Sml referenzbuch 01

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Eine Vorarlberger Familie in der Steiermark Die Sieber-Geschwister




Regina, älteste Tochter von Hedwig

— Meine Brücke in eine längst vergangene Welt Plazidus Sieber, mein Großvater, kam am 11. Februar 1894 als fünfzehntes von achtzehn Kindern auf der Fluh, einem Bergdorf über Bregenz in Vorarlberg, zur Welt. Ein gleichnamiger Bruder war ebenso wie neun weitere Geschwister früh verstorben. Die Eltern bewirtschafteten einen Bauernhof, von dem klar war, dass ihn nur ein Sohn erben würde. So musste sich mein Großvater mit der Idee anfreunden, seine Heimat zu verlassen und anderswo sein Glück zu suchen. Der junge Plazidus war, so sagt man, ausgesprochen lebensund unternehmungslustig. Er spielte Mundharmonika und scheute keine Mühe, um Tanzveranstaltungen im Tal zu besuchen – per pedes, versteht sich. Auf sein Äußeres soll er großen Wert gelegt haben, was ihm, wie ich gehört habe, sehr zugute kam, als er um meine Großmutter warb. Dabei wäre es um ein Haar nichts geworden mit den beiden. Kurz vor der Hochzeit lernte er nämlich eine andere Frau kennen, die ihm für seine wirtschaftlichen Vorhaben besser geeignet erschien. Als Ehrenmann hielt er jedoch das Eheversprechen, das er meiner Großmutter gegeben hatte, – eine kluge Entscheidung, wie sich herausstellen sollte. Die beiden waren nicht nur in praktischen Dingen ein ideales Paar, das allen Widrigkeiten des Lebens trotzte. 4


Bauer trifft Fräulein Nach der Schule perfektioniert Agathe ihre Kochausbildung im Gasthaus einer Kusine, wo sie sich auch manchmal als Kellnerin betätigt. Eines Tages, sie bedient gerade im Garten, spaziert zufällig der junge Plazidus bei der Gartentür herein. Mit seinem Spazierstock und seinem modernen Girardi-Hut ist er eine elegante Erscheinung. Wie es seiner leutseligen Art entspricht, verwickelt er die junge Kellnerin in ein angeregtes Gespräch. Plötzlich naht ein Gewitter – da muss sich Agathe beeilen, die Wäsche abzunehmen! Zwangslage ist Zwangslage, da heißt es Hand anlegen. So tut Plazidus etwas, was er noch nie in seinem Leben getan hat und auch nie mehr tun wird: Er hilft beim Abnehmen der Wäsche! Später fragt Agathe ihre Kusine, wer denn dieser feine Herr gewesen sei? Daraufhin erfährt sie drei Dinge, die ihr ganz und gar nicht in den Kram passen: Erstens – er heißt Plazidus! Wie kann man nur so heißen? Zweitens – er ist Bauer! Als Wolfurter Bürgertochter ist Agathe durchaus standesbewusst. Sie möchte alles, nur keinen Bauern. Drittens – er kommt von der Fluh! Gigritzpatschen ist eine Großstadt dagegen. Plazidus hat jedoch hochfliegende Pläne. Er wird sich außerhalb der engeren Heimat eine Existenz aufbauen. Sein Ehrgeiz und sein Geschick sind weithin bekannt. Natürlich weiß er, dass viel harte Arbeit auf ihn wartet. Ob ein zartes Persönchen wie Agathe da die Richtige ist? Aber Plazidus ist Agathes große Liebe, gleich wo er herkommt oder wie er heißt. Und er hat ihr die Ehe versprochen, auch wenn in Lauterach vielleicht besser geeignete Frauen zu finden wären. Er hält Wort und heiratet sie. Zum Glück, denn mit Agathe trifft er eine ausgezeichnete Wahl. Die beiden führen eine gute Ehe und sind einander bis an ihr Lebensende liebevoll zugetan.

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Meine Großmutter Agathe Schertler wurde am 22. Februar 1897 in Wolfurt als drittes von acht Kindern einer Bürgerfamilie geboren, von denen sieben das Erwachsenenalter erreichten. Ihre Eltern betrieben neben der damals üblichen kleinen Landwirtschaft eine Stickerei, die später Großonkel Seppl und danach dessen Tochter Rosemarie übernahm. Agathes Mutter, Anna Maria, verstarb nach langem Leiden früh an Lupus, und so musste der Vater, Gebhard Schertler, die Kinder gemeinsam mit seinen älteren Töchtern Rosa und Anna allein durchbringen. Anders als ihr späterer Mann, der seine hervorragenden praktischen Kenntnisse, vor allem das geschickte Rechnen, allein dem Dorflehrer verdankte, besuchte meine Großmutter die Bürgerschule und vertiefte ihre Ausbildung später in einem Hotel in Schruns. Dort erwarb sie hervorragende Kochkenntnisse, die den Hof der Siebers zu einem gesuchten Arbeitsplatz für Knechte und Dienstmädchen machen sollten. Meine eigenen frühesten Eindrücke und Erinnerungen an „daheim drinnen“, wie meine Mutter ihr Elternhaus nannte, reichen in eine Zeit zurück, in der es die Familie Sieber bereits „geschafft“ hatte. Oft wurde über den Umbau des Wohnhauses gesprochen, das man in den fünfziger Jahren aufgestockt hatte. Das neue Haus verfügte nun über ein prestigeträchtiges „Fremdenzimmer“, das nur über einen langen Gang erreichbar war. Gemeinsam mit meiner Schwester durfte ich in diesem Zimmer, das normalerweise den Vorarlberger Gästen vorbehalten war, ein paarmal übernachten. Manchmal glaube ich, dass meine heutige Reiselust durch diese „auswärtigen“ Übernachtungen erstmals geweckt wurde. Ich erinnere mich an die dicken, straffen und blütenweiß bezogenen Polster und an den grandiosen Blick in der Früh, der über die roten Pelargonien vor dem Fenster auf die Straße darunter zum gegenüber liegenden Schlossberg führte. Auch das lindgrüne Badezimmer und der strenge Duft, ja sogar die braune Flasche des Rasierwassers meiner beiden Onkel sind mir noch ganz präsent. 6


Spazierten wir mit unserer Mutter von unserer Wohnung in Hafendorf oder sonntags von der Kirche aus zu den Großeltern, kamen wir am Schloss Wieden vorbei. Das vor der Renovierung stark baufällige Schloss, das mein Großvater von den Grafen Stubenberg seines Kellers wegen als Mostlager zu den landwirtschaftlichen Gründen dazu gekauft hatte, erschien mir als Kind wunderbar geheimnisvoll, und ich erblickte darin einen klaren Hinweis auf den Wohlstand der Familie Sieber. So wurde uns erzählt, dass Maria Theresia und Papst Pius VI1 auf der Durchreise hier Halt gemacht hatten. Der Klang dieser Namen und die ehrfurchtsvollen Ausführungen meines Vaters, der die Handwerkskunst früherer Generationen bewunderte, weil sie ohne moderne Technik statische Probleme gemeistert und riesige Dachstühle nur mit Holznägeln gezimmert hatten, verstärkten die Faszination. Kamen wir dagegen mit dem Auto, parkten wir hinter dem Haus und gelangten durch einen geschwungenen Torbogen mit schmiedeeisernem Gitter zum Wohnhaus – auch das ein erhebender Anblick für ein kleines Kind.

Blick durch den Torbogen auf das – damals schon renovierte – Schloss Wieden

Das tägliche Leben bei den Siebers war nicht ganz so geheimnisvoll und vornehm. Ständig standen alle Türen offen, und im Winter erwies sich auch das renovierte Wohnhaus noch als zugige Zimmerflucht, die wenig Gemütlichkeit aufkommen ließ.

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1750 Maria Theresia mit Gefolge auf dem Weg zur Garnison in Pettau

1782 Pius VI auf dem Weg zu Josef II, mit dem er wegen der Auflösung vieler Klöster verhandeln wollte

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Dafür herrschte in der warmen Küche ein ständiges Kommen und Gehen, denn meine Großmutter führte ein bekanntermaßen gastfreundliches Haus. Ich versuchte schon früh möglichst viel von den Gesprächen zu erhaschen, konnte mir auf viele Erzählungen allerdings keinen Reim machen. Ein heimeliger Ruhepol in all dem Trubel war unsere kinderlose Großtante Rosa aus Vorarlberg, die mehrere Winter in Kapfenberg verbrachte. Ich sehe sie noch ganz deutlich vor mir, angenehm mollig, in einem grauen Rock und rosa Wollpullover. Sie nahm uns auf den Schoß und spielte mit uns „Böckle, Böckle, ditsch“. Dieses Spiel bestand in nichts anderem, als dass man die Köpfe nach Ziegenbockart fest aneinander stieß. Sieger war, wer es länger aushielt, und – Tante Rosa muss pädagogisch begabt gewesen sein – das waren immer wir.

Tante Rosa 1948

Auf der Bank vor der Küche versammelten sich nach der Arbeit oder auch am Wochenende ärmere Schichtarbeiter, die sich zwar kein Bier, wohl aber den bekannt guten Sieber-Apfelmost leisten konnten. Die Einnahmen daraus gehörten meiner Großmutter. Sie bewahrte sie in einer Schale in einem damals unerhört modernen Nirosta-Küchenschrank auf. Als Kind hatte ich immer den starken Eindruck, sollte sich jemand, und sei es mein Großvater, an diesen Münzen vergreifen, würde es ihn oder sie die schlimmen Finger oder gleich die ganze Hand kosten. Die Mostkundschaft war einerseits wunderbar aufregend, weil die – aus der Sicht eines Vorschulkindes – steinalten Männer von so fremdartigen Dingen wie vom Böhler-Werk und ihrer schweren Arbeit am Hochofen redeten und wohl auch die eine oder andere private Komödie oder Tragödie ausplauderten. Andererseits fürchtete ich mich panisch vor denselben Leuten, sobald sie betrunken zur Straße hinunter torkelten. Als einmal einer der Trun-

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kenbolde auf diesem Weg, von dem mich zum Glück ein Zaun und eine dichte Hecke trennten, im Rausch umfiel und einfach liegenblieb, getraute ich mich stundenlang nicht, mein Versteck unter einem Ribiselstrauch zu verlassen, bis ich mir endlich ein Herz fasste und davonrannte.

Den Duf t dieser Phloxhecke habe ich als Kind geliebt Mit meinen Schwestern Annemarie und Veronika

Mein Großvater muss schon länger unter einem unerkannten Diabetes gelitten haben. Jedenfalls erscheint er mir in meiner Erinnerung, bevor er in den zurückgezogenen Dämmerzustand abglitt, der damals schlicht Verkalkung genannt wurde, als ziemlich cholerisch. Ich weiß noch, dass er mehrmals seine längst erwachsenen Söhne anschrie, was nicht auf beide denselben Eindruck machte. Der Generationenkonflikt war zu Beginn der sechziger Jahre zwar längst noch nicht in der Provinz angekommen, doch der „zivile Widerstand“ meines Onkels Richard, der das Leben insgesamt nicht allzu ernst zu nehmen schien, beeindruckte mich als Kind tief. Onkel Richard lieferte uns laufend Munition gegen all die lästigen Erwachsenen, die, sobald wir den Windeln entwachsen waren, mit dem „Ernst des Lebens“, sprich der Schule, drohten. Als wir später „Florentine“ von James Krüss lasen, münzte ich das Großmuttergedicht gleich auf Onkel Richard um: 9


„Wer so einen pfundigen Onkel hat, der lacht auch mit Seife im Mund. Nur wohnt er am anderen Ende der Stadt und das ist zum Weinen ein Grund.“ Mein Onkel Helmut, der schon zehn Jahre vor meiner Geburt an Typhus gestorben war, schien trotzdem irgendwie ständig präsent zu sein. So sieht man meine Großmutter auf kaum einem Foto aus der Zeit nach seinem Tod entspannt lachen oder auch nur lächeln. Sie und ihr Mann hatten ihren Lebenstraum, als gemachte Leute nach Vorarlberg zurückzukehren, mit ihrem Sohn in Kapfenberg begraben müssen. Dank Onkel Herbert war immer für Unterhaltung und Zeitvertreib gesorgt. Er war sehr an Geografie interessiert und auch wirklich beschlagen auf diesem Gebiet. In seinen Quizstunden über Länder und Hauptstädte, Gebirgszüge und Flüsse konnte man leicht die quälenden Turnübungen vergessen, bei denen er uns zum Springen nötigte – nicht etwa möglichst weit oder über ein Hindernis. Nein, er wollte, dass wir mit unseren kurzen Beinen aus dem Stand vom Boden auf einen Sessel hüpften. Wer weiß, ohne die ganze schwere Arbeit auf dem Bauernhof hätte er, der immer wissen wollte, wer denn nun am schnellsten, stärksten und mutigsten sei, vielleicht selbst den einen oder anderen Rekord aufgestellt. Rekordverdächtig ist jedenfalls eine sportlich anspruchsvolle Radtour bis nach Norddeutschland, mit der er seine jungen Neffen an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit brachte. In besonders angenehmer Erinnerung habe ich die üppigen Vorräte im Hause Sieber. Sie waren in einer Zeit, in der wirklich noch jeder Groschen umgedreht werden musste, beileibe keine Selbstverständlichkeit. Auch bei uns daheim im Töllergraben war damals noch eher Schmalhans Küchenmeister, während meine Großmutter offenbar schon aus dem Vollen schöpfen konnte. 10


Zu den Essgewohnheiten im Hause Sieber fällt mir ein Reim aus einem meiner liebsten Kinderbücher, Försterei Waldeslust, ein: „So kocht sie die Kartoffelklöße stets in Kanonenkugelgröße. Und nur ein ganz gesunder Magen kann solche schwere Kost vertragen.“ Allerdings kamen keine Kartoffelknödel, sondern hauptsächlich Fleischgerichte auf den Tisch, und zwar nur vom Schwein oder Rind. Hühner galten in der Familie als unappetitlich und wurden nur als Eierlieferanten akzeptiert. Mit dem Federvieh wollte sich niemand abgeben, und darauf legte man Wert! Nur Onkel Richard erbarmte sich der gackernden Meute. Er züchtete sogar eine ganz spezielle, schwarze Rasse, die selbst meinem Großvater Respekt abnötigte. Auf den Teller schafften es aber auch diese Aristo-Hühner nie, sondern wurden wie alle anderen nach gebührender Eierspende an bedürftige Interessenten verschenkt. Die üppigen Fleischgerichte hatte ich übrigens meinem Großvater zu verdanken, der sich in seiner Jugend aus dem herrschenden Mangel heraus selbst versprochen hatte, er werde einmal so wirtschaften, dass immer genügend Fleisch auf den Tisch käme. Bei Siebers gab es nicht viel zu lesen, doch die Familie hatte einen Bauernkalender abonniert, in dem unter anderem die politischen Größen der Zeit abgebildet und beschrieben waren. Über Chruschtschow und Churchill, Adenauer und De Gaulle war ich daher schon lange vor meinem Schuleintritt genauestens im Bilde. Das Radio in der „Kanzlei“, einem kleinen Raum neben der Küche, spielte ebenfalls eine wichtige Rolle in meinem Kinderleben. Daraus erfuhren wir 1963 von drei Todesfällen, die die Erwachsenen offenbar tief erschütterten: Bundespräsident Schärf starb im Mai, Johannes XXIII im Juni und John F. Kennedy im November dieses selben Jahres. Vor allem das Ableben des Papstes und des „guten“ 11


US-Präsidenten warf in der Familie die bange Frage auf, wie es mit der Welt wohl weitergehen würde. Heute frage ich mich manchmal, woher dieses Gefühl meiner frühen Jahre stammte, durch die Zugehörigkeit zur Familie Sieber etwas Besonderes zu sein. Meine Großeltern kamen noch aus einer anderen, längst vergangenen Welt. Mag sein, dass ich ihre Denkweisen und Beweggründe nicht verstehen konnte, doch sie beeindruckten mich durch ihre Ernsthaftigkeit und ihren sorgfältigen Umgang mit Menschen und Dingen. Das vermittelte mir als Kind ein starkes Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit.

