Brixner 307 – August 2015

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„Es geht um Menschen“ BISCHOF IVO MUSER ruft in einem offenen Brief zu mehr Solidarität mit den Flüchtlingen auf: „Es ist keine Herausforderung, die allein die politischen und kirchlichen Institutionen betrifft – jeder und jede Einzelne ist gefragt, es braucht den Beitrag aller.“ Im Gespräch mit dem „Brixner“ kritisiert der Bischof vor allem auch die Gesprächskultur in Internetforen. Herr Bischof, vor einigen Wochen haben Sie in einem offenen Brief die Pfarreien und Vereine dazu aufgerufen, Schritte zur Unterstützung von Flüchtlingen zu ergreifen. Was erwarten Sie sich von Ihren Pfarreien konkret? BISCHOF IVO MUSER: In erster Linie geht es um Sensibilisierung: Hinschauen und nicht wegschauen! Die Flüchtlingsthematik ist ein Phänomen, das uns noch sehr lange beschäftigen und uns alle

Als Einzelne fühlen wir uns alle überfordert, eine Patentlösung hat niemand. Unsere Einstellung zu Problemen, zu Situationen und vor allem zu Menschen beginnt aber immer in unseren Köpfen. Wie wir über etwas reden, denken und auch mit unseren Worten an dieses Problem herangehen – daran muss man uns erkennen. Unser Denken ist nie neutral, und unsere Sprache verrät uns immer. Mich erschreckt gerade deshalb auch oft, was im Internet unter

Flüchtlingsproblem darf man nicht nur den Süditalienern und den Griechen überlassen – es handelt sich hier um ein europäisches Problem, um nicht zu sagen, ein weltweites Problem. Mir haben Missionare oder Bischöfe erzählt, was sich derzeit in Afrika abspielt, und das ist wirklich entsetzlich. Wir erfahren aber kaum etwas von den Hintergründen, die zu dieser Migrationswelle geführt haben. Tendenziell wird bei uns die Problematik aufgebauscht, was man

„Es geht hier nicht um Rechnungen, Berechnungen und Befürchtungen, sondern um Menschen!“_ Bischof Ivo Muser miteinander herausfordern wird – als Institutionen, aber auch als Einzelne. Wichtig ist, dass wir eben hinschauen, nicht wegschauen, und dass wir all jene unterstützen, die versuchen, eine vernünftige und menschenwürdige Lösung zu finden. Wir können und dürfen nicht so tun, als ob es dieses Phänomen nicht gäbe – ob es uns nun passt oder nicht. Denn hinter den Zahlen, mit denen wir jeden Tag beliefert werden, stehen Schicksale, ganz konkrete Schicksale. Und um die geht es!

Anonymität geschrieben wird. Dagegen müssen wir wirklich Partei ergreifen, und darin sehe ich eine wichtige Aufgabe der Kirche.

am Beispiel Jordanien erkennen kann: Jordanien ist ein kleines und armes Land, und trotzdem sind dort eine Million Flüchtlinge untergebracht.

Ist es zu unterstützen, dass in Deutschland Aktivisten dazu aufrufen, Flüchtlingen auf ihrem Weg über die Grenze nach Deutschland zu helfen – auch wenn sich die Privatpersonen bei diesen als „Urlaubsfahrten“ getarnten Überfahrten strafbar machen?

In Ihrem Brief rufen Sie jeden und jede Einzelne dazu auf, einen Beitrag zu leisten – also auch die Privatpersonen. Das ist ein netter Aufruf, aber welche Möglichkeiten gibt es für die Bevölkerung, helfend einzugreifen?

Schauen Sie, es geht nicht darum, illegal zu handeln. Wir müssen uns bewusst werden, dass das, was in Europa heute zum Teil vor sich geht, unwürdig ist. Man schiebt diese Menschen einfach herum, und das geht nicht. Das

Derzeit spricht man in Deutschland von 500.000 Flüchtlingen bis Ende 2015, es gibt zum Beispiel in Deutschland 500 Asylanträge pro Tag, 250.000 Asylanträge sind noch nicht bearbeitet. Wenn täglich 500 Asylanträger kommen und diese gut und menschenwürdig untergebracht werden sollten, müsste dafür, vereinfacht dargestellt, in Deutschland jeden Tag ein Wolkenkratzer gebaut werden – oder jede Woche ein Dorf wie Völs am Schlern. Der Vergleich mit Jordanien ist natürlich stimmig, aber er hilft uns in diesem Sinn

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nicht weiter, weil das Phänomen inzwischen wirklich erschreckende Ausmaße erreicht hat. Das stimmt. Natürlich können wir diesem Phänomen nur gerecht werden, wenn wir auf verschiedenen Ebenen versuchen zu helfen oder einzugreifen und das Problem an der Wurzel packen. Wie schaut es zum Beispiel ganz konkret aus mit der Politik der sogenannten Industrienationen gegenüber der Dritten Welt? Was tun wir dort eigentlich? Was geschieht immer noch an Ausbeutung? Das sind alles Fragen, die wir nicht mehr einfach vor uns herschieben können. Es ist ein globales Problem, dass zum Beispiel – und das ist eine Tatsache – 90 Prozent der Weltressourcen von 10 Prozent der Weltbevölkerung verbraucht werden. Diese Probleme müssen angegangen werden. Wenn man sich aber als Einzelner diesen Situationen stellt, ist man völlig überfordert. Man spürt ganz stark die Grenzen seines eigenen Handelns, die Ohnmacht – also schauen wir weg, weil wir überfordert sind. Ich sage aber: Wir müssen hinschauen, auch aus egoistischen Gründen! Wie meinen Sie das? Aus egoistischen Gründen deshalb, weil diese Völkerwanderungen sowieso nicht aufzuhalten sind. Deswegen ist es wichtig, dass die Migration gelingt, dass Integration geschieht und dass das Problem friedlich bewältigt wird. Es geht nicht nur darum, anderen zu helfen, sondern ei-

Fotos: Oskar Zingerle

Politik & Gesellschaft

INTERVIEW MIT BISCHOF IVO MUSER ZUM THEMA FLÜCHTLINGE


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