STADTBLATT 2012.03

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buch ZU SCHNELL GESCHRIEBEN

ATEMLOS

BEINHART

KEINE CRIMESTORY

Ein tiefer Fall

Silber

Eine Frau bei 1000 Grad

Jan Seghers’ Geisterbahn

Bernhard Kegel F Ja, es geht. Wer auf der Website des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung der Frage folgt „Wo ist Polarstern?“, kann den Forschungseisbrecher per Kartenplot verfolgen: derzeit ist er unterwegs nach Punta Arenas. Auf Kegels Faktentreue ist eben Verlass. Seine MeeresforschungsThriller sind kenntnis- und lehrreich – Kegel ist promovierter Biologe. Und sie sind spannend. Auch diesmal geht es um Biologieprofessor Pauli. Und um wissenschaftliche Ethik, denn Evolutionsforscher Moebus hat angeblich eine neue Art von Leben entdeckt und versucht nun, aus seinem revolutionären Tiefsee-Fund egoistisch Profit zu schlagen. Die Folge: es gibt Tote. Starker Plot. Leider kann Kegel das erzählerische Niveau des Vorgängers „Der Rote“ nicht ganz halten. Wir sehen nur Büros und Labore. Und die paar Halbsätze, die uns an Bord der „Polarstern“ bringen, reißen das Ruder nicht herum.

Steven Savile F Ein Giftgasanschlag in Berlin, vergiftetes Wasser in Rom, eine Serie von spektakulären Selbstmorden in europäischen Großstädten und ein Papst, der während eines Deutschlandbesuches in Gefahr gerät: Der britische Autor Steven Savile gibt seinen Lesern keine Zeit zum Luftholen. „Silber“ ist ein Roman, dem es nicht um einen fein gesponnenen literarischen Anspruch geht. Savile geht es um Spannung. Die Protagonisten seines Romans sind Mitglieder eines geheimen britischen Spezialkommandos, deren Job darin besteht, die Kohlen aus dem Feuer zu holen. Ohne Rückendeckung vom Staat. Wie es sich gehört, hat ein jeder von ihnen ein Trauma, der gebrochene Held ist schließlich immer interessanter als der in der strahlenden Rüstung. Und so schwärmen sie aus, um einen Feind zu jagen, der es auf die katholische Kirche abgesehen hat und sich auf Schriften bezieht, die behaupten, Judas sei der wahre Messias. Es kracht, es knirscht. Genrefreunden steht eine lange LeseCHRISTIAN LUKAS nacht bevor! Cross Cult, 22 EUR

Hallgrimur Helgason F Herra steht kurz vor ihrem Ableben und vertreibt sich die Zeit, körperlich dahin vegetierend, aber geistig hellwach, mit mehreren Facebook-Identitäten, in denen sie Männer hinters Licht führt. Sticheleien gegenüber ihren Pflegekräften und Erinnerungen an ihr Leben zwischen Ehemännern, Kindern, Verlust und Krieg halten sie agil. Nebenbei reserviert sie dann auch schon einmal ihre eigene Einäscherung im Krematorium… Nicht einfach, nicht schön – eher derb und grausam kommt Helgasons neues Werk daher. Insbesondere das letzte Drittel beschreibt Kriegsverbrechen schonungslos und verstörend: Unzählige Vergewaltigungen, an die die Protagonistin sich emotionslos und abgestumpft erinnert… das ist harte Kost und bleibt beim Leser hängen. Das Buch hierauf zu beschränken, wäre aber zu kurz gesprungen. Faszinierend führt es vor, welche Spanne von Entwicklungen einzelne Menschen im 20 Jahrhundert erleben konnten – von Hunger und den ersten Autos bis hin zu Überfluss. NANCY PLASSMANN Tropen, 19,95 EUR

Matthias Altenburg F Altenburg hat einen der besten Romane der 90er Jahre geschrieben (Landschaft mit Wölfen) und sich unter dem Pseudonym Seghers Kriminalromanen gewidmet. Seit 2006 schreibt er ein Internet-Tagebuch: Jan Seghers’ Geisterbahn, Tagebuch mit Toten. Dieses Tagebuch liegt nun in Buchform vor. Obwohl der Name Seghers und Tote im Titel vorkommen, hat das alles nichts mit einem Krimi zu tun. Die Toten sind verstorbene Künstler und andere Prominente, die an ihrem Todestag erwähnt und so vorm Vergessen bewahrt werden. Wer LiteratenTagebücher im Allgemeinen oder Altenburg im Speziellen mag, der ist hier gut aufgehoben. Hier ist alles drin, was ein gutes literarisches Tagebuch ausmacht. Werkstattbericht, Literaturbetriebsinterna und natürlich des Autors tägliche Befindlichkeiten. Wie in jedem Tagebuch findet man auch hier Belanglosigkeiten, die aber immer wieder von wunderbaren poetischen Fundstücken überRALF GOTTHARDT strahlt werden. Rowohlt, 24,95 EUR