Annemarie, zweitälteste Tochter von Hedwig

— Daham drin „Daham drin“ – so nannte unsere Mutter ihr Elternhaus. Für uns, ihre drei erstgeborenen Töchter, verbarg sich in diesem Ausdruck eine zweifache Botschaft: Das „Daham“ unserer Mutter war nicht die damalige Wohnung der Familie Weinhandl am Töllergraben 3, sondern ihr Elternhaus in der Wiener Straße 69. Das „drin“ markierte das Zentrum der Welt, das Schwarze der Zielscheibe, die heimatliche Höhle, in die sie uns täglich schleppte. Dort konnte sie, die das Gefühl hatte, zu früh Mutter geworden zu sein, die Kinder der Großmutter anvertrauen und selbst wieder zur Tochter werden. Tagtäglich legten wir mit unserer Mutter den halbstündigen Weg nach „daham drin“ zu Fuß zurück. Ich weiß noch, wie ich verträumt und immer zu langsam neben dem Kinderwagen, in dem meine jüngere Schwester Veronika thronte, herzockelte, auf der anderen Seite meine „große“ Schwester Regina, die der Welt schon damals 12


mit wacher Aufmerksamkeit begegnete und sich auf Fakten und Geschehnisse ihren klugen Reim machte. „Daham drin“ erwartete uns ein buntes, lautes Treiben mit vielfältigen Geräuschen, Gerüchen und Ritualen. So unterschiedlich wir die Atmosphäre auch wahrgenommen haben mögen, einige Eindrücke liegen doch über allem. Einer der prägendsten war sicher unsere Großmutter in der Küche, die pausenlos Mostkunden bediente, Kaffee kochte und Jausen „richtete“ und ihre Enkelinnen mit einem freundlich-distanzierten, nicht einer gewissen Hintergründigkeit entbehrenden Interesse wahrnahm.

Großmama mit meiner Schwester Martina 1966

Wir durften ihr langes graues Haar, das sie normalerweise zu einem Knoten aufgesteckt trug, zu immer neuen, verwegenen Frisuren türmen, die sie, sobald sie sich von ihrem Platz neben dem Herd mit seinen matt spiegelnden Rändern erhob, mit einem Federstreich und leicht peinlich berührtem Blick wieder zunichtemachte. Unsere Kämmattacken erduldete sie ergeben und in sich versunken. Vielleicht dienten sie ihr in ihrem hektischen Alltag als willkommene Meditationspausen, als Entschuldigung dafür, kurz innezuhalten und die Welt zu betrachten. 13


Das Reich unserer Großmutter war die Küche. Sie war die Herrin über die Mostkassa – eine Schüssel mit Kleingeld, die sie – etwas über unserer Augenhöhe – in einem Nirostaschrank aufbewahrte. Wir liebten es, das Geld zu zählen und mit den Händen in dem Berg von Schilling- und Groschenmünzen zu wühlen. Es waren sogar Fünf- und manchmal auch Zehn-Schilling-Stücke darunter! Da niemand auf die Idee kam, die Kinder an diesem Mostgeldschatz zu beteiligen, kam ich nicht umhin, die Sache selbst in die Hand zu nehmen: In einem unbeobachteten Augenblick schnappte ich mir eine Handvoll Münzen, versteckte sie unter dem Polster auf der Küchenbank und meldete dann aufgeregt meinen „Fund“. Ich durfte ihn zwar behalten, aber richtig froh wurde ich nicht damit: Die Erwachsenen warfen sich vielsagende Blicke zu, und mich beschlich das Gefühl, mir die heiße Ware unehrenhaft angeeignet zu haben. Nicht ernst genommen zu werden, hinterließ bei mir ein flaues Gefühl. Das Mostfass mit seinem stets tropfenden Zapfhahn stand auf einem Tisch neben der Eingangstür. Die Mostkunden kamen entweder mit großen Flaschen, in die der begehrte, säuerlich riechende Saft abgefüllt wurde, oder sie bekamen Krügel in die Hand gedrückt und ließen sich auf der Bank vor dem Haus nieder. Gegenüber von dieser Bank befand sich ein niedriges Steinmäuerchen, und wenn der Platz auf der Bank nicht reichte, breitete sich die Gesellschaft dorthin aus. Auch Stehplätze waren durchaus begehrt. An diesem Ort wurden die Neuigkeiten aus der Umgebung abgehandelt. Wir Kinder beobachteten die Szene am liebsten aus dem Hintergrund, denn wenn wir uns zeigten, konnten wir leicht zum Ziel des sprichwörtlichen Sieber´schen Stolzes werden, und das war uns doch etwas unangenehm. Unser Großvater, der absolute Chef im Hause Sieber, war der Herr der Jause. Die Plätze an seiner Seite während dieser Mahlzeit waren heiß begehrt. Vor sich auf dem Tisch ein Holzbrett mit Speck, Wurst, Emmentaler Käse und manchmal sogar Essiggur14


ken, verteilte er seine Schätze großzügig. Dabei schnitt er immer ein Stück Speck, Käse, Wurst oder Brot ab und hielt es einem dann gleich mit dem Messer hin. Beim Speck hatten wir es weniger auf das „Weiße“ abgesehen, das er uns nach Möglichkeit unterjubelte, sondern auf das „Rote“. Zwischen unserem Großvater und uns herrschte ein ständiges Gerangel um das „Rote“. Er achtete darauf, dass wir nicht nur Speck und Käse aßen, sondern auch Brot. Vom Most durften wir auch kosten, doch der stieß, herb und sauer wie er war, bei uns zwar auf Interesse, aber auf wenig Begeisterung. Vor dem Haus gab es einen Keller, der von einer schweren, eben in den Boden eingelassenen roten Eisentür verschlossen wurde, die hochgezogen und abgestützt werden musste. Dieses unterirdische Gelass, in dem die Mostfässer und die sogenannten Mostbluzer aufbewahrt wurden, war für uns Kinder verbotenes Terrain und übte daher eine starke Anziehungskraft auf uns aus. Aus ihm quollen säuerliche, kühle Gerüche, und wenn die Großmutter oder die Bedienstete ihr Vorhaben dort vollendet hatten, schloss sich die Tür, in deren Nähe wir uns nicht begeben durften, wenn sie geöffnet war, von Neuem. Diese Unterwelt, in der heute die Zeit stillsteht, übte auf uns Kinder eine große Faszination aus, zumal wir sie nie erkunden durften. Anders verhielt es sich mit der Heukammer. Trat man aus der Haustür, konnte man gleich links durch eine runde Tür in den Stall schlüpfen. Dort empfingen einen der herrlich warme Stallgeruch, das Schnauben, Mahlen und Stampfen der Kühe, das schreckhafte Grunzen der immer futtergierigen Schweine und – das Wichtigste – die duftende Heukammer, in der sich bestimmt ein Nest mit jungen Katzen versteckte. Da galt es, stundenlang reglos zu verharren und die Katzenmutter während ihrer Besorgungen zu beschatten, um schließlich triumphierend die Katzenkinder – sofern sie noch klein genug waren – in Beschlag zu nehmen. Wir mussten dabei vorsichtig vorgehen, denn ihre Sicherheit war stets 15


gefährdet. Auf dem Hof gab es zu viele Katzen, und wenn die Männer ihrer früh genug habhaft wurden, beförderten sie sie ohne viel Aufhebens ins Jenseits. Nicht bedroht von einem solchen Schicksal war der legendäre Kater Lothar, der sich noch in späten Jahren an einen neuen Namen gewöhnen musste, nachdem er bei uns Zeit seines Lebens als „Lotte“ firmiert hatte. Eines Tages teilte uns Onkel Richard nämlich mit, dass es sich bei unserer Lotte in Wahrheit um einen Kater handelte. Lothar genoss höchstes Ansehen, weil er im biblischen Alter von über tausend Jahren mit nur einem Zahn im Maul angeblich noch Ratten fing. Zentrum des Stalls war eine große, kalte Milchtonne aus Blech, in die die dampfende Milch mit Eimern geschüttet wurde. Sie verströmte einen warmen, süßlichen Geruch, der sich mit dem Blechgeruch zu einer eigenartigen Mischung verband. Immer wurden auch die Katzen aus diesem Reichtum bedient, und wenn sie sich den Bauch vollgeschlagen hatten, warteten in den dunklen Ecken schon die Igel auf ihre Chance. Im Stall tummelten sich neben uns drei Mädchen auch immer Kinder aus der Nachbarschaft oder aus dem Schloss, die gar nicht so vornehm waren, wie ihre Wohnadresse vermuten ließ. So war es für einige Buben ein beliebter Zeitvertreib, sich auf den Misthaufen zu stellen und ihren Blaseninhalt in einem möglichst hohen und weiten Bogen in der Umgebung zu verteilen. Meine Schwestern und ich konnten mit solchen exotischen Kunststücken natürlich nicht aufwarten und begnügten uns mit der Zuschauerrolle. Wir waren während dieser Vorführungen aber alles andere als untätig und feuerten die Protagonisten nach Kräften an. Zum Küchenreich unserer Großmutter gehörte auch die sogenannte „Speis“, ein länglicher, dunkler Raum mit Steinboden, in dem so geheimnisvolle Dinge wie eingelegte Eier aufbewahrt wurden. Bleich und grünlich schimmernd ruhten sie in einem Riesenglas in ihrer Sole. Dass sie jemals auf den Tisch gekommen 16


wären, ist mir nicht erinnerlich. In der Speis herrschte, anders als in der Küche, eine kühle, sakrale Stille. Wir durften diesen Raum, in dem sich Köstlichkeiten wie Joghurt in dunkelbraunen Glasflaschen mit Aluminiumverschluss und andere geheimnisvolle Gläser und Flaschen verbargen, nur in Begleitung unserer Großmutter betreten, die allzu neugierige Fragen oder gar Handgreiflichkeiten mit Bestimmtheit abwehrte. Nach dem Mittagessen versammelten sich die Erwachsenen zum Beten in der Küche, manchmal auch in der sogenannten „Kanzlei“. Das war ein kleines, quadratisches Zimmer gegenüber vom Eingang, das sonst eigentlich nur für Buchhaltungszwecke benutzt wurde. Gebetet wurde der aus drei „Gegrüßet seist du Maria“ bestehende „Engel des Herrn“, der in einem auf- und abschwellenden Singsang mit vorarlbergerisch klingender Sprachmelodie vorgetragen wurde. Über die Bedeutung der Passage „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt“ habe ich mir jahrelang den Kopf zerbrochen. Die Erwachsenen bei diesem Ritual versammelt zu sehen, hatte etwas Besonderes, entbehrte das Alltagsleben doch sonst jeder Feierlichkeit und Entrücktheit. War das Gebet beendet, schüttelten die Anwesenden das Entrückte ab und gingen wieder ihrer gewohnten Arbeit nach. In seltenen Augenblicken, in denen es in der Küche still war und meine Großmutter sich unbeobachtet fühlte, schlug sie die Hände vors Gesicht und klagte: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ Als Kind konnte ich mir keinen Reim auf diese Worte machen. Heute weiß ich, dass sie den frühen Tod ihres Sohnes Helmut, der mit 19 Jahren an Typhus starb, nie verwinden konnte. Im ersten Stock des Hauses gab es neben einem entsprechend dem Zeitgeist – „Hatten Sie heut´ schon Ihr Badedas?“ – in Pastellfarben gehaltenen Badezimmer das sogenannte „Fremdenzimmer“, das, wie der Name schon sagt, den Gästen des Hauses 17


vorbehalten war. Darin stand ein riesiges Doppelbett, bezogen mit feinstem, blütenweißem Damast. Der Stellenwert dieses Zimmers wurde durch eine Flügeltür und den endlos scheinenden Gang unterstrichen, der das Zimmer mit dem Vorraum verband. Den Boden dieses Ganges zierte ein bunter, grober Sisalteppich mit Längsstreifen, die einen, wenn man den Gang schnell entlang lief, in eine Art Trance versetzten. So fand die psychedelische Zeit der 1960er Jahre auch im Hause Sieber ihren Niederschlag. Ich weiß noch, dass ich einmal im Fremdenzimmer übernachten durfte. Der Ehre, die das bedeutete, war ich mir durchaus bewusst! Leider konnte ich wegen des ungefiltert durch das Fenster dringenden Straßenlärms, den ich von zu Hause nicht gewöhnt war, die ganze Nacht kein Auge zudrücken und fühlte mich in der Früh wie gerädert. Aber die duftende, gestärkte Bettwäsche, die schwere Federdecke und die feierliche Atmosphäre des Fremdenzimmers sind mir heute noch präsent. Da ich als Kind Erwachsene nach Möglichkeit ausblendete, konzentrieren sich meine Erinnerungen auf bodennahe Bilder und auf Eindrücke wie Gerüche und Geräusche. Heute würde ich das damalige Treiben in der Sieber´schen Küche gerne als unsichtbarer Gast beobachten – dazu müsste ich aber als Geist an der Decke schweben. Denn Sitzplätze waren Mangelware im Reich meiner Großmutter. •

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Die Herkunftsfamilien Hedwig erzählt: — Schertler Familie Schertler war eine Wolfurter Bürgerfamilie. Mein Ur-UrUrgroßvater, also der Urgroßvater meiner Mutter, der 1791 geboren wurde, hatte zehn Kinder. Er war sehr reich und vermachte jedem seiner Nachkommen 10.000 Gulden. Das soll umgerechnet so viel gewesen sein wie eine Million Schilling in den fünfziger Jahren, also viel Geld. Er hatte eine Ziegelei. Als Bürgerfamilie war es Familie Schertler gewöhnt, jedes Jahr eine große Reise zu unternehmen. Von diesen Reisen brachten sie den Kindern schönes Spielzeug mit. So hatten sie einen Herd, auf dem man richtig kochen konnte, und vielfältiges Geschirr. Dann aber kam ein Schicksalsschlag: Meine Großmutter, die ich nie zu Gesicht bekam, erkrankte an Lupus. Da die Familie auf sich hielt, entschied sie sich anstelle des Bregenzer Arztes, der Heilung versprach, für einen Kuraufenthalt in einem Sanatorium in Bremen. Das war zur Zeit des Ersten Weltkriegs.

