener-G-Force, der

Carlsbad

Forschungsfahrzeuge F 800 Style und F 125! und der zweiten Generation des Mercedes-Benz CLS.

am östlichen Rand der Innenstadt umfasst, heruntergekommen. Heute pulsiert rund um das Büro von car2go eine kleine Design- und Künstlerszene, eingerahmt von Apartmenttürmen und einem neuen Baseballstadion. Damit nicht genug: Die Stadt diskutiert bereits ein Konzept, um das Viertel als „IDEA District“ („Innovation – Design – Education – Arts“) komplett neu zu erfinden und dort gezielt ein Ökosystem aus großen Technologiefirmen und vielen Start-ups zu schaffen. „Die Prognosen gehen davon aus, dass die Bevölkerung in Downtown von heute 60.000 auf 90.000 Menschen wachsen wird“, berichtet EDC-Chef Cafferty. „Wer in die Stadt zieht, sucht einen Job, bezahlbaren Wohnraum und zeitgemäße Transportmittel.“ car2go-Manager Rosenkranz rechnet damit, dass die Zahl der Ladestationen entsprechend wachsen wird. car2go San Diego denkt zudem darüber nach, sein Geschäftsgebiet auszudehnen. Das ist Musik in Hölschers Ohren. Er benutzt car2go regelmäßig und fährt sogar aus dem Geschäftsgebiet heraus bis nach La Jolla, um in dem dichten Netzwerk aus Forschungseinrichtungen und  Biotechfirmen mobil zu sein. „Das schlägt den eigenen Wagen um Längen“, sagt der Mediziner, der den gemieteten smart fortwo  electric drive direkt vor seinem Büro im futuristisch anmutenden Gebäude des Fachbereichs Werkstofftechnik an eine der drei neuen  Ladestationen gehängt hat, während er Nachmittagstermine auf dem Campus erledigt.

San Diego Tijuana

TechCenter Long Beach Das Kompetenzzentrum mit 39 Mitarbeitern beschäftigt sich vor allem mit Emissions- und Ausdauertests sowie der Weiterentwicklung der Brennstoffzellentechnologie.

» car2go ist für den umwelfreundlichen Transport in San Diego ein großer Schritt nach vorn.« Walter ROSENKRANZ, Business Development Manager von car2go San Diego car2go San Diego Seit Ende 2011 ist car2go, das innovative Mobilitätskonzept von Daimler, auch im kalifornischen San Diego vertreten. Das erste Elektro-CarsharingProgramm in Nordamerika bietet Kunden die Möglichkeit, spontan und lokal emissionsfrei in einem von 300 smart ­fortwo electric drive unterwegs zu sein. Weitere car2go-Elektroflotten gibt es beispielsweise in Amsterdam, Portland, Stuttgart und Ulm.

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Inzwischen ist es kurz vor 16 Uhr. Eine letzte Verabredung bei einer örtlichen Anwaltskanzlei wartet, die sich auf Dienstleistungen rund um Unternehmensgründungen spezialisiert hat. „Die Bereitschaft der Menschen hier ist enorm, Gründern wie mir Zugang zu  ihrem Netzwerk zu gewähren – selbst wenn sie aus einer völlig anderen Branche kommen“, berichtet Hölscher. Er hat den Campus  verlassen und fährt auf der Küstenstraße Richtung Süden. Die Flachbauten von Technologiefirmen sind opulenten Villen mit Meeresblick gewichen. „Wer es hier geschafft hat, und davon gibt es augenscheinlich viele“, so Hölscher mit einem Blick auf den erkennbaren Wohlstand links und rechts der Windschutzscheibe, „der fühlt sich verpflichtet, Jüngeren mit guten Ideen die Hand zu reichen. Das habe ich sonst so noch nirgends erlebt.“ Ein örtlicher Unternehmer, der in der Telekommunikationsbranche Erfolg hatte, hilft dem Neurologen, die erste Million US-Dollar an Startkapital einzuwerben und alle anderen organisatorischen Weichen für das eigene Start-up zu stellen, während sich die Hochschule um die Lizenzierung des geistigen Eigentums kümmert. Um 18:30 Uhr parkt Hölscher den smart electric drive in der Innenstadt und schließt die Wohnung auf, wo die Familie bereits auf ihn wartet. Da seine Frau aus Tijuana unmittelbar jenseits der Grenze stammt, verbringt der Mediziner ein bis zwei Tage die Woche in Mexiko. Um rechtzeitig zum Abendessen dorthin zu kommen, steigt der Mediziner zum ersten Mal an diesem Tag als Beifahrer in den eigenen Wagen. Rund 35.000 Fahrzeuge strömen täglich über den Grenzübergang von San Ysidro in die Stadt mit 1,4 Millionen Einwohnern, viele von ihnen Pendler. Dazu kommen Tausende von Fußgängern, die mit der Straßenbahn von San Diegos Innenstadt bis direkt an den Übergang fahren. Wer Familie und Geschäft auf beiden Seiten der stark befestigten und gut bewachten Grenze hat, kann sich die oft stundenlange Wartezeit mit einem begehrten Sonderausweis für die Expressspur sparen. „Das erlaubt es uns, mit den Kindern auch mal schnell für einen Abend zu den Großeltern zu fahren oder in ­Tijuana auszugehen“, sagt Hölscher. Kurz nach 22 Uhr befindet sich die ­Familie auf dem Nachhauseweg nach San Diego. „So nahe an Mexiko mit seiner völlig anderen Kultur und Lebensart dran zu sein, ist einer der vielen großen Vorteile dieser pulsierenden Stadt.“