HARFF-PETER SCHÖNHERR

Mareverlag, 19,90 EUR Lesung: 19.3., BlueNote

buch des monats Vom Ende einer Geschichte Julian Barnes FIn welchem Jahrzehnt war deine Jugend? Kommt darauf an, wo du lebst, würde Tony sagen, der Erzähler. Ein alter Mann, der eigentlich von Beginn an eher trübsinnig zurückschaut. Einer von seinen engsten Schulfreunden, der brillanteste Kopf ausgerechnet, brachte sich seinerzeit um. Da er vorher was mit Tony‘s Ex-Freundin hatte, war für den alles klar. Dann kommt durch einen Erbfall alles wieder hoch – Tony erhält Auszüge des Tagebuchs und einen eher unerwünschten Kontakt mit dieser Frau – und löst eine dramatische Neubewertung aus. „Man lebt jahrelang mit denselben Erinnerungsschleifen“, schreibt Barnes, und man hat bei diesen Sätzen gleich das Gefühl, es gehe um mehr als private Lebenslügen. Unruhe, so lautet das letzte Wort des Romans, und so ist auch das Gefühl beim Lesen. Wartet nicht zu lange. GEORGE WEBBER Kiepenheuer & Witsch, 18,99 EUR Hörbuch: Argon, 19,95 EUR

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im seitensprung Ron Winkler (Hg.) „Schneegedichte“. Faszinierend, wie unterschiedlich sich die Dichter dem Naturphänomen nähern – mal feiern sie die Natur, dann beweinen sie eine Liebe, oder experimentieren mit dem Wort selbst. Eine Anthologie mit Vertretern der Moderne und Gegenwart. Schöffling & Co., 14,95 EUR Louis Begley „Schmidts Einsicht“. Als Überlebender des polnischen Holocaust kam Begley erst spät zu seiner, ja, humoristischen Figur Schmidt, den Jack Nicholson so genial im Kino verkörpert hat. Nun ist Schmidt zehn Jahre älter – aber umso radikaler im Umgang mit seinem Amerika. Brillant! Suhrkamp, 22,90 EUR Adam Soboczynski „Kleist – Vom Glück des Untergangs“. Vor lauter KleistBiografien im Kleist-Jahr 2011 hat man den merkwürdigen Heinrich von kaum noch wahrgenommen. Mit etwas Abstand zum 200. Todestag liest man die kurzweilige (90 Seiten) Studie des Zeit-Redakteurs in einem Rutsch. Luchterhand, 14,99 EUR MARS

zum anhören Sarah Kuttner „Wachstumsschmerz“. Da man sie leider im Fernsehen kaum noch sieht, ist es schön, Sarah Kuttner wenigstens zu hören. Ihre Vergangenheit als Moderatorin bei VIVA und MTV prädestiniert sie für eine Autorenlesung – Text und Stimme werden eins. Argon, 5 CDs, ca. 15 EUR Alexandre Dumas „Die drei Musketiere – Das Hörspiel“. Gegenüber dem Hörbuch ist das Hörspiel, gerade wenn die Vorlage wie in diesem Fall ein Kinofilm ist, bombastischer. Die Synchronstimmen der Stars, die original Filmmusik, dazu ein zeitloses Abenteuer – perfekt. Der Hörverlag, 2 CDs, ca. 15 EUR Eugen Ruge „In Zeiten des abnehmenden Lichts“. Ulrich Noethen liest den „besten deutschsprachigen Roman 2011“ (Deutscher Buchpreis). Und das ist vielleicht ein größerer Wurf als die Quelle selbst. Ruges Familien- und Deutschlandepos wird dank Noethens Stimme greifbarer. Argon, 10 CDs, ca. 30 EUR MARS

auf literatour „Von Lodz nach Bad Iburg”. Autobiografische Erinnerungen von Harry Jahns, 1.3., Steinwerk Ledenhof, Renaissancesaal Nagel: „Best of – Lesung aus alten & neuen Texten“. Held Meise auf dem Weg ins Moseltal, 2.3., Lagerhalle, Spitzboden „Japanische Märchen und Tanka“ zu Marimbaklang und Iaido. Mit Werner Deflorian, Hermann Helming und Christian Haarmann, 2.3., Lagerhalle Poetry Slam, 8.3., Lagerhalle „Sonnentochter und Sternenfrau“. Geschichten von mutigen, schönen und klugen Frauen mit der Erzählerin Sabine Meyer, der Tanzgruppe Traumzeit und Anne-Marie Grage (Akkordeon), 9.3., Steinwerk Ledenhof, Renaissancesaal „Aus fernen Ländern“. Märchenhafte Reise um die Welt mit Erzählerin Sabine Meyer. 18.3., Steinwerk Ledenhof, Renaissancesaal Bernhard Kegel liest aus „Ein tiefer Fall“. Diesmal geht es nicht um Riesenkalmare, sondern um Mikrolebewesen, 19.3., BlueNote des Cinema-Arthouse Andreas Weber: Radau“, 21.3. Lagerhalle Rafik Schami: „Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte“, 29.3., Lagerhalle Frank Schulz: „Onno Vietz und der Irre vom Kiez“, 30.3., Lagerhalle Oliver Korittke und Michael Nast: „Die besseren Berliner“, 31.3., Haus der Jugend


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