Famlie Schertler 1911 Seppl, Mutter Anna Maria, Ella, Rosa, Julius, Vater Gebhard, Alfred, Agathe und Anna

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Schertler-Tref fen der Geschwister 1940er Jahre

Zu Hause ließ sie sieben Kinder zurück. Noch dazu wurde der Vater zu den Kaiserjägern eingezogen! Die drei Älteren hatten daraufhin nicht nur die vier Kleinen zu versorgen, sondern sie mussten sich auch um die Stickerei und um die Landwirtschaft kümmern, die zu dem Betrieb gehörte. Die älteste Schwester, Tante Rosa, ging nach Bregenz in ein Büro arbeiten, Tante Anna war für die Landwirtschaft und für das Vieh zuständig, und meine Mutter kümmerte sich um die Hauswirtschaft und um die kleinen Kinder. Die Behandlung in Bremen schlug nicht an, und so kehrte meine Großmutter zum Sterben nach Hause zurück. Sie wurde nur 56 Jahre alt. Mein Großvater heiratete nie mehr. Tante Rosa blieb ledig, nachdem sie Lorenz Böhlers Antrag ausgeschlagen hatte. Dieser hatte sich, um vertrauenswürdiger auszusehen, einen Bart wachsen lassen. Meine Tante fand, er sehe damit so grässlich aus, dass sie nichts von diesem Bewerber wissen wollte. Später bereute sie sehr, dass sie auf seine Avancen nicht eingegangen war. Alle anderen Geschwister heirateten und bekamen Kinder. Meine Mutter besuchte die Bürgerschule und ging anschließend ins Walsertal nach Schruns in ein Hotel, um kochen zu lernen. 21


Mama 1921 als Schauspielerin (ganz links)

Großmutter mütterlicherseits Anna Maria Schertler, geborene Gunz

Großvater mütterlicherseits Gebhard Schertler mit Enkelkind

Großmutter väterlicherseits

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Großvater väterlicherseits


— Sieber Familie Sieber war seit eh und je eine Bauernfamilie. Leider brannte auf der Fluh einmal die Kirche mitsamt dem Pfarrhof ab, so dass uns viele Unterlagen fehlen. Das waren Bauern aus Leidenschaft. Sie betrieben einen Bergbauernhof auf ca. 800 Meter Höhe. Keines der Kinder lernte einen Beruf, es war klar, dass sie in der Landwirtschaft bleiben würden. Die Mädchen erlernten die Kunst des Stickens. Sie betrieben Hausstickerei, und ihre Auftragsarbeiten wurden an Schweizer Firmen verkauft. Die Männer mussten fortgehen und sich selbst ihr Auskommen suchen. Die Eltern meines Vaters waren leidenschaftliche Bauern. Seine Mutter stammte aus Kennelbach, der Nachbargemeinde von Wolfurt, der Vater von der Fluh. Papa erzählte, dass sechs Söhne aus der Familie in den Ersten Weltkrieg ziehen mussten, und dass seine Mutter, unsere Großmutter, jedem der sechs jeden Monat ein großes Paket ins Feld schickte. Er erinnerte sich, dass ein ganzer Wecken Brot in dem Paket war, und dass er diesen Wecken jedes Mal auf einmal verschlang, weil er so ausgehungert war. Diese Wohltat vergaß er seiner Mutter nie. Sie erkrankte später an einem Venenleiden und starb wie der Vater mit etwa 72 Jahren. Zwischen den Familien Sieber und Schertler gibt es dreifache Bande: Auf dem heimatlichen Hof blieb Onkel Gregor, der bei der Hochzeit meiner Eltern Tante Anna kennenlernte. Die beiden verliebten sich und heirateten, und Tante Anna zog zu Gregor auf die Fluh. Aber es gab noch eine weitere Verbindung! Als Mamas jüngster Bruder, Onkel Julius, der nach Amerika ausgewandert war, einmal zu Besuch in Vorarlberg war, bekam Tante Anna auf der Fluh gerade ein Kind. Sie wurde von Hermina, der Tochter von Tante Cölestina, einer Schwester von Papa, im Kindsbett gepflegt. Dann heirateten auch diese beiden! Also drei Brüder, drei Schwestern! • 23


Die Anfänge - Knittelfeld Richard erzählt: Mein Vater stammte aus einer kinderreichen Bergbauernfamilie, die in Vorarlberg auf der Fluh nahe Bregenz einen Hof bewirtschaftete. Da den Heimathof nur ein Sohn übernehmen konnte, mussten die anderen zusehen, wie sie ihr Auskommen fanden. Die Höfe in Vorarlberg waren teuer, und so trugen sich viele Bauernsöhne, darunter auch mein Vater, mit dem Gedanken, das Ländle zu verlassen. In der Steiermark lagen die Preise für Grund und Boden niedriger, und die Vorarlberger waren als Käufer oder auch Pächter begehrt, weil sie mehr zahlten als die Einheimischen. Der Hof in Großlobming bei Knittelfeld war in einer Vorarlberger Zeitung annonciert gewesen, und mein Vater, der entschlossen war, sich eine erfolgreiche Zukunft aufzubauen, ging das Wagnis ein. So zogen meine Eltern im Jahr 1924 von Vorarlberg in die Steiermark. Ende September heirateten sie, und schon eine Woche später, am 1. Oktober 1924, übernahmen sie die Pacht in der Steiermark. Das Übernahmedatum so kurz vor dem Wintereintritt war natürlich ungünstig, da meine Eltern den Hof mit dem Vorhandenen, auf das sie keinen Einfluss hatten, bewirtschaften mussten. Am 27. August 1925 erblickte ich das Licht der Welt. Die Wirtschaft in Großlobming kam zur Verpachtung, weil sich der Besitzer – Simon Oberreiter hieß er – mit den Nachbarn nicht vertrug und sein Sohn für die Hofübernahme noch zu jung war. Der Verpächter fragte gleich, ob mein Vater auch Geld habe, um die Pacht im Voraus zu bezahlen. Der Pachtschilling musste erlegt werden, das war die unabdingbare Voraussetzung. Papas Bruder Onkel Johann, der Vorarlberg schon 1911 den Rücken gekehrt und sich in Niederschöckl niedergelassen hatte, stand für das Inventar gut. 24


Wer diesen Pachtvertrag heute liest, bekommt einen Eindruck davon, was es damals hieß, Pächter zu sein. Jedenfalls gab mein Vater an, das nötige Kapital zu besitzen. Da fiel dem Besitzer auf einmal ein, dass er zum Hof auch eine geeignete Tochter hätte: „Der passad grod füa mei Jula!“, dachte er laut. Aber Papa antwortete knapp: „In dieser Beziehung bin ich schon versorgt!“ Um anfangen zu können, nahmen meine Eltern einen Kredit bei einer Verwandten von Mama, der Kronhalde-Wirtin, auf. 10.000 Schweizer Goldkronen waren es, die Zinsen betrugen 20 Prozent. Die Entscheidung war auf Schweizer Kronen gefallen, weil in Österreich massive Inflation herrschte. Der Schilling war damals kein Hartgeld. Das Geld wurde verwendet, um die Übernahme der Kühe – Murbodner Rinder – zu finanzieren. Mein Vater war überzeugt: Fütterte man die Kühe nur richtig, würden sie auch Milch geben. Leider stellte sich heraus, dass von den zehn Kühen nur zwei brauchbar waren. Sie waren einfach nicht auf Milch gezüchtet. Obwohl sie ordentlich an Gewicht zulegten, brachten sie keine Milchleistung. Die steirischen Bauern verwendeten damals Ochsen als Zugtiere, auf Milchkühe waren sie nicht spezialisiert. Pferde standen am höchsten im Kurs, weil man mit ihnen seinen Status zeigen konnte. „Auf der Straße muss man den Bauern sehen!“, so lautete die Devise. In der Steiermark waren offensichtlich keine Milchkühe aufzutreiben. Also fuhr mein Vater nach Tirol, um welche zu kaufen. Unglücklicherweise brachte er von dort nicht nur Kühe, sondern auch die Maul- und Klauenseuche mit. Das war eine Katastrophe. Überall mussten Seuchenteppiche ausgelegt werden. Die Milch durfte nicht mehr ausgeliefert werden, und der Amtstierarzt ordnete sogar an, Ross und Wagen zu verbrennen. Niemand durfte in dieser Zeit den Hof betreten. 25


Als die Maul- und Klauenseuche endlich bewältigt war, gab es einen neuen Rückschlag: 1927 trat bei den Kühen das seuchenhafte Verwerfen auf. Der sogenannte Abortus Bang war eine gefürchtete Rinderkrankheit. Die Existenz meiner Eltern war gefährdet, und mein Vater hatte schon Angst, den Hof aufgeben zu müssen. Doch auch dieses Tief konnte bewältigt werden, und es ging wieder aufwärts. Der Winter des darauffolgenden Jahres 1928 war extrem kalt – sechs Wochen lang hatte es durchgehend minus 30 Grad! Am Küchenfenster bildete sich eine 15 Zentimeter dicke Eisschicht, obwohl wir heizten. Die Hasen kamen vom Wald herunter, um im Heustadel Zuflucht und Futter zu finden. Ich war ein kleiner Bub von drei Jahren, aber ich weiß noch genau, wie die Wildhasen in die Tenne kamen. Dort erschlugen sie die Knechte, aber außer Haut und Knochen war ohnehin nichts dran an ihnen. In diesem Winter erfror viel Wild. Einmal fuhr ich mit meiner Mutter mit dem Zug nach Vorarlberg. Mama vertrug das Zugfahren nicht, und in Innsbruck hatte sie endgültig genug. Ihr war schlecht. Also stiegen wir aus, und Mama nahm ein Hotelzimmer. In der Nacht bekam ich plötzlich Durst und langte zum Nachtkästchen hinüber, wo – wie sich später herausstellte – ein volles Tintenfass stand. Das trank ich gleich aus. Wie ich danach aussah, kann man sich vorstellen! Langsam begann die schwere Arbeit meiner Eltern Früchte zu tragen. Als sich erste wirtschaftliche Erfolge einstellten, ließen sie sich vom Wagner einen Richard in Innsbruck

schönen, bemalten Milchwagen mit ganz speziellen Speichen bauen. Mit Ölachse! Die brauchte man nie zu schmieren. Normalerweise musste so eine Wagenachse täglich geschmiert werden, weil

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sie sonst zu rosten anfing. Die Leute sagten: „Der Sieber kommt daher wie der Baron Hanstein!“ Dieser Milchwagen war der ganze Stolz meines Vaters. Er kostete damals schon die beachtliche Summe von 1.000 Schilling. Über allem aber schwebte das bevorstehende Ende der Pacht, die ja mit sechs Jahren begrenzt war. So mussten meine Eltern bereits nach fünf Jahren beginnen, sich nach einem neuen Betrieb umzusehen. Ihr Traum war es, als gemachte Leute nach Vorarlberg zurückzukehren. Doch dazu sollte es nie kommen.

Das Haus in Großlobming

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— Das Leben in Knittelfeld Jeden Tag um drei Uhr in der Früh hieß es für meine Eltern aufstehen und die Kühe melken, damit die Milch rechtzeitig nach Knittelfeld transportiert und dort von Tür zu Tür verkauft werden konnte. Diesen weiten Weg legte mein Vater, neben dem Wagen herlaufend, bei jedem Wetter im Stockfinsteren zurück. Als er einmal krank wurde, musste meine Mutter die Kühe allein melken und die Milch nach Knittelfeld bringen. Das war sicherlich eine fürchterliche Strapaze für sie, blieb meiner Erinnerung nach aber die Ausnahme.

— Sprachlose Zeiten Meine Eltern rackerten den ganzen Tag und hatten kaum Zeit, sich um mich zu kümmern. Andere Kinder gab es nicht auf dem Hof, und so musste ich mich mit mir selbst beschäftigen. Ich lernte sehr lange nicht sprechen, da niemand Zeit hatte, sich mit mir zu unterhalten. Als ich schon älter war und meine sprachliche Entwicklung den Eltern Sorgen zu machen begann, brachten sie mich nach Niederschöckl zu Onkel Johann, der sieben Kinder hatte. Nach 14 Tagen, als sie mich von diesem „Sprachkurs“ abholten, war ich zu ihrer Erleichterung eine echte Plaudertasche geworden. Die hatten halt ein gutes Mundwerk in Niederschöckl! Inzwischen, am 4. Dezember 1928, hatte ich einen Bruder bekommen, der auf den Namen Helmut getauft wurde. Der eignete sich auch nicht gerade als Gesprächspartner. Aber jetzt streckte ich meine Fühler zu den Nachbarkindern aus. Bei der Familie Bischof durften wir sogar auf den Betten herumspringen. Obwohl ich ein kleines Kind war, staunte ich darüber, dass das nicht verboten war. Es machte mir jedenfalls großen Spaß. 28


Zum Allerschönsten gehörte für mich die Kirschenernte, wenn mein Vater auf den Baum kletterte und ganze Äste mit Kirschen herunter schnitt. Bis heute kann ich auf Fleisch und Mehlspeisen verzichten, aber ohne Obst und Gemüse kann ich nicht sein.

— Eisbäder bei Mondschein Wenn die Eltern in aller Herrgottsfrüh zum Melken in den Stall gingen, nahmen sie mich mit, um mich nicht allein im Haus zurückzulassen. Vor dem Stall stand ein Brunntrog, dessen Wasser im Winter natürlich zugefroren war. Meine Mutter war eine begeisterte Kneipp-Anhängerin, was auch mir zugutekam. Nachdem sie mich die Treppen hinuntergetragen hatte, hackte sie das Eis auf und tauchte mich dann flugs in die eisigen Fluten. Frisches Quellwasser! Danach frottierte sie mich ab, packte mich wieder ordentlich ein und legte mich zurück ins Bett. Jetzt konnte sie sicher sein, dass ich gut schlafen würde. Ich erinnere mich, dass ich mich heftig gegen diese Eisbäder spreizte. Kein Wunder, dass ich als Erwachsener mit Wasser nichts mehr zu tun haben wollte! Einen Hund hatten wir auch, Nero den Ersten. Der war schon auf dem Hof, als meine Eltern übernahmen. Er sah aus wie ein Bernhardiner, hatte aber ein grauweißes Fell. Das war ein mächtiger Hund, so hoch wie der Herd. Beim Auszug mussten wir ihn zurücklassen, denn es war üblich, dass der Hund am Hof blieb. Er verfolgte uns noch lange mit seinen Blicken, als wir fortfuhren. Am Sonntag gingen die Eltern in die Kirche. Meine Mutter war entsetzt über die Rückständigkeit der Steirer. In Vorarlberg war man in der damaligen Zeit schon elegant unterwegs. Schließlich war ihre Heimatgemeinde Wolfurt die erste voll elektrifizierte Stadt Österreichs! Wenn Mama ihre Blicke in der Knittelfelder Kirche durch die Bänke schweifen ließ, vermittelten ihr die armselig 29


gekleideten Gestalten, wie sie sagte, das Gefühl, in Sibirien zu sein. Nach der Kirche pflegte mein Vater das Pferd bei einem Einkehrgasthaus einzustellen. Zuerst kam die Messe, dann das Gasthaus, so war die festgelegte Reihenfolge. Im Gasthaus unterhielt er sich mit den Leuten und bahnte auch Geschäfte an. Einmal vereinbarte er mit dem Fleischhacker den Verkauf von drei Kälbern. Der Preis wurde festgelegt, die Lieferung für den nächsten Tag vereinbart. Als mein Vater dann kam, fragte der Fleischhacker: „Was sind das für Kälber? Und was sollen die kosten?“ „Was wir ausgemacht haben.“ „Geh! Kannst schon wieder heimfahren!“, gab ihm der Fleischhacker zurück. Doch mein Vater ließ sich nicht beirren und wandte sich sofort an einen Rechtsanwalt. Der setzte einen Brief auf, in dem stand, dass der Fleischhacker die Kälber zum vereinbarten Preis zu übernehmen hätte. Würde er sich nicht an die Vereinbarung halten, könnten sie an Ort und Stelle zu einem beliebigen Preis verkauft werden, und die Differenz müsse der Fleischhacker zahlen. Daraufhin gab der sich geschlagen. Laut konnte mein Vater schon werden. Der Fleischhackerchefin fuhr sein Gebrüll so in die Knochen, dass sie sich vor Schreck kräftig in den Finger schnitt. Auf dem Hof hatten wir ein Pferd mit einem Fohlen. Die Alte hieß Fanny und die Kleine Gretl. Mein Vater spannte Fanny zum Mistführen zusammen mit dem Stier ein, weil der Mistwagen für das Pferd allein zu schwer war. Also spannte er einfach den Stier dazu. Er wusste sich in jeder Situation zu helfen. Eines Tages wurde unser Fohlen, die Gretl, verkauft. Das kränkte mich sehr. Ich musste mit ansehen, wie sie, nach allen Regeln der Kunst an der Mähne und am Schwanz mit rotem und weißem Krepppapier „aufgemascherlt“, vom Käufer fortgeführt wurde. Den ganzen Hohlweg entlang schaute ich ihr nach, solange ich sie sehen konnte. Aber für die Erwachsenen spielte es keine Rolle, ob ich traurig war oder nicht. 30


— Josef Ritter von Gold Einmal kam ein Mann zu uns, der nach Arbeit fragte. Da an Arbeit ja wahrlich kein Mangel herrschte, wurde er gleich eingestellt. Auf die Frage nach seinem Namen antwortete er: „Josef Ritter von Gold!“ Er arbeitete gut, da gab es nichts zu bemängeln. Mein Vater meinte, er wolle ihn anmelden, weil im Nachbarhaus schließlich der Bürgermeister wohnte. Es musste alles seine Ordnung haben. Aber der Neuankömmling versuchte das unbedingt zu verhindern. Eines Abends, meine Mutter war gerade vor dem Haus, sah sie, wie er plötzlich von Polizisten umringt wurde. Da sprang er vor aller Augen in die Mur. Ich weiß nicht, ob sie ihn erwischt haben. Später stellte sich heraus, dass er ein Raubmörder war! Josef Ritter von Gold... Bei uns fand er jedenfalls kein Gold. Insgesamt war er vielleicht 14 Tage am Hof.