HYPERLINK Weitere Informationen zu diesem Beitrag unter: technicity.DAIMLER.com/DE/serie-SAn-Diego

• INTERVIEWS  (1) Mit Walter ROSENKRANZ, Business Development Manager von car2go

San Diego.

(2) Mit Mark CAFFERTY, President und CEO der San Diego Regional Economic

Development Corporation.

(3) Mit Sherry RYAN, Professorin für Stadtplanung an der San Diego

State University.

• VIDEO Unterwegs mit Thilo Hölscher und TECHNICITY-Autor Steffan Heuer in  San Diego.

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T - Interview

»Die Mentalität, Neues zu wagen.« Johann Jungwirth, Präsident und CEO von Mercedes-Benz Research & Development North America Vorreiter  Herr Jungwirth, inwiefern ist Kalifornien beim Thema innovative, ­nachhaltige Mobilität ein Vorreiter innerhalb der USA? Kalifornien ist ein anerkannter Hub, was innovative und nachhaltige Mobilität angeht. Beste Beispiele dafür sind die Vorgaben und Auflagen zu Emissionen und Verbrauch, die weltweit an der Spitze liegen und von vielen anderen Staaten übernommen werden, und andererseits kalifornische Unternehmen wie Tesla, Fisker Automotive oder Wheelz, die   innovative Fahrzeuge und komplett neuartige Mobilitätslösungen entwickeln.

Trends Welche kalifornischen Trends halten Sie als Leiter Forschung und Entwicklung für Mercedes-Benz Nordamerika für besonders beachtenswert? Ich verfolge vor allem drei Trends mit großer Aufmerksamkeit: einmal Entwicklungen rund um die Elektrifizierung des Automobils, zweitens Carsharing und drittens die Vorreiterrolle bei Gesetzen zum autonomen Fahren. Kalifornien ist neben Nevada und Florida einer von nur drei Bundesstaaten in den USA, der entsprechende Gesetze erlassen hat. Wir sind mit „­Mercedes-Benz Intelligent Drive“ führend auf diesem Gebiet. Mit unserer neuen E-Klasse, die wir Anfang 2013 in Detroit der Weltöffentlichkeit vorgestellt haben, bieten wir bereits (teil-) autonomes Fahren in komplexen Verkehrssituationen an. Mentalität Wird das, was im Golden State angedacht oder politisch umgesetzt wird, früher oder später seinen Weg in die weltweite Diskussion um die Mobilität von morgen finden? Silicon Valley ist eine legendäre Innovationshochburg, auf die die Welt schaut. Daimler ist als erster Automobilhersteller


Standort  Welche Bedeutung hat

mit einem eigenen Forschungs- und Entwicklungsstandort in Palo Alto seit 1995 vor Ort präsent. Mit Innovationen verhält es   sich allerdings wie mit Start-ups. Nicht jede neue Idee setzt sich weltweit und zum gleichen Zeitpunkt durch. Aber Kalifornien vereinigt eine Handvoll wichtiger Faktoren, um neue Ideen relativ schnell zu realisieren: die Mentalität, Neues zu wagen und   neuen Ansätzen gegenüber offen zu sein,   gepaart mit jeder Menge kreativer Geister, und schließlich die Bereitschaft, Risiken einzugehen und in Neues zu investieren.   So finden viele Innovationen „made in   California“ am Ende doch weltweit Beachtung und Anwendung.

Metropolen  Kalifornien umfasst drei große Ballungsgebiete, von San ­Francisco im Norden über Los Angeles bis zu San Diego im Süden des Staates. Welche ­Gemeinsamkeiten haben diese drei Zentren und wie unterscheiden sie sich? Was alle drei kalifornischen Ballungszentren verbindet, ist der Fokus auf Innovationen und neue Konzepte bei Verbrauchsgütern und Elektronik. Das hat   direkte Auswirkungen auf das Thema Mobilität, sei es bei der Unterstützung von Infrastrukturprojekten zur Elektrifizierung des Automobils bis hin zu Wasserstofftankstellen für Brennstoffzellenfahrzeuge oder Car-to-X-Kommunikation, also der Kommunikation zwischen Fahrzeugen untereinander und mit der sie umgebenden Infrastruktur. Das ist auch von Vorteil, wenn es darum geht, neue Carsharingmodelle aufzubauen. Es gibt aber auch ganz klare Unterschiede zwischen San Francisco, Los Angeles und San Diego. Das liegt an der geografischen Beschaffenheit und am Klima jeder Stadt sowie in ihrer Bevölkerungsdichte und   urbanem Charakter. Jede Stadt ist von ihrem   eigenen, typischen Verkehrsnetz und Verkehrsfluss geprägt. Das führt zu unterschiedlichen Mobilitätsmustern, etwa wie lange man zur Arbeit fährt und welchen Mix an Transportmitteln man benutzt.

curriculum vitae Johann Jungwirth seit 2009 Präsident und CEO von Mercedes-Benz Research & Development North America  (MBRDNA) verantwortlich für alle Forschungs- und Entwicklungs­tätigkeiten von Mercedes-Benz   im Nordamerika, ­darunter Infotainment und   Telematik, Kunden­forschung, Benutzerschnitt­ stellen, Technologie und Gesellschaft seit über 18 Jahren in der Forschung und Ent-  wicklung bei Mercedes-Benz und Daimler tätig

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­ alifornien für Daimler, um Trends K früh­zeitig zu erkennen? Kalifornien besitzt in mehrerlei Hinsicht eine sehr hohe Bedeutung für Daimler. Wir betreiben im Staat drei wichtige ­Forschungsund Entwicklungsstandorte. Einmal unsere Kompetenzcenter für Digital Life, AppEntwicklung und Advanced User Experience Design im Herzen des Silicon Valley: Die hohe Konzentration innovativer Firmen und Start-ups im Silicon Valley erlaubt es uns, fast jeden Gesprächspartner in einer halben Stunde zu erreichen. Zweitens haben wir ein Advanced Exterieur Design Studio in Carlsbad nördlich von San Diego. Unsere Designer dort arbeiten mit ihren deutschen Kollegen eng zusammen, wenn es ­darum geht, vollkommen neue Konzepte zu entwickeln, innovative technische Layouts zu definieren und optimale Designlösungen in die Realität umzusetzen. Der dritte Standort ist unser TechCenter in Long Beach bei Los ­Angeles, einer Hochburg der ­amerikanischen „Car Culture“. Dazu kommt ein kleines Büro am Regierungssitz in Sacramento, das sich mit politischen Themen befasst.

Autokultur Stichwort „Car Culture“: Welche Trends können Sie in Südkalifornien früh aufgreifen? Los Angeles ist nicht nur einer der Top-3-Absatzmärkte für Mercedes-Benz in den USA. Dieser Ballungsraum mit seinen aus unzähligen Filmen bekannten Freeways und Landstraßen entlang des Pazifik besitzt einen besonderen Stellenwert, wenn es um das Thema Autokultur geht. Er ist ein Schmelztiegel der Kulturen und bietet eine einzigartige kreative Umgebung, in der   viele neue Trends angedacht und ausprobiert werden: wie man mit seinem Auto lebt, wie man es zu einem Teil seines persönlichen Lifestyles macht. Da lohnt es sich, den Finger am Puls zu haben, um neue Entwicklungen schnell zu erkennen und aufzugreifen,   besonders beim Advanced Exterior Design. 49


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Gemeinsam STATT GETRENNT

PROJEKTOR

SHARED SPACE  Hinter der Zukunftsvision für den ­Stadtverkehr ­verbirgt sich die gemeinsame Nutzung öffentlicher Flächen mit w ­ eitgehend fließenden Grenzen. Fußgänger, Radfahrer, Autos, öffentlicher ­Nahverkehr, ­Nutzfahrzeuge: Alle teilen sich die Stadt. Statt der Verkehrsregelung mittels Ampeln und Schildern gilt das Gebot gegenseitiger Rücksichtnahme und d­ irekter Verständigung unter gleichberechtigten Verkehrsteilnehmern. So entstehen neue soziale Räume, und die Sicherheit im Straßenverkehr wird verbessert.


TECHNICITY 02 2013 Lesen Sie in der nächsten Ausgabe über das International Finance Center (IFC) in Hongkong – ein Knoten­p unkt urbaner Mobilität, an dem ein viel­fältiger Verkehrs­ mix und zukunfts­weisende Stadtplanung zusammenkommen.

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