— Abschied von Knittelfeld Als sich die Pachtzeit ihrem Ende zuneigte, wurde es Zeit, nach einem neuen Hof Ausschau zu halten. Meine Eltern waren natürlich daran interessiert, sich in der Nähe der anderen Familienmitglieder niederzulassen, die bereits in der Steiermark waren. In Kapfenberg kannte mein Vater einen Vorarlberger namens Fink, den er um Rat fragte. Für diesen Standort sprach auch, dass sich sein Bruder Franzsepp in Winkl angesiedelt hatte, und ein anderer Bruder, Gottfried, in Gassing, beides Orte in der Nähe von Kapfenberg. Eines Tages schrieb Herr Fink an meinen Vater, die Wirtschaft des Grafen Stubenberg stünde zur Verpachtung. Daraufhin fuhr Papa nach Kapfenberg und schaute sich den Betrieb an. Die Sache schien schwierig, aber machbar. 31


Dann kam der Abschied von Knittelfeld. Wir mussten das ganze Heu mitnehmen, weil ja der Winter vor der Tür stand und wir Futter für unsere mittlerweile 30 Kühe brauchten. Das Heu wurde zuerst mit einer Standpresse zu schweren Ballen gepresst, und dann in einem beeindruckenden Transport mit Lastwägen von Großlobming nach Kapfenberg gebracht. Fanny führte die Kolonne mit dem Milchwagen an, aber 50 Kilometer sind ja für ein Pferd keine Entfernung. So hieß es für meine Eltern nach den Knittelfelder Aufbaujahren in Kapfenberg noch einmal von vorn beginnen. •

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Kapfenberg, wir kommen! Richard erzählt: Bei der Besichtigung der Landwirtschaft des Grafen Stubenberg fand mein Vater dort drei Pächter bzw. Nutzer vor: Es waren dies eine Gärtnerei, der bisherige Verwalter und die kinderreiche Familie Resch, die den Grund nördlich der Straße gepachtet hatte und dort vielleicht drei oder vier Kühe hielt. Ausschlaggebend für den Wunsch des Grafen, die Kapfenberger Gründe ganz zu verpachten, war die finanzielle Situation des Betriebes. Die ständig wechselnden Verwalter arbeiteten so schlecht, dass alljährlich immer neue Verluste entstanden. Diese musste der Graf ausgleichen, indem er jeweils viele Festmeter Holz schlägern ließ. Mit der Verpachtung hatte er zumindest gesicherte Einnahmen und brauchte nicht mehr draufzuzahlen. Die Pacht des Verwalters lief 1932 aus, und er übernahm eine kleine Landwirtschaft in Gratkorn. Mit zunehmend trüber Wirtschaftslage ging dann 1935 die Gärtnerei in Konkurs. Der Betrieb war schwer verschuldet und machte kaum noch Geschäft. Überall wucherte das Unkraut. Daraufhin kam ein neuer Gärtner aus Graz, der in Kapfenberg neu durchstarten wollte. Er sondierte die Lage vielleicht acht oder zehn Tage lang und wurde von unserer Mutter gut verpflegt. Anscheinend fühlte er sich von der Aufgabe aber überfordert, denn eines Nachts verschwand er spurlos und kam nie mehr zurück. Also blieben wir ab 1935 als einzige Pächter zurück. Wir hatten damals schon einige Knechte und stolze fünfzig Kühe. Das dürften uns manche geneidet haben, denn 1937 brachte der Obmann der Genossenschaft Landforst eine Kontingentierungsvorschrift durch, die offenbar direkt auf uns zugeschnitten war. Für ein bestimmtes Kontingent bekamen wir 24 Groschen pro Liter Milch, für 33


alles darüber nur noch 12 Groschen. Wir sollten „zurückgestutzt“ werden, doch das ließ sich Papa nicht gefallen. Er beschloss, dass wir ab sofort unsere eigenen Jungtiere züchten würden. Die Milch, die wir sonst zu einem Spottpreis hätten abgeben müssen, konnten die Kälber trinken. Wir bauten einen zusätzlichen Kuhstall und zogen darin unsere späteren Milchkühe auf. Eines Tages, Anfang 1937, flatterte ein Expressbrief auf Papas Schreibtisch. Tante Anna, Mamas Schwester, schrieb, der Nachbarhof in Papas Heimatdorf Fluh, die „Howacht“, würde versteigert. Papa solle doch zuschlagen, so würden zwei Geschwisterpaare in der alten Heimat zusammenkommen. Doch Papa konnte nicht. Er hatte 100.000 Liter Most im Keller lagern, alle Fässer waren neu eingerichtet, die Mosterei erst so richtig angelaufen. Er konnte nicht weg aus Kapfenberg. Anders sah die Lage bei seinem Bruder Franzsepp in Winkl aus. Der war viel zu spät ausgewandert und fand sich in der Steiermark schlecht zurecht. Er hatte Schulden und wurde von heftigem Heimweh geplagt. Papa empfahl ihm, die Chance zu nutzen. Er wollte keinesfalls, dass der Betrieb auf der Fluh in fremde Hände käme. Doch Franzsepp hatte kein Geld, um das Vadium von zehn Prozent zu erlegen. Deshalb kaufte ihm Papa die Wirtschaft in Winkl ab. Wir stellten 12 Kühe hinein, die von einem Schweizer betreut wurden. Da die Wohnungsnot in Kapfenberg damals groß war, fanden sich auch sofort sechs oder sieben Parteien als Mieter für das Haus in Winkl. Wir besaßen zu dieser Zeit bereits ein Pferdefuhrwerk, und Papa kaufte 1938 in Riegersburg noch ein paar Pferde, unsere Schwarzen, dazu. Zu Beginn der Nazizeit hatten wir uns eine große Wirtschaft mit rund 60 Kühen aufgebaut. Aber die Zeiten sollten trotzdem nicht einfacher werden. • 34


Der erste Tag in Kapfenberg Als wir ankamen, durften wir das ebenerdige Haus gar nicht durch die Tür betreten. Die Frau des Verwalters ließ uns nicht hinein. Sie sperrte zu und so mussten wir durch das Fenster in die Stube klettern. Es war fix ausgemacht, dass wir den Betrieb und das Wohnhaus am 1. Oktober übernehmen sollten, aber die Familie des Verwalters wollte zumindest letzteres um jeden Preis verhindern. Es blieb uns nichts anderes übrig, als im Gasthaus Anzenberger zu übernachten, wo sie ein Fremdenzimmer hatten. Als wir dort ankamen, dachte ich: „Jetzt sind wir im Himmel!“ Dort hingen Luster von der Decke! So etwas Wunderbares hatte ich davor noch nie gesehen. Ich staunte und staunte – genauso stellte ich mir die Pracht des Himmels vor. Am nächsten Tag wandte sich Papa an den Verwalter und sagte: „Das geht doch nicht! Wir haben das Vieh hier, das wir versorgen müssen. Wir können unmöglich weiter im Gasthaus herumsitzen.“ Schließlich gab der Verwalter klein bei und am 2. Oktober 1930 konnten wir unser damaliges und heutiges Wohnhaus beziehen.

Das alte Haus vor dem Umbau 1957

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Nazizeit — Verhaftung Im März 1938 kam es zum Einmarsch. Kurz danach wurde unser Vater verhaftet. Eines Abends warnte uns ein Bekannter, dessen Sohn von Anfang an bei der SS war: „Herr Sieber“, sagte er, „Sie stehen auch auf der Liste!“ Doch obwohl Papa sich immer eindeutig als „Schwarzer“ zu erkennen gegeben und Hitler als üblen Kriegstreiber hingestellt hatte, maßen wir dem eigentlich keine Bedeutung bei. Am nächsten Tag beobachtete ich interessiert, wie von der Straße her sechs Mann mit Bajonetten in unsere Richtung marschierten. Ich dachte mir, endlich, jetzt kommen sie den Fritz, einen der Bewohner von Schloss Wieden, holen. Der soff sich fast zu Tode und schlug seine Frau, die Gret. Er arbeitete nichts, drosch aber brutal seine Frau. Im Stall bei der grünen Tür gab es ein Loch, durch das man durchschauen konnte. Ich sah die Polizisten kommen und war mir sicher, sie würden sich diesen Tunichtgut schnappen. Für uns Buben wäre das eine kleine Sensation gewesen, das hätten wir nur zu gern gesehen. Doch der Trupp Polizisten marschierte am Schloss vorbei und schnurstracks bei unserer Haustür hinein. Ich konnte gerade noch mit ihnen ins Haus schlüpfen, neugierig, was sie vorhatten. Papa saß nach dem Mistführen gerade am Tisch und jausnete. „Herr Sieber?“ „ Ja.“ Sie hielten sich nicht lange mit Förmlichkeiten auf: „Herr Sieber, Hausdurchsuchung wegen illegalem Waffenbesitz!“, und „Im Namen des Gesetzes, Sie sind verhaftet!“ 37


Hedi stand an der schmalen Seite des Herdes, Mama kochte. Ich weiß noch, wie trostlos diese Situation für uns war. Mama weinte, und auch Hedi fing zu weinen an. Dann kam die Hausdurchsuchung. Die Polizisten filzten alle Zimmer, in jeden Kasten schauten sie hinein. Wir gingen ihnen auf Schritt und Tritt nach. Sie suchten Waffen, durchwühlten alles, rissen sämtliche Laden auf. Die Gendarmen im Haus, das war etwas ganz Schlimmes. Unheil pur. Frisch und Fromm hießen zwei von ihnen! Von dem einen kannten wir sogar die Familie. Die machten sich jetzt in unserem Schlafzimmer breit und durchwühlten alles. Was für ein Eindruck für uns Kinder! Unser großer, starker Vater, unser Beschützer, der uns das Gefühl vermittelte, es könne uns nichts passieren, weil er auf uns aufpasste... Und Mama, die ganz verzagt und am Boden zerstört war. Wir waren wie ein Haufen verschreckte Hühner. Dazu kam noch die Schande, dass jemand aus der Familie eingesperrt wurde! Eingesperrt konnten nur Gauner und Verbrecher werden, doch nicht unser Vater! Der wollte sich nach dem Mistführen noch umziehen. Die Polizisten ließen ihn nicht einmal dabei aus den Augen. Dann marschierte der ganze Trupp um halb zwölf Uhr Mittag mitten auf der Hauptstraße in die Stadt hinein. Vorneweg gingen zwei Polizisten mit aufgepflanztem Bajonett, dann kam Papa und hinter ihm marschierten wieder vier Polizisten. Hinein in die Stadt, am Hauptplatz vorbei. Dort sperrten sie ihn ein. Unser Vater war allerdings nicht der erste, den sie festgenommen hatten. Im Kotter traf er auf mehrere bekannte Kapfenberger, einer von ihnen ein Medizinalrat. Dieser Arzt war ein fürchterlicher Feigling, wie Papa später erzählte. „Der Schuschnigg, dieser Lausbub, hat uns die ganze Zeit belogen!“, soll er gesagt haben. Jedes Mal, wenn er draußen vor dem Gemeindekotter ein paar 38


Schuhe vorbeigehen sah – mehr konnte man von dort nicht sehen –, schrie er hinaus, er sei unschuldig. Die anderen Inhaftierten ärgerten sich sehr über dieses unwürdige Verhalten und drohten ihm, dass sie ihn ordentlich verdreschen würden, sollte er keine Ruhe geben. Als man dem Gott in Weiß zutrug, die ganzen ehemals heimlichen Nazi würden mit seinem kostbaren Auto durch die Stadt kutschieren, säuselte er: „Sollen nur fahren! Sollen ruhig damit fahren! Sind ja lauter fesche Burschen. So ein Auto ist ja schließlich zum Fahren da, nicht zum Stehen.“ Dann jammerte er wieder: „Ich gehe hier herinnen zugrunde und meine Frau geht daheim zugrunde.“ Sobald er irgendeinen SSler sah, rief er laut: „Fesche Burschen, man schaut sie einfach gern an, diese feschen Burschen!“ Kommunisten waren auch mit Papa eingesperrt, doch die ließen sich zu einem solchen Gewinsel nicht hinreißen. Die Verhaftung ging auf das Konto eines Nachbarn. Der Inhaber der örtlichen Gärtnerei hatte 1935 Konkurs anmelden müssen, während wir mit unserer Landwirtschaft trotz Wirtschaftskrise durchkamen. Also dachte er wohl, jetzt als Nazi könnte er dem Sieber eins auswischen. Ein anderer SS-Mann aus dem Schloss war ebenfalls an der Aktion beteiligt, doch es war der Gärtner, der uns anzeigte. Zum Glück sah Papa einen Polizisten an der Zelle vorbeigehen, den er kannte. Nur der Name war ihm entfallen. Er war viel früher, 1934 oder 1935, auf der Suche nach Illegalen zu uns gekommen. Wir hätten aussagen sollen, was sich drüben im Glashaus der benachbarten Gärtnerei abspielte. Doch Papa wollte niemanden verpfeifen und gab sich zugeknöpft: „Das weiß ich wirklich nicht. Am Tag muss ich arbeiten und in der Nacht schlafe ich. Ich kümmere mich um nichts, mir ist nichts aufgefallen.“ 39


Doch natürlich war er genau im Bilde. An vielen Abenden sah er illegale Nazi ins Glashaus der Gärtnerei gehen. Dann brannte dort immer Licht. Er wusste das zwar, unternahm aber nichts. Er war nur Pächter. Er hätte sie anzeigen können, tat es aber nicht. Also erklärte Papa dort im Gemeindekotter, einer der Polizisten von damals versehe immer noch Dienst. Er könne sich zwar nicht an den Namen erinnern, würde aber beschreiben, wie er aussehe. Daraufhin schickten sie zwei Uniformierte in die Zelle, auf die die Beschreibung passte. Und einer von ihnen war tatsächlich dieser Polizist. „Herr Sieber behauptet, Sie wären 1934 draußen in Schloss Wieden gewesen und hätten Einvernahmen durchgeführt. Was hat Herr Sieber damals gesagt?“ Daraufhin bemühte der Polizist sein Gedächtnis: „Das ist zwar schon lange her, doch soweit ich mich erinnere, hat uns Herr Sieber damals nur gesagt, er würde am Tag arbeiten und in der Nacht schlafen, also könne er nichts wissen.“ Das dürfte ausschlaggebend gewesen sein, dass sie Papa schon nach 24 Stunden wieder freiließen. Es war insgesamt schwer damals. Leute, die man von früher kannte, die man für ehrenwerte Leute hielt, sollte man von einem Tag auf den anderen verurteilen? Man hielt sie auch später nicht automatisch für schlecht, nur weil sie eine andere Meinung hatten. Viele mussten ja auch büßen. Manche blieben allerdings bis zu ihrem Tod überzeugte Nationalsozialisten und konnten nie loslassen. Als „Schwarzer“ war unser Vater geächtet in dieser Zeit. Zwei Bauernkollegen drohten ihm in Bruck auf der Bezirksbauernkammer – Kreisbauernschaft hieß es damals – ziemlich unverhohlen: „Wenn erst der Führer den Endsieg errungen hat, werden sie dich in den Osten verfrachten.“ Aber sie irrten. Sie waren es, die später beide nach Wolfsberg zur Entnazifizierung kamen. 40


Weil Papa der tüchtigste Milchlieferant der ganzen Gegend war, brauchten sie ihn. Und weil er aus dem Ersten Weltkrieg eine kaputte Hand mitgebracht hatte, ließen sie ihn zu Hause. Zum Volkssturm hätte er trotzdem noch einrücken sollen. Aber schon wieder hatte er Glück: Er kannte einen gewissen Doktor Spänle vom Böhlerwerk, der für die Rekrutierung zuständig war. Den hatten unsere Eltern ein oder zweimal zum Essen eingeladen. Nun ersparte er Papa diesen gefährlichen, unsinnigen Einsatz.

Familie Sieber 1938

— Wirtschaften in der Nazizeit In Feldbach kaufte Papa 1938 zwei schwarze Pferde. Mit unserer Landwirtschaft ging es aufwärts. So hatten wir 1939 schon 100 Rinder, vier Pferde und vielleicht fünfzehn Schweine. Zwei Rossknechte, drei Melker, vier Handknechte und eine Hausgehilfin arbeiteten bei uns. Das bedeutet, dass wir zehn, mit Winkl sogar elf Leute angestellt hatten. Dann begann im September der Krieg. Ich kann mich noch genau erinnern, wie Papa vor dem Radio saß, als England und Frankreich Hitler den Krieg erklärten. „Das ist jetzt nicht mehr wie im 41


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Ein Pferd

Sudetenland, wo nur unsere Gretl2 hat einrücken müssen. Jetzt ist es ernst und wir müssen schauen, wo wir bleiben. Wir sind in Kapfenberg nur Pächter und 1942 läuft unser Pachtvertrag aus. Außer Winkl haben wir nichts Eigenes, aber ein bisschen Geld haben wir gespart. Jetzt müssen wir etwas kaufen!“ Hinter der Entschlossenheit unseres Vaters stand die Erinnerung an seinen Onkel Plazidus und wie es diesem im Ersten Weltkrieg ergangen war. Der Onkel arbeitete als Kammerdiener bei einem Grafen und ersparte sich dabei so viel Geld, dass er eine große Landwirtschaft hätte kaufen können. Doch als er 1922 starb, konnte mit dem verbliebenen Geld nicht einmal mehr sein Begräbnis bezahlt werden. So galoppierend war die Inflation, das Geld völlig entwertet. Also suchte Papa überall. Er beauftragte einen Realitätenvermittler namens Luttenberger in Gleisdorf mit der Suche. Gemeinsam schauten sie sich mehrere Landwirtschaften in der Oststeiermark an. Darunter war auch ein Hof in St. Ruprecht, ein Erbhof, auf dem zwei alte Frauen lebten. Einer der Erben war Pfarrer in Köflach und kam daher für die Bewirtschaftung nicht in Frage. Luttenberger meinte, die beiden alten Frauen könnten die Wirtschaft doch nicht weiterführen. Papa interessierte sich für den Hof und fand, er sei für die Milchwirtschaft geeignet. Die Immobilie war arrondiert, Haus und Stall standen in der Mitte, hier konnte man Kühe halten. Jetzt war es aber so, dass man in der Nazizeit die Bauernfähigkeit nachweisen musste und auch politisch hätte es irgendwie passen sollen. Unser Vater war seit jeher als Schwarzer bekannt, weil er ja immer in die Kirche ging. Er sympathisierte in keiner Weise mit dem Nationalsozialismus und war in keiner politischen Funktion, während viele andere Bauern plötzlich erklärten, sie wären schon lange vor dem Anschluss Nazi gewesen.

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Deshalb gestaltete sich der Kauf von St. Ruprecht ziemlich kompliziert. Die Behörde verlangte die Zeugnisse von uns drei größeren Kindern – Herbert ging noch nicht in die Schule – und wir mussten alles kopieren lassen. Das wurde in den 1930er Jahren noch händisch abgeschrieben. Danach schickten wir alle Dokumente und Kopien ein. Zur Bescheinigung der Bauernfähigkeit forschten sie nach, ob vielleicht irgendjemand in der Familie unter einer Erbkrankheit litte. Eine Hasenscharte hätte schon gereicht, schon wäre man aus dem Rennen gewesen. Wenn damals ein Bauer eine Erbkrankheit hatte, eben vielleicht eine Hasenscharte, oder wenn in der Familie ein Tschapperl war, nahm man ihm den Erbhof weg. Unserem Vater konnten sie die Bauernfähigkeit jedenfalls nicht absprechen. Anscheinend befand man auch uns Kinder und die Schulzeugnisse für in Ordnung, sodass uns die Wirtschaft in St. Ruprecht für 42.000 Reichsmark zugesprochen wurde. Unser Vater kaufte also die Wirtschaft und stellte erst im Nachhinein plötzlich fest, dass der Zufahrtsweg vom Friedhof hinaus ja gar kein Rechtsweg war. Die beiden alten Frauen wussten darüber nicht Bescheid. Also wurde vereinbart, einen Teil des Kaufbetrages einzubehalten, bis das Wegerecht geklärt wäre, was dann auch klappte. Nun kam unser Knecht Michl mit 12 Kühen hinunter nach St. Ruprecht. Wäre er in Kapfenberg geblieben, hätte er als 1907er Jahrgang sofort einrücken müssen. Unten aber war er Betriebsführer, was auch vom Wehrbezirkskommando Weiz bestätigte wurde. Allerdings mussten wir jeden Monat neu ansuchen, dass Michl bleiben konnte. Ein anderer Knecht, Hermann, wurde tatsächlich sofort eingezogen. Erst als wir erklärten, wir hätten so viele Kühe und müssten fast ganz Kapfenberg versorgen, durfte er wieder zurückkommen.

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— Mistführen mit Forella Mit 14 Jahren trat ich aus der Schule aus. Wir hatten bereits über 100 Stück Vieh, und im Stall war kein Platz mehr. Also pachteten wir den Essenko-Stadl, wo jetzt die Kirche zur Heiligen Familie steht. Nach einer Vereinbarung zwischen Papa und Frau Essenko bekamen wir auf der Straßenseite einen Stall für uns. Frau Essenko hatte noch vier Kalbinnen, die wir ihr abkaufen konnten, und zusätzlich stellten wir selbst 12 Kalbinnen dazu hinaus, also hatten wir in diesem Stall insgesamt 16 Kalbinnen. Ich wurde kurzerhand zum „Betriebsleiter“ dieser Außenstelle ernannt, was bedeutete, dass ich die Kühe hüten, füttern und den Stall ausmisten musste. In der Früh ging zwar einmal ein Knecht durch zum Füttern, aber gleich darauf war ich dran mit Wässern. Es gab einen großen Brunntrog, zu dem wir die Kalbinnen hinführten. Während sie tranken, musste ich den Stall putzen und dann den Mist mit der Scheibtruhe wegführen, mindestens 150 Meter weit, weil wir unseren Mist nicht auf den Misthaufen von Frau Essenko leeren durften. Ein paarmal plagte ich mich mit der Scheibtruhe, dann wurde es mir zu dumm. Ich schaute mir die Kalbinnen an, deren Charaktereigenschaften ich beim Hüten genau beobachtet hatte. Was ich brauchte, war eine starke und ruhige Kalbin. Unsere Große, Alma, war sehr schnell und ziemlich wild. Für die, dachte ich mir, bin ich zu schwach, ich kann sie nicht ziehen. Also versuchte ich mein Glück mit Forella. Aus Winkl hatte ich mir einen Kaps beschafft, einen zweirädrigen Pferdewagen, doch den wollte ich nicht gleich riskieren. Ich startete einen ersten Test mit einem großen Stein, den ich Forella ziehen ließ. Als das klappte, spannte ich sie in den Kaps ein – und tatsächlich, sie zog gut. Ab diesem Zeitpunkt brauchte ich den Mist nur noch in den Kaps 44


einzuschaufeln und schaffte dank Forella alles mit einer einzigen Fuhre pro Tag. Ich fühlte mich wie ein gemachter Mann. Die Sache funktionierte wie am Schnürchen, so dass ich überlegte, ob ich nicht auch noch Alma dazu stellen sollte. Sie ging fast so gut wie ein Pferd, denn sie war viel größer und schneller als Forella. Schließlich hatte ich es mit den zwei Kalbinnen beim Mistführen richtig komfortabel. Dann begann der Krieg, und unsere drei Knechte mussten einrücken. Auch den Hermann zogen sie ein. Er war Tiroler und – leider – ein ausgezeichneter Schütze. Papa ärgerte sich sehr, dass er so gut schoss, obwohl er doch sonst so dumm war. Er dachte, würde er danebenschießen, käme er schneller wieder nach Hause. Ein anderer Knecht, Hans, hatte damals schon eine Schreibmaschine. Also erklärte ich, ich wollte auch so ein Gerät. Damals war ich 14. Tatsächlich fuhr Papa unmittelbar nach Kriegsbeginn hinüber nach Bruck und kaufte unsere Schreibmaschine, die wir bis heute haben. Sie war das allerletzte Stück, das man ohne Bezugschein bekam.

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— St. Ruprecht - als Sommerfrische umstritten Bereits 1940 und dann noch einmal 1941 kamen Hedi und Herbert zum Michl nach St. Ruprecht auf „Sommerfrische“. Die beiden fanden das grässlich und wissen darüber einiges zu berichten. Ich selbst war 1941 ganze vier Monate unten und in dieser Zeit zur Hochzeit unseres Knechtes Michl mit unserer Kusine Laura eingeladen. Auf diesem Fest bekam ich das erste Mal Wein zu trinken. Natürlich erwischte ich gleich zu viel. Wir waren zum Mittagessen in einem Gasthaus, der Wein schmeckte ganz passabel, und ich dachte mir nichts. Plötzlich bekam ich das Gefühl, dringend hinaus zu müssen, aber ich erwischte die Türschnalle nicht. Irgendwie schaffte ich es schließlich, doch kaum war ich im Freien, wurde mir speiübel! Ich übergab mich gleich durch ein Kanalgitter. Als ich aufschaute, stand eine ganze Schulklasse um mich herum und glotzte. Ich schämte mich fürchterlich, raffte mich auf und rannte in den Pferdestall. Dort musste ich mich am Schwanz eines Pferdes anhalten, erbrach mich aber trotzdem gleich noch einmal. Mir war so übel, dass ich gleich ins Bett kroch. Die Festgemeinschaft kam erst gegen Abend, rechtzeitig zur Stallarbeit, zurück, und da wollte auch ich aufstehen. Obwohl ich schon ein bisschen klarer im Kopf war, fühlte ich mich immer noch miserabel. Das war 1941. Ich blieb noch über Weihnachten und bis ins neue Jahr. Am Heiligen Abend goss es wie aus Kübeln, daran erinnere ich gut. Kurz nach meiner Rückkehr nach Kapfenberg kam schon Michls und Lauras Tochter Trude auf die Welt. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass Laura schwanger war. 46

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Herbert Mir war sagenhaft fad in St. Ruprecht. Daheim hatte ich die anderen Buben zum Spielen und dort keinen Menschen. Also setzte ich mich, frustriert und enttäuscht, wie ich war, auf den Heuboden, um auf Papa zu warten, der sich fürSonntag angesagt hatte. Stunde um Stunde starrte ich bei einem Guckloch hinüber zum Friedhof und hoffte, er würde es vielleicht doch schon früher schaffen. Irgendwann sah ich ein Ehepaar kommen. Ich rannte den beiden ganz glücklich entgegen, aber leider – falsch geraten. Schließlich kam Papa doch, und zwar wie angekündigt. Dank meiner Begeisterung für alles, was mit der Bahn zu tun hatte, kannte ich die Ankunftszeit des Zuges genau. Von weitem sah ich einen Mann kommen, der ein paar Schritte in die Wiese hinein tat und prüfend eine Handvoll Heu aufhob. Da wusste ich sofort: das ist Papa. Später gefiel es mir dann schon in St. Ruprecht, aber die ersten paar Tage waren hart.

Hedwig Im Sommer 1942 hieß es wieder nach St. Ruprecht fahren, nachdem ich schon im Jahr zuvor meine „Sommerfrische“ dort hatte verbringen müssen. Das war das Grässlichste für mich. Ich weiß noch, dass ich beim Brunntrog neben der Linde auf das Baby aufpassen musste. Am liebsten hätte ich es in den Brunntrog geschmissen, so sehr hasste ich das Babysitten. Wie sterbenslangweilig das war! Aber es half nichts, niemand erlöste mich von meiner Qual. Es gab in St. Ruprecht absolut nichts Vernünftiges für mich zu tun. Außerdem hatten sie nichts zu lesen dort unten. Ich fand nur die uralten Sonntagsblätter, die die Vorbesitzerin, Frau Hasenhüttl, aufgehoben hatte, sonst war nichts im Haus. Nicht einmal eine Tageszeitung hatten sie abonniert. St. Ruprecht war für ein Kind wie mich wirklich trostlos, das Allerletzte.

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— Reitkurs mit Hindernissen Genau an meinem 17. Geburtstag, dem 27. August 1942, musste ich in der Hauptschule in Kapfenberg zur Musterung. Trotz meiner zehn Kilo Untergewicht schrieben sie mich tauglich. Doch ich hatte noch etwas vor. Ich wollte einen Reitkurs machen. Als Pferdenarr war ich Abonnent der deutschen Reiterzeitung „Landvolk im Sattel“. Darin fand ich die Adressen von diversen Reitschulen, die ich anschrieb. Mir blieben sechs Wochen Zeit, von 15. Oktober bis 1. Dezember. Auf meine Anfragen erhielt ich Angebote von drei- und sechswöchigen Kursen. Drei Wochen waren mir zu wenig. Ich hatte keine Reitstiefel. Deshalb wollte ich wissen, ob ich eventuell auch mit Gamaschen kommen könne, mit hohen Schuhen und ledernen Wickelgamaschen. Die gehörten einem unserer Rossknechte. Man erlaubte es mir. Ein Bekannter, der jeden Abend zu uns zum Essen kam, hatte von einem französischen Gefangenen eine Hose eingehandelt. Er gab sie mir, eine französische Pumphose aus einem ausgesprochen guten Stoff. Daraufhin ging ich in die Stadt zum Schneider Lehner und fragte, ob er mir aus der Pumphose eine Reithose schneidern könnte. Unten mussten sie ein Stück braunen Stoff anstückeln, weil der Stoff nicht reichte, aber ich bekam eine unglaublich robuste Reithose! Mama schimpfte: „Du wirst doch nicht so blöd sein und nach Deutschland hinausfahren!“ Sie hielt meine Idee für brandgefährlich. Jedenfalls steckte sie es allen, die zu uns kamen, jeder hätte mir abraten sollen. Sogar der Bekannte, der mir die Hose gegeben hatte, wollte mir mein Vorhaben ausreden. Ich habe mir die Freude aber nicht nehmen lassen. Egal, was die anderen sagten: ich kontaktierte die Reitschulen, meldete mich 48


bei einer an und fuhr auch gleich hinaus nach Deutschland. Eine Bekannte, die damals bei der Bahn arbeitete, schrieb mir die Zugverbindungen heraus. Die Route verlief über das Protektorat Böhmen und Mähren. Dort wurde der Zug zugesperrt und niemand durfte herein oder hinaus. Über Lundenburg ging es aus Österreich hinaus, bei Aussig an der Elbe (Ùsti nad Labem) querte der Zug die deutsche Grenze. Ich hatte noch Zeit, mir in Dresden alles anzuschauen. Danach fuhr ich hinaus zum Jagdschloss Wernsdorf. Es war nicht unbedingt die gemütlichste Zeit in meinem Leben. Es regnete wie verrückt, und ich hatte zum ersten Mal richtig Hunger. Daheim war ich ja ziemlich heikel, und ich aß sicher nicht alles. Aber in Wernsdorf, da musste ich das Stammgericht essen. Es gab nur Quark und Spinat. Quark, das war Topfen. Ja, eine Suppe kochten sie, die ich ohnehin nicht mochte, und Spinat, den ich bis dahin noch nie auch nur angeschaut hatte. Irgendwann aber wurde mein Hunger so übermächtig, dass ich sogar Quark und Spinat aß. Es tat mir nicht gut, denn danach war ich drei Tage lang krank. Seither habe ich nie mehr in meinem ganzen Leben Spinat gegessen. Zu diesem Reitkurs kamen damals Leute aus ganz Deutschland. Einer der Teilnehmer hieß Hans-Karl von Vocht-Fritz und prahlte: „Wir haben ein doppeltes Rittergut zu Hause.“ Er trug eine komplette Reiterdress aus Leder, aber das Waschen kannte er nur vom Hörensagen. Ein anderer Teilnehmer war winzig klein und aß ständig Zahnpasta. Die verschiedensten Leute traf man dort. Sehr viele kamen von der Reiter-SA aus Schlesien, aus Ratibor, Katovice und solchen Orten. Sie waren Oberschlesier und meine Zimmerkollegen. 49


Sie behaupteten, das schönste Deutsch zu sprechen. „Wir sprechen wie der Führer!“, sagten sie, nur um dann gleich polnisch weiterzureden. Ich hatte wenig Vertrauen zu diesen Leuten und schaute mich um, ob nicht in einem anderen Zimmer ein Platz frei wäre. Als ich einen fand, wechselte ich sofort. Doch zu spät, sie hatten mir mein Geld gestohlen. Die halbe Anzahlung hatte ich zu Beginn leisten müssen, den Rest verwahrte ich in meinem blauen Rock. Ich hatte meine Markscheine möglichst klein zusammengelegt und ganz tief in den Innenrocksack hineingesteckt. Auf einmal greife ich hinein – kein Geld mehr da. Sofort zeigte ich den Diebstahl an. Ob ich Vermutungen hätte? Ich sagte gleich: „In meinem Zimmer sind lauter Oberschlesier.“ Ein Gendarm nahm alles auf. Ich konnte meinen Kasten nicht versperren, weil jemand das Schloss herausgerissen hatte. Den Rest des Kursbeitrags verweigerte ich dann mit dem Argument: „Wenn ich meinen Spind nicht richtig zusperren kann, brauche ich auch nichts zu zahlen.“ In Wernsdorf machte ich die Prüfung für das deutsche Fahrerabzeichen. Doch da ich den Kursbeitrag nicht bezahlt hatte, bekam ich das Abzeichen nicht. Mir war es egal. •

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Meine Pferde Vom Pferdevirus wurde ich 1929 im Alter von vier Jahren angesteckt, als mein Vater unsere dreijährige Norikerstute Fanny verkaufte. Damals wurden die Pferde zum Verkauf mit langen bunten Bändern an Mähne und Schweif geschmückt. Für mich war der Tag des Verkaufs aber ein schwarzer Tag. Der Abschied wird mir immer in Erinnerung bleiben. In der NS-Zeit gab es die Zeitschrift „Landvolk im Sattel“, in der alle großen Reitschulen Deutschlands vorgestellt wurden. Das war etwas für mich! Nachdem ich alles über die verschiedenen Schulen gelesen hatte, entschied ich für das Jagdschloss Wernsdorf in Sachsen. Dort absolvierte ich meine Reitausbildung. Nach dem Kriegsende liefen viele herrenlose Pferde herum. Abertausende Heimatvertriebene waren mit ihren Gespannen unterwegs. Man sah oft neugeborene Fohlen, deren Füße zum Schutz der Hufe in Lappen eingewickelt waren. Die Russen hatten viele der herrenlos herumlaufenden Pferde rücksichtslos zusammengeritten, so dass sie ihre Knie nicht mehr durchstrecken konnten. Ich bekam eine junge schwarze Vollblutstute geschenkt, die mir viel Freude bereitete. 1948 gründete ich die erste steirische Warmblut-Reitergruppe, mit der wir auch in Graz auftraten. Meine Fanny trug mich zum Sieg. Viele Jahre später fuhr ich zu einer großen Pferdeauktion nach Polen, bei der die Pferde nur in Dollar gehandelt wurden. Einen vierjährigen Schimmel-Wallach, einen großen Anglo-Araber, konnte ich ersteigern, obwohl mir zuvor Reiter aus Schweden und Italien den Preis in die Höhe getrieben hatten. Der Name dieses Pferdes war Index. Im Reitclub Schloss Graschnitz, wo ich seit seiner Gründung Mitglied bin, hängt heute noch ein großes Bild von ihm in der Stube.

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Im Jänner 1991 fuhr ich zur Winterauktion nach Verden in Deutschland. Dort nahm ich Graphita , eine Schimmelstute, ins Visier (ihre Tochter hatte die Staatsprämie erhalten). Graphita war von Ritual trächtig. Die ersten Ritual -Fohlen waren hochpreisig über die Auktion gegangen. Am selben Tag wurde auch das Wunderpferd E.T. von Hugo Simon versteigert. Unter E.T.s Namen stand: „Springreiter aufgepasst!“ Durch einen Impffehler wurde Graphitas Fohlen tot geboren. Danach wurde Graphita von Loretto B. gedeckt und brachte ein Hengstfohlen zur Welt, das in der Steiermark 35 Punkte erreichte. In Stadl-Paura erregte das Fohlen großes Aufsehen. Gebote bis 120.000 Schilling gab es für den Kleinen. Wegen des toten Fohlens bekam ich vom Hannover-Verband einen Gutschein über 10% des Kaufpreises für das nächste Pferd. Um diese 10% zu lukrieren, musste ich allerdings tüchtig hineinbeißen! Ein weiser Mann sagte einst: „Ein Pferd und ein Auto sollen nicht nur zweckmäßig sein, sondern auch schön!“ Perina war ein sehr schönes Fohlen. Fritz Kargl brachte es in die Steiermark. Mit drei Jahren wurde Perina bei Hans Riegler, Oberbereiter der spanischen Hofreitschule in Wien, ausgebildet. Dort wurde sie auch von dem bekannten Trakhener-Hengst Atlas gedeckt. Bei der Zuchtbuchaufnahme in Graz wurde sie Siegerin. Sie brachte einen Fuchshengst zur Welt, der mit drei Jahren wieder bei Hans Riegler ausgebildet und dann nach Dänemark verkauft wurde. Das nächste Fohlen von Perina war ein braunes Stutfohlen von Periander, das bei der Fohlenschau in Graz Reservesiegerin wurde. Als nächstes kam La Paloma zur Welt. Das letzte Fohlen von Perina stammte von Hofrat. La Paloma wurde von Conthargos besamt. Ihr Hengstfohlen Condor S. wurde in Graz Sieger unter den springbetonten Fohlen. In Stadl-Paura wurde er gemeinsam mit den dressurbetonten Fohlen vorgestellt, zeigte dort jedoch nicht seine ganzen Qualitäten. Er wurde Achter. Glücklicherweise bekam ich eine Halbschwester des Olympiasiegers und Weltmeisters Walegro namens La Negra. Ein altes Sprichwort sagt: „Wer mit Hühnern und Pferden reich wird, wird nie mehr arm!“ Um den Beweis dafür anzutreten, bin ich aber anscheinend noch zu jung.

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Richard auf der ber端hmten Mausi

Richard reitet 1951

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Kriegszeit — Arbeitsdienst Am 13. Jänner 1943 – ich war 18 Jahre alt – musste ich zum Arbeitsdienst antreten. Das war gleichzeitig auch die Einberufung. Ausgestattet mit einem alten hölzernen Koffer, der noch aus dem Ersten Weltkrieg stammte, rückte ich zusammen mit meinem Freund Richerl ein. Er und ein weiterer Schulkollege kamen nach Lebring, ich selbst nach Werndorf. Wie wir dort traktiert wurden! Gehen war prinzipiell verboten. Außerhalb der Unterkunft mussten wir uns ausnahmslos im Laufschritt bewegen. Unsere Latrinen lagen 300 Meter entfernt, mitten im Wald. Dazu erhielten wir die Vorschrift: „Austreten nur komplett angezogen!“, und das galt natürlich auch in stockfinsterer Nacht. Wer sich, weil er es eilig hatte, einfach den Mantel über das Nachthemd zog, bekam eine Woche Strafdienst aufgebrummt. Ständig inspizierten die Aufseher die Baracke. Sie wischten mit der Hand auch über die entlegensten Flächen. Wurden sie fündig, bekamen wir den Dreck gleich ins Gesicht geschmiert. Das hinterließ schwarze Streifen und sollte uns lächerlich machen. Um 10 Uhr abends wurde „ausgestaubt“. Zur Kontrolle, ob wir genau gearbeitet hatten, blies ein Arbeitsdienstführer in den Ofen. Er wartete nur darauf, Ruß aufstieg, denn dann drohte uns Unheil. Von diesem Arbeitsdienst habe ich bis heute Narben an den Füßen. Sie stammen von den Schuhfetzen, die wir uns in die Stiefel stopfen mussten. Reine Schikane. Danach ging es ins heutige Slowenien nach Sterntal bei Pettau (Strnišče bei Ptuj). Hitler hatte vor, dort eine große Aluminiumfabrik 55


zu bauen. Dazu sollten wir einen Wald roden und die Stämme wegtragen – ohne Pferd oder sonstige Hilfsmittel. Jeweils sechs bis acht Mann nahmen sich einen Baum vor. Wir mussten die Wurzelstöcke mit einem Dreifuß herausziehen: ausgraben rundherum, einhaken und mit einer Ratsche die Stöcke herausarbeiten. Zähe Kiefern waren das. Neben unserem Lager befand sich ein KZ. Die Insassen, die zum Kanalgraben gezwungen wurden, sahen aus wie der Tod. Man hatte sie in Serbien und von überall in der Gegend zusammengefangen. Schon damals war uns klar: Wer es wagen sollte, ihnen Erdäpfel oder etwas anderes zu essen über den Zaun werfen, wäre selbst gleich der nächste Kandidat fürs KZ. Menschen wurden in dieser Zeit wie Vieh behandelt. Nach fünf Monaten, am 16. Juni 1943, war der Arbeitsdienst beendet. Endlich konnte ich nach Hause zurückkehren, wo meine Arbeitskraft dringend benötigt wurde.

Richard (Zweiter v. r.) beim Arbeitsdienst

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Das Lager Sterntal Das Lager Sterntal (auch Sternthal, slowenisch Taborišče Šterntal oder Strnišče) war ein Internierungslager im Gebiet der heutigen Gemeinde Kidričevo bei Ptuj, das während des Zweiten Weltkriegs als Arbeitslager beim Bau einer Aluminiumfabrik und im Jahre 1945 als zentrales Sammellager bei der Vertreibung der ethnischen Deutschen aus Slowenien diente. Während des Ersten Weltkriegs entstand hier ein Kriegsgefangenenlager. Später diente es als Flüchtlingslager für Flüchtlinge aus dem Küstenland, von wo viele Zivilpersonen wegen der IsonzoSchlachten fliehen mussten. Des Weiteren befand sich auf dem Gelände ein Lazarett, in dem Verwundete der Isonzo-Front versorgt wurden. 1942 richteten die deutschen Besatzungsbehörden ein Arbeitslager ein, in dem Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter für den Bau einer Tonerdefabrik zur Aluminiumproduktion an der Eisenbahnstrecke Ptuj-Pragersko interniert wurden. Für die notwendige Elektrizität war ein Wasserkraftwerk an der Drau vorgesehen. Neben Gefangenen wirkten am Bau auch reguläre Arbeiter mit. Die Vereinigten Aluminiumwerke (VAW) begannen mit dem Bau der Fabrik 1942, doch konnte das Werk bis Kriegsende nicht vollendet werden. Die Fertigstellung der Aluminiumfabirk (heute Talum) erfolgte erst in den Jahren 1947–1954. Am 15. März 1944 verfügten die Besatzungsbehörden, dass Familienangehörige von Deserteuren zu Zwangsarbeit verpflichtet würden. Das Lager Sterntal, das viele der Betroffenen aufnahm, wurde in Strafsonderdienstpflichtlager Sterntal umbenannt. Im Mai 1945 errichtete die OZNA unter der Leitung von Aleksandar Ranković auf dem Gebiet des ehemaligen Zwangsarbeiterlagers ein „Konzentrationslager„ (koncentracijsko taborišče), in das Volksdeutsche aus ganz Slowenien, insbesondere aus der Untersteiermark und der Gottschee gebracht wurden. Daneben wurden dort auch Slowenen sowie Angehörige der ungarischen Minderheit aus Prekmurje festgehalten.

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Auf Grund von Überfüllung und schlechter Hygiene breiteten sich im Lager Sterntal Krankheiten aus, darunter Ruhr und Typhus. Die Gefangenen waren besonderen körperlichen und seelischen Quälereien ausgesetzt, viele wurden auch erschossen. Unter den Todesopfern waren besonders viele Kleinkinder und Alte. Neben „Altersschwäche„ wurden besonders Diarrhoe und Dysenterie als Todesursache angegeben. Insgesamt sind im Lager Sterntal, das für 2000 Personen bestimmt, aber ständig mit etwa 8.000-12.000 Personen belegt war, zwischen 800 und 1.000 und 4.000 Menschen von Mai bis Oktober 1945 bzw. bis zu 5.000 Menschen in der Gesamtzeit seines Bestehens umgekommen, jedoch liegen keine genaueren Daten vor. Im Oktober 1945 wurde das Lager Sterntal nach Intervention des Roten Kreuzes aufgelöst und die Überlebenden – soweit sie nicht in andere Lager kamen – mehrheitlich nach Österreich abgeschoben.

Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Lager_Sterntal

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— Was heißt da freiwillig? Dass ich für das NS-Regime nichts übrig hatte, zeigt eine Entscheidung aus dem Jahr 1943, die die Weichen für mein Leben in der Kriegszeit stellte. Ich war damals knapp 18. Die körperlich Größeren unserer Gruppe, der sogenannte erste und zweite Zug, sollten zum Arbeitsdienst. Kurz vor einer Übung hieß es plötzlich: „Erster und zweiter Zug im Trainingsanzug in den Tagesraum!“ Wir wussten erst gar nicht, was los war. Offensichtlich sollte die geplante Übung nicht stattfinden. Also hieß es umziehen, und dann ging es ab in den Tagesraum. Dort harrten wir der Dinge, die da kommen sollten. Auf einmal fuhren zwei Schwimmwagen3 vor, die SS war im Anmarsch.

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Allradgetriebenes

Amphibienfahrzeug

Wir sahen sie sofort: zackige Burschen aus dem Reich mit Tellermützen. So kamen sie daher. Sie stürmten in die Baracke und hielten sofort einen flammenden Vortrag über die Waffen-SS. Was die Waffen-SS sei, welche grandiosen Aussichten man als SS-Mann nach dem Sieg hätte. Jeder bekäme eine garantierte Staatsanstellung. Konkret: „Zuerst vom Arbeitsdienst abrüsten, dann eine gediegene Ausbildung im Reich, anschließend einen Heimaturlaub und danach ab an die Front“, sagten sie. Zusätzlich lagen in der Baracke diverse Broschüren auf – Werbung für die SS-Panzerdivision, die SS-Meldereiter und

SS-Werbeplakat

die sonstigen Einheiten. Eine Weile redeten sie so auf uns ein, dann fragten sie abrupt: „Na, und wie viele melden sich jetzt? Wer will zur SS?“ Zehn von uns zeigten auf. Einer von ihnen war 1,90 m groß und wog viel59


leicht 55 kg. Ich dachte: Wenn sie den nehmen, sind sie offenbar nicht mehr sehr wählerisch. Aber die SS-Männer achteten nicht auf unsere Verfassung. Sie herrschten uns an: „Was? Zehn Männer nur? In anderen Abteilungen melden sich die jungen Burschen vollzählig.“ Dann befahlen sie uns, uns splitternackt auszuziehen, und schon ging es los. Die Freiwilligen saßen bereits hinten, eine ganze Reihe, es war schon alles notiert worden. Die SS-ler hatten sämtliche Daten uns von aufgenommen, die sie brauchten. Wir hätten nur noch sagen sollen, zu welcher Einheit wir wollten, und natürlich unterschreiben. Ich war aufgrund meiner Größe Trupp 2 zugeteilt worden. Die SSLeute begannen mit den allergrößten Burschen in Trupp 1 und arbeiteten sich dann vor. Die Kollegen gaben an, ob sie zur SSKraftradmelder:

Panzerdivision, zu den SS-Kradmeldern 4, den SS-Meldereitern

begleiteten Kolon-

oder zu irgendeiner anderen Division wollten. Das wurde notiert,

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nen als Verkehrssicherungsposten

und dann mussten sie unterschreiben.

oder übernahmen Kurierdienste bei ausgefallenen

Schließlich kam ich an die Reihe. Sie fragten mich: „Zu welcher

Kommunikations-

Einheit?“ Darauf sagte ich erst einmal gar nichts. Nach einer kur-

systemen. Sie

zen, peinlichen Pause wollten sie wissen, ob es mir denn gleich

waren mit Kraft-

sei, zu welcher Einheit ich käme, weil ich nichts sagte. Darauf ich:

rädern motorisiert.

„Nein, ich gehe nicht zur SS.“ Jetzt schauten alle auf mich. Die ganze Reihe wich zurück. Dann ein scharfes: „Was hören wir da?“ Ich sagte noch einmal: „Ich gehe nicht zur SS.“ Darauf die scharfe Aufforderung: „Eine Begründung!“ Ich antwortete: „Zur Wehrmacht muss ich sowieso, aber ich gehe nicht zur SS.“ „Haben Sie Angst vor Blut?“ fragten sie gleich. „Oder wollen Sie

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vielleicht im Hinterland tachinieren, während Familienväter draußen an der Front sind?“ Ich antwortete immer dasselbe: „Ich gehe nicht zur SS.“ Nach einigem Hin und Her fragten sie mich ganz hinterhältig: „Oder lassen Sie Ihre Eltern nicht?“ Das wollten sie natürlich herausbringen. Ich hätte nur zu sagen brauchen: „Nein, die Eltern lassen mich nicht“, und schon wären Papa und Mama reif gewesen fürs KZ. Auf einmal wurde es ganz still, und alle schauten mich erwartungsvoll an. Die Situation wurde zunehmend brenzlig. Und da schoss mir auf einmal, wie ein Blitz, die einzig richtige Antwort in den Kopf, eine Gegenfrage: „Ist das jetzt freiwillig, oder ist es Zwang?“ Darauf sie: „Zwang ist es nicht.“ Und ich: „Und freiwillig gehe ich nicht.“ Da sprang ein SS-Mann auf und schrie: „Verschwinde! Solche Leute wie du sind es gar nicht wert, deutsches Brot zu essen!“ Ich packte meinen Trainingsanzug und verließ die Baracke. Hinter mir rief noch einer her: „Ich hoffe, dass ein Stein vom Dach herunterfällt und Sie erschlägt. Sie Krüppel sind es überhaupt nicht wert, im deutschen Reich zu leben.“ So war das damals. Mein Freund Richerl war leider zu feig gewesen und hatte schon unterschrieben. In der Baracke sagten sie dann bewundernd zu mir: „Du hast dich aber was getraut!“ Die anderen, die sich schon „freiwillig“ gemeldet hatten, begannen fast zu weinen. Sie bereuten, dass sie es nicht auch so gemacht hatten wie ich. Nach meinem Auftritt unterschrieben allerdings nur noch wenige. Die meisten weigerten sich genau wie ich. Sie hatten gesehen, dass es möglich war. Die Stimmung in der Baracke war 61


dementsprechend schlecht. Ich fand allerdings, die Kollegen hätten dort, im Tagesraum, reden müssen, nicht erst im Nachhinein.

— Wehrdienst Am 29. Oktober 1943 wurde ich nach Leoben beordert, und zwar schon zum dritten Mal. Beim ersten Termin hatten sie zu viele junge Männer eingezogen, und so durfte ich wieder nach Hause gehen. Beim zweiten Mal entkam ich dem Militärdienst, indem ich mich wie beiläufig zur Gruppe derjenigen stellte, die überzählig waren. Gut geraten. In Kapfenberg musste ich mich jedes Mal bei der Kartenstelle und beim Gemeindeamt abmelden. Am nächsten Tag alles retour, ich meldete mich wieder an. Kein Wunder, dass sie mich scheel anschauten. Kaum war ich weg, kam ich schon wieder zurück. An diesem 29. Oktober war allerdings bereits die Hälfte der Männer, die nach Leoben einberufen worden waren, jünger als ich, Geburtsjahrgang 1926, und so musste ich einrücken. Wir erhielten eine kurze Ausbildung und sollten dann gleich zur Truppe. Auf einmal entwickelte sich an meinem Knie ein Riesenfurunkel. Sie schickten mich ins Revier, wie damals die Krankenstation beim Militär hieß. Als der Furunkel reif war, Richard als Soldat

hatte er sieben oder acht hässliche Eiterstellen. Schnell entschlossen bog ich mein Knie ab. Man kann sich unschwer vorstellen, was dann passierte. Soviel kann ich sagen: Es war sicher kein Anblick für Weichlinge. Meine Kollegen waren inzwischen schon nach Flitsch, slowenisch Bovec, hinunter versetzt worden. Nachdem mein Furunkel aufgeplatzt war, schickten sie mich nach, und so kam ich über den Predilpass nach Flitsch. Bis Tarvis konnte ich fahren, von dort ging es zu Fuß weiter.

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Wir waren in der Region stationiert, in der im Ersten Weltkrieg die Isonzokämpfe stattgefunden hatten. Flitsch-Tolmein, das sagt einigen vielleicht auch heute noch etwas. Die zwölf Isonzoschlachten waren ja wirklich schwere Kämpfe. Wir blieben einige Zeit über in Flitsch. Ich erinnere mich noch an die Verpflegung: Schweinsbraten, Polenta oder auch Gulasch. Die Polenta schnitten sie übrigens mit einer Schnur wie eine Torte. Uns schmeckte es.

Ölsardinen, extrafein Helmut kam 1943 oder 1944 zunächst nach Wieselburg und musste direkt von der Schule aus einrücken. Schon mit 16 Jahren war er beim Wehrdienst in Lunz. Während ich in Rijeka – damals hieß es Fiume und gehörte zu Italien - stationiert war, hatte man ihn ins Wehrertüchtigungslager in Lunz gesteckt. Eines Tages fand meine Truppe unverhofft einen geheimen Zugang zu Lebensmittelvorräten, genauer gesagt zu Sardinendosen, und zwar in rauen Mengen. Die konnten wir sehr gut gebrauchen. Ich wollte aber auch unbedingt meine Familie daheim an diesem Sardinensegen teilhaben lassen und überlegte lange, wie ich es bewerkstelligen sollte. Endlich fiel mir ein, wie es gehen konnte. Aus einem Schuhgeschäft besorgte ich mir zwei Schachteln und füllte sie randvoll mit den Dosen. Dann schickte ich eine Schachtel zu Helmut nach Lunz und die zweite nach Hause. Helmut erzählte mir später, er hätte diese erstklassigen Ölsardinen mit den extrafeinen Schwanzerln sehr genossen. Unser Geheimlieferant war die Marine-Küstenbatterie. Diese bewahrte ihre gesamten Vorräte für ein halbes Jahr in Dosen auf. Brot, alles, die ganze Verpflegung hatten sie eingedost. Wir wussten, wo sie ihre Sachen lagerten und gingen dann halt „nachschauen“. Im Krieg nannte man so eine Aktion „organisieren“.

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— Granatsplitter Im Sommer 1944 war ich weiter westlich in Italien stationiert. Dort bekam ich am 17. September einen Granatsplitter ab, und zwar von unseren eigenen Leuten. Die deutsche Artillerie hatte zu kurz geschossen. Sie dachten wohl, die Engländer wären schon da. Mit einigen anderen stand ich ganz vorn und wurde von ein paar Splittern getroffen. Die Verletzung bot mir zum Glück einen Vorwand, über den Brenner hinaufzukommen. In Innsbruck ließ ich mir die Haare schneiden. Der Friseur stellte sofort fest, dass ich Kopfläuse hatte. Als er die Nissen entdeckte, wich er immer weiter zurück. Die Läuse verwunderten ihn allerdings weniger als die Tatsache, dass ich mich so weit vom Bahnhof hatte entfernen können. Nun, ich hatte ja genügend Zeit und konnte mir die Stadt ansehen. So ging ich auch an einem Pferdestall vorbei. Er war von einer Bombe getroffen worden, die Pferde waren verbrannt. Ich erinnere mich noch an den traurigen Anblick der vier toten aufgeblähten Rösser. Später, daheim in Kapfenberg, behauptete einer unserer zahlreichen Kostgänger, er hätte von mir Kopfläuse bekommen. Das dürfte wohl passiert sein, bevor sie mich in Graz entlausten. Denn ich musste ja nach Graz ins Lazarett. Dort war aber damals alles schon so überfüllt, dass sie mich zu den Ursulinen schickten. Davor verbrachte ich eine Nacht in der Wehrmachtsunterkunft am Bahnhof, wo alles gestohlen wurde, was nicht niet- und nagelfest war. Jedenfalls stellte ich plötzlich fest, dass mir meine Kopfbedeckung, eine schöne Mütze, fehlte. Jetzt war guter Rat teuer. Ohne Mütze konnte ich mich unmöglich in der Öffentlichkeit bewegen! Eine Mütze mit Wehrmachtsstreifen brauchte man nämlich, weil man sonst sofort aufgeschrieben 64


worden wäre. Es war streng verboten, sich nur mit der Uniform und ohne Kopfbedeckung auf der Straße zu zeigen. Irgendwo musste ich eine neue Mütze auftreiben. Also strich ich wie zufällig durch den Raum, um mir Ersatz zu organisieren. Natürlich passten alle wie die Haftelmacher auf ihre Habseligkeiten auf. Doch meine Geduld wurde belohnt: Irgendwann drehte sich einer um, die Mütze in meiner Reichweite. Da schnappte ich sie mir schnell und verschwand. Das Stehlen liegt mir wirklich nicht, aber im Krieg galt: „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!“

— Ertappt Ich verdankte es den Granatsplittern, dass ich zur Behandlung heim in die Steiermark kam und danach auf Genesungsurlaub. Von Graz fuhr ich ständig ohne Erlaubnis nach Kapfenberg und wieder zurück. Das brachte mir den Beinamen „der ewige Urlauber“ ein. Als Adresse hatte ich das Haus unserer Verwandten in Niederschöckl angegeben, weil es innerhalb der zulässigen 10 Kilometer von Graz entfernt lag. Es ging ja darum, jederzeit für die Truppe erreichbar zu sein. Wäre etwas vorgefallen, hätten sie mich an der angegebenen Adresse verständigt, und ich hätte sofort einrücken müssen. In Wahrheit aber fuhr ich jedes Mal mit dem Zug nach Hause und nicht nach Niederschöckl. Um glaubhaft zu bleiben, konnte ich natürlich nicht am Hauptbahnhof aussteigen. Stattdessen nahm ich die Straßenbahn nach Gösting. Dort war die Gefahr gering, auf eine Wehrmachtsstreife zu stoßen. Bevor ich mich in einen Zug wagte, beobachtete ich vom Bahndamm aus jeweils ganz genau, aus welchem Waggon die Streife herausschaute. 65


Damals fuhr mit jedem Zug eine solche Streife mit. Erblickte ich die Wehrmacht hinten, stieg ich vorn ein, war sie vorn, nahm ich einen der hinteren Waggons. Im Abteil setzte ich mich dann immer so, dass ich in die Richtung schauen konnte, aus der die Streife zu erwarten war. Ich spähte an jeder Haltestelle hinaus aus dem Personenzug, wie weit die Soldaten schon vorgerückt waren. Waren sie schon in der Nähe, also etwa im nächsten Waggon, stieg ich schnell aus und hinter der Streife wieder ein. So schaffte ich es gezählte sechzehn Mal von Graz nach Kapfenberg und wieder zurück. Beim sechzehnten Mal schaute ich mich wie gewohnt um und sah die Streife von hinten kommen. Daher stieg ich in der Mitte des Zuges ein. Als sie näher rückten, stand ich auf, um ihnen auszuweichen. Ein gutes Stück hinter ihnen würde ich wieder einsteigen. Ich betrat also den nächsten Waggon, da sah ich plötzlich die Streife vor mir. Offenbar fuhren mit diesem Zug gleich zwei Streifen mit. Mein einziger Ausweg war das WC. Die Männer befanden sich zu diesem Zeitpunkt vielleicht noch drei bis vier Meter vor mir entfernt. Alle Fahrgäste wurden genau kontrolliert. Ich rettete mich also in die Toilette. Drinnen blieb ich an der Tür stehen und horchte. Nach kurzer Zeit trommelten sie mit den Fäusten an die Tür. „Wie lange dauert das denn noch?“ brüllten sie. Deutsche, das konnte man an der Aussprache sofort erkennen. So blieb mir nichts anderes übrig, als aus dem WC herauszukommen wie ein ertappter Partisan. Ich trug keinerlei Ausweispapiere bei mir, nichts. Nur einen Behandlungsschein vom Grazer Lazarett hatte ich dabei. Für die Streife machte mich das zum Deserteur. Ich erklärte, ich sei vom Lazarett aus immer vereinbarungsge66


mäß nach Niederschöckl gefahren, doch nun sei meine Therapie beendet und ich hätte unbedingt noch einmal meine Familie in Kapfenberg besuchen wollen. Leider hatte ich nichts, um mich auszuweisen, nicht einmal mein Soldbuch. Das wäre damals genauso gültig gewesen wie ein Reisepass, doch ich hatte es in Graz zurücklassen müssen. Die deutschen Soldaten beschimpften mich heftig und nahmen mich mit. In Bruck übergaben sie mich dem Bahnhofsoffizier. Vor dem stand ich da wie ein Sträfling, ein Gefühl, als wäre ich bei der Geheimpolizei gelandet. Ich schlug meinen Bewachern vor, doch in Graz anzurufen. Dort würde man ihnen sofort bestätigen, dass ich tatsächlich in Behandlung war. Da die Bomben in Graz aber bereits großen Schaden angerichtet hatten, konnte keine Telefonverbindung mehr hergestellt werden. Also herrschten sie mich an: „Mit der nächsten Streife fahren Sie wieder hinunter nach Graz und melden sich heute noch im Lazarett!“ Auf meinen Einwand, dass dort nach den Bombeneinschlägen ja nun niemand mehr sei, reagierten sie gar nicht. „Sie fahren heute noch hinunter und melden sich, fertig.“ Ein Befehl! Dann notierten sie noch auf meinem Behandlungsschein, dass sie mich erwischt hatten ohne Ausweispapiere, und ließen mich stehen. Ich überlegte ein bisschen und verließ dann das Bahnhofsgebäude. Draußen riss ich den verräterischen Vermerk von meinem Behandlungsschein und machte mich sofort zu Fuß auf den Weg nach Kapfenberg. So konnte ich immerhin noch drei Tage, von Freitag bis Montag, bei meiner Familie verbringen. Am Montag fuhr ich tatsächlich nach Graz, holte mein Soldbuch ab und bekam Genesungsurlaub. Obwohl sie dort wussten, was vorgefallen war, sagten sie kein Wort. Dabei war die Sache schon 67


längst nach Windischgraz (Okraj Slovenji Gradec) weitergemeldet worden, wo sich meine Truppe befand.

— Ein Fall für den Nervenarzt Mein Arzt in Graz war der Sohn des damaligen Leobener Tierarztes Dr. Handl. Er hatte irgendwie mitbekommen, dass ich aus einem Bauernhaus stammte, und bat mich, ihm ein Stück Fleisch mitzubringen. Dementsprechend wurde ich in der Folge recht wohlwollend behandelt. Eine Röntgenaufnahme meiner Hand ergab, dass mir überhaupt nichts fehlte. Es waren keine Splitter zu sehen, und Knochen war auch keiner verletzt. Ich wollte aber unbedingt noch länger in Graz bleiben und fragte daher, wie es kommen könne, dass ich so überhaupt kein Gefühl in den Fingern hätte, wenn mir doch nichts fehle. Daraufhin schickten sie mich zum Nervenfacharzt. In Wahrheit hatte ich gar keine Beschwerden, trug aber einen dicken Verband. Sonst wäre ich ja gar nie heraufgekommen aus Italien. Bei diesem Nervenfacharzt herrschte ein anderer Ton als im Lazarett. Man setzte mich in einen Raum, und ich musste warten. Als Arzt und Helfer hereinkamen, merkte ich sofort, dass mit ihnen nicht gut Kirschen essen war. Der Arzt fuhr mich an: „Augen zu!“. Dann nahm er eine Sicherheitsnadel und begann mich in die Hand zu stechen. Ich sollte den Schmerz, den er auslöste, als „stumpf oder spitz“ beschreiben. Das war nicht ohne! Dieser Sadist stach brutal in meinen Fingern herum. Ich riss mich aber zusammen und sagte fast jedes Mal „stumpf“. Nur ein paarmal gab ich an, der Schmerz sei 68


spitz gewesen. Der Arzt registrierte genau, bei welchen Fingern ich stumpf und bei welchen ich spitz gesagt hatte. Einen kleinen Hammer hatte er auch, mit dem er meine Reflexe prüfte. Er wollte die Reaktion sehen. Zum Schluss schrieb er drei Finger auf, die angeblich gefühllos waren. Die Diagnose lautete „Verletzter Speichennerv“. Ich bekam eine Behandlung mit Elektrizität und Massage verordnet. Die Ursulinen, bei denen ich untergebracht war, behandelten meine Hand mit Schwachstrom und massierten mich mit einer feinen Salbe. Die Schwester forderte mich auf, mich mit der Hand an der Wand entlang zu hanteln. So wollte sie feststellen, ob die Finger noch beweglich waren. Außerdem sollte ich ihre Hand nehmen und fest zusammendrücken. Davor musste ich noch zum dortigen Arzt. „Geben Sie mir die Hand“, sagte er. „Und drücken Sie fest zu!“ Er wollte wissen, wie viel Kraft ich hätte. Aber ich hielt meine Hand so schlapp wie einen toten Fisch. Obwohl es bei den Schwestern ganz nett war, fuhr ich natürlich dauernd nach Hause und arbeitete dort schwer. Auf einmal fiel einer Schwester auf, was für grobe, schwielige Hände ich hatte. Sie passten so gar nicht zu der sanften Behandlung, die ich bei den Ursulinen genoss. Aber das machte nichts mehr, denn zu diesem Zeitpunkt war der Kriegszirkus ohnehin schon so gut wie aus und meine Behandlung beendet.

— Auch der längste Krieg hat einmal ein Ende Am 1. April 1945 hätte ich noch zum Unteroffizierslehrgang nach Admont kommen sollen. Ich habe keine Ahnung, warum sie mich in Windischgraz dafür ausgewählt hatten, aber es wäre mir nicht unrecht gewesen. 69


Unten in Windischgraz befanden wir uns nämlich ständig im ausgesprochen gefährlichen Partisaneneinsatz. Von dort wurden dann die einen an die italienische Front geschickt und die anderen nach Russland abkommandiert. Und ausgerechnet mich teilten sie zusammen mit drei anderen für den Unteroffizierslehrgang in Admont ein. Ich war gleich einverstanden, denn mir war klar, dass der Krieg nicht mehr lang dauern konnte. Außerdem liegt Admont nicht allzu weit von Kapfenberg entfernt. Dorthin verlegt zu werden, war also sicher nicht verkehrt.

— Alarm in Windischgraz Allerdings kam es nicht mehr dazu, denn bei uns ertönte am 30. März, dem Karfreitag 1945, plötzlich mitten in der Nacht Alarm. Das hieß, wir mussten uns sofort feldmarschmäßig ausrüsten und aus unseren Schlafquartieren kommen. Dann wurden wir zusammengestellt. Ich war bei den Radfahrern, Aufklärungsabteilung 85. Mein Puch-Rad lief ausgesprochen rund, weil ich es immer gut in Schuss hielt. Es war mir sehr wichtig, dass das Rad in Ordnung war und ja keinen Achter hatte, damit es sich gut treten ließ. Wir fuhren also von Windischgraz nach Graz. Die Strecke über Marburg nach Graz bewältigten wir an einem Tag. Am Abend wurden wir im Brauhaus Puntigam einquartiert und bekamen dort ein Bier, das wir sehr genossen. Am nächsten Tag ging es mit dem Rad hinauf auf die Ries, wo wir die Ostertage verbrachten. Wir blieben bis zum Osterdienstag, dem 3. April 1945. Das war mein Namenstag. In dieser Nacht wurde Graz so schwer bombardiert, dass man die Erschütterungen sogar noch auf der Ries deutlich spürte. Wir 70


hatten kaum zu essen. Nur einmal ging ich von der Ries durch den Wald hinunter ins Tal, wo ich mir eine Eierspeis gönnte. Am Ostermontag kam eine ganze Schar Hamsterer vorbei, auch einige Ungarn waren dabei. Unter ihnen entdeckte ich einen guten alten Bekannten, der bei uns in Kapfenberg ein und aus ging. Er erkannte mich sofort. „Hast du Hunger?“ fragte er. Ja, ich hatte wirklich einen Riesenhunger. Wir bekamen ja nichts Gescheites zu essen. Er schenkte mir einen Laib Brot, von dem schon ein Scherzel abgeschnitten war, und ein Papiersackerl mit Grammeln. Die schmeckten wie Nüsse, einfach köstlich. Den Kollegen gab ich auch etwas ab. Diese Grammeln waren himmlisch, besser als jede Torte. Mit welchem Appetit, mit welchem Genuss ich damals gegessen habe!

— Letzte Kriegstage in der Oststeiermark Am Abend ging es weiter in die Oststeiermark - nach Weiz, Gleisdorf, Ilz und Riegersburg. Auf der Riegersburg waren schon die Russen, und man hatte Scharfschützen postiert. Dort war der Volkssturm eingesetzt – Leute mit Behinderungen und HJ-Buben. Natürlich gab es viele Tote, wie man sich unschwer vorstellen kann.

— Keine Gefangenen Die SS hatte die Russen im Burgenland von ihrer Armee abgeschnitten. Also mussten sie sich kämpfend zurückziehen, denn sie wollten ja wieder mit dem Hinterland Verbindung aufnehmen. Als wir in Altenmarkt bei Riegersburg in die Häuser gingen, stellten wir fest, dass die Russen fluchtartig aufgebrochen waren. Das Essen stand noch auf dem Tisch. Es war vielleicht vier Uhr in der Früh. Sobald es hell wurde, kamen die Frauen aus ihren Verstecken im Heu gekrochen. 71


Wir setzten also den zurückweichenden Russen durch den Wald nach und bildeten dazu eine Schützenkette. Alle sechs, sieben Meter ging einer von uns. Plötzlich stießen wir auf einen schlafenden russischen Soldaten, den sie offenbar zu wecken vergessen hatten. Ich sehe ihn heute noch vor mir, wie er verwirrt aufstand, ein großer, fescher Bursch von vielleicht 20 Jahren. Mit hoch erhobenen Armen stand er da. Gefangene wurden ja nicht mehr gemacht. Irgendwo hinter uns verpasste ihm dann einer einen Genickschuss. Er tat mir so leid. Ich dachte, der arme Kerl hat doch auch einen Vater und eine Mutter… Wegen nichts und wieder nichts, nur weil er verschlafen hat, muss er sterben.

— Danke, Burgi Huber In Raabau bei Feldbach waren wir im Haus einer gewissen Frau Burgi Huber einquartiert, und zwar ganz allein. Das Haus befand sich neben der Bahn und gleich dahinter, direkt an den Geleisen, waren schon die Russen. Wir verbrachten in Raabau drei Wochen, in denen uns wenig abging. Es war schön, die Hühner zu füttern, die im April fleißig Eier legten. Das freute mich sehr, denn so konnte ich jeden Tag Wein-Chaudeau kochen. Die Häuser ringsum waren alle leer, und man fand dort Zucker, Wein und alles, was man sonst noch so brauchte. Wir mussten es uns nur nehmen. Unser Aufenthalt fand aber ein abruptes Ende, als die Russen das Haus zusammenschossen. „Meine Herren, der Krieg ist aus!“ Also hieß es weiterziehen, diesmal nach Norden, nach GroßSteinbach bei Ilz. Dort angekommen, stellten wir unsere Räder ordentlich an einem Baum zusammen. Dann ging es in den Wald hinaus, in die Stellung. Auf einmal, um halb zwei in der Früh, kam 72


der Oberleutnant, ein Wiener namens Felbenhauer, und erklärte: „Meine Herren, der Krieg ist aus!“ Nun, das war für uns keine Überraschung mehr, denn wir hatten ja gehört, dass die Russen bereits auf dem Semmering standen. Obwohl der Krieg erklärtermaßen aus war, wollten sie uns plötzlich geschlossen nach Kärnten schicken. Dabei wussten wir, dass dort bereits die Engländer waren. Es gab damals eine Menge oft widersprüchlicher Parolen. Wir nannten sie Scheißhausparolen. Einmal schnappte der eine irgendwo etwas auf, dann wieder der andere. Niemand wusste etwas Genaues. Zuerst hieß es, die Russen würden sich zur ungarischen Grenze zurückziehen. Dann gab auf einmal der Oberleutnant für uns die Rückzugsparole aus. Die anderen Einheiten waren motorisiert, doch wir fuhren mit unseren Rädern. In dem ganzen Durcheinander übernahm ich das Kommando, weil ich die Strecke schon von früher kannte. Die Fahrt war sehr riskant. Aus jedem Waldeck schauten SS-Männer heraus, diese Kettenhunde. Sie waren vom SS-Streifendienst und hinterließen überall in den Straßengräben Soldaten mit aufgeblähten Bäuchen und Schildern, auf denen stand: „Wegen Drückebergerei erschossen“. Das machten sie übrigens auch in Kapfenberg so. In der Volksschule in Hafendorf wurden die „Deserteure“ abgeurteilt und dann auf dem Hügel oben erschossen. Ich kenne jemanden, der dort wohnte und immer mitbekam, wenn sie in der Nacht vorbeigingen. Kurz danach hörte er dann die Schüsse. Diese feigen SS-Hunde erschossen Soldaten, die vielleicht schon den ganzen Krieg mitgemacht hatten. Auf dem Kapfenberger Friedhof steht eine Tafel: Für die Opfer des Faschismus. Wenn ich das lese, werde ich heute noch zornig wegen der vielen unnötigen Todesopfer. Sogar SS-Leute wurden damals noch erschossen. 73


Männer, die ihr Leben nicht weiter dem Führer opfern wollten, gab es beinahe in jedem oststeirischen Dorf. Anton Papst aus Söchau hielt sich drei Jahre lang auf seinem kleinen Bauernhof versteckt. Seine Frau musste in der Öffentlichkeit um ihn weinen, um den Verdacht der lokalen Nazigrößen zu zerstreuen. Als Herr Papst nach dem Krieg anlässlich einer Fronleichnamsprozession den „Himmel“ tragen sollte, wurde er wegen seiner Deserteursvergangenheit von vielen Söchauern dieser Ehre nicht für würdig befunden. Frau Maria Lang aus Unterlamm, die ihren Mann versteckte, erzählte ebenfalls, dass sie sich nach dem Krieg grobe Reden anhören musste, „weil ich so falsch (unehrlich) war.“ Bei Kriegsende wurden viele Deserteure hingerichtet. Der Hatzendorfer Rudi Neubauer erfuhr im Grazer Lazarett, dass die Russen schon in Fehring seien. Er fuhr heim und versteckte sich bei seiner Mutter. Vor den Augen seiner Mutter schossen ihn SS-Angehörige, die ihn aufgestöbert hatten, zuerst in die Hoden, dann in den Kopf. Der vielfache Vater Friedrich Kaspar aus Loiberg und sein Nachbar Johann wollten ihre Familie im Kampfgebiet nicht allein lassen. Sie wurden verraten und in den letzten Kriegstagen in der Reiterkaserne in Graz hingerichtet.

Quelle: http://korso.at/korso/DStmk/derkrieg.html

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— Mit dem Rad nach Hause Ich wusste, auf der Hauptstrecke von Groß-Steinbach über den Rechberg würden wir den SS-Leuten direkt in die Arme laufen. Außerdem hatte man uns zwar gesagt, dass sich die Russen zurückziehen würden an die ungarische Grenze, doch wir trauten der Sache nicht. Das war alles zu gefährlich. Und wenige Tage, bevor der Krieg tatsächlich aus war, wollten wir ganz sicher kein Risiko mehr eingehen. Deshalb schlug ich vor, die Route über unseren landwirtschaftlichen Betrieb in St. Ruprecht an der Raab zu nehmen. Wir vereinbarten, nur in der Nacht zu fahren. Man konnte damals einfach nicht wissen, was wirklich los war. So sahen wir zu, dass wir auf schnellstem Wege mit dem Rad in Richtung Nordwesten kamen. Ein Kollege nahm das Maschinengewehr mit, denn wir wollten die Waffen so lange wie möglich nicht abgeben. Als wir frühmorgens in St. Ruprecht ankamen, stießen wir auf meine Kusine Laura, die gerade in den Stall ging. Sie erkannte mich zuerst gar nicht, so verstaubt waren wir. Um schneller voranzukommen, hatten wir uns nämlich auf den unasphaltierten Straßen hinten an die Autos angehängt. Erst als ich Laura anredete, wusste sie, dass ich es war. „Nur die Augen haben herausgeblitzt“, sagte sie später. Bei Laura bekamen wir etwas zu essen und konnten uns endlich ausschlafen. Danach, mit einer guten Jause im Bauch und einer Feldflasche voll Most, fuhren wir etwa um fünf mit dem Rad die Weizklamm hinauf auf den Rechberg. Was da los war auf dieser Straße! So viel Militär, so viele Flüchtlinge. Die Leute verwendeten alles als Fortbewegungsmittel: Kühe, 75


Esel, Scheibtruhe, Handkarren, egal. Alles war in Bewegung. Auf der schmalen Straße über den Rechberg ging es zu wie auf einer Hauptstraße zur Stoßzeit. Auf dem Rechberg angekommen, schliefen meine Kollegen gleich wieder ein. Wir waren wirklich erschöpf t. Ich drängte darauf, sofort, wenn auch langsam, wieder bergab zu fahren, um möglichst schnell und heil nach Hause zu kommen. Die anderen versicherten mir, sie würden bald nachkommen. Ich selbst aber wollte nicht warten und setzte meine Fahrt fort. Auf einmal packte mich ebenfalls der Schlaf, und ich stürzte mit dem Rad einen Abhang hinunter. Davon wachte ich natürlich wieder auf, kletterte den Hang hinauf, richtete mein Rad auf und fuhr weiter. Die Situation war deshalb so schwierig, weil alle Leute nur darauf warteten, dass jemand einschlief. Dann konnten sie einem das Fahrrad stehlen und selbst schneller vorankommen. Nach meinem Sturz wollte ich daher nicht stehenbleiben, fiel aber kurz darauf vor lauter Müdigkeit schon wieder in den Straßengraben. Es war einfach zu gefährlich. Wie leicht hätte ich beim Einnicken in ein Auto krachen können! Da half alles nichts, ich musste mich ausruhen. Leider schliefen hinter jedem Stall, ja sogar hinter jedem Heuschober, den ich anpeilte, schon kleinere und größere Gruppen von Soldaten. Mir lag aber viel daran, allein zu bleiben, damit niemand mein Rad stehlen konnte. Irgendwann gab ich die Suche nach einem einsamen Plätzchen auf, ich konnte einfach nicht mehr. Also zog ich mir meinen Mantel an und legte mich mit dem Oberkörper auf das Vorderrad. So hoffte ich, mein Gefährt schützen zu können. Endlich schlief ich kurz ein, doch dann wurde mir kalt. Ich stand auf, biss die Zähne zusammen und fuhr weiter in Richtung Kapfenberg. 76


— Wieder daheim Mein Gewehr hatte ich bei mir. In Diemlach stieß ich noch kurz vor meinem Ziel auf eine Gruppe Kommunisten: „Was braucht denn der noch ein Gewehr?“, fragten sie. Sie wollten es mir herunterreißen, doch ich fuhr so schnell ich konnte an ihnen vorbei, als hätte ich sie nicht gehört. Dieses Gewehr bewahrte ich gut auf und habe es bis heute. Endlich, am 9. Mai um halb sechs in der Früh, hatte ich es geschafft. Meine Mutter, die mich von Weitem sah, fragte: „Was kommt denn da für ein Soldat?“ So froh ich war, wieder daheim zu sein, die Sache war noch nicht ausgestanden. Ich musste befürchten, dass mich die Russen als Soldaten erkennen würden. Also zog ich mich zunächst einmal um und fuhr dann in den Graben hinein in Richtung St. Ilgen. Dort schlief ich den ganzen Tag im Wald. Am Abend wagte ich mich wieder nach Thörl hinaus. Ich musste die Lage erkunden. Da sah ich, dass die Russen schon von Mariazell herunter kamen. Jetzt war klar: Wenn die schon in Mariazell waren, konnte ich geradesogut nach Hause fahren. Und tatsächlich wimmelte es mittlerweile von russischen Soldaten. Sie trugen die Haare ganz kurz geschoren, fast als Glatze, wie es eben üblich war bei den Russen.

Helmut 1943

Deshalb ließ ich mir die Haare ebenfalls ganz kurz schneiden. Mit dieser „Frisur“ sah ich aus wie ein kleiner Bub, zaundürr, wie ich war. Niemand hätte vermutet, dass ich schon beim Militär gewesen war. Nur einen Tag nach mir kam auch mein Bruder Helmut heim. Er war drei Jahre jünger als ich, doch ihn pöbelten die Besatzer ständig an: 77


„Du Soldat!“ Wir waren zwar beide gleich groß, doch mit 17 Jahren brachte er schon 84 kg auf die Waage. Dieses stolze Gewicht habe ich mein Leben lang nicht erreicht.

— Nie wieder Krieg Ich bin ja für die EU. In unserer Familie waren mein Sohn Martin und ich die einzigen, die für die EU stimmten. Damit der Frieden erhalten bleibt. Ich kann mich noch an den Tag der Abstimmung erinnern, als ich über die Mürzbrücke zum Wahllokal ging. Noch immer war ich mir nicht sicher, wie ich mich entscheiden sollte. Da drehte ich mich um und sah das Schloss Wieden vor mir stehen. Plötzlich wusste ich: Wenn dadurch der Frieden erhalten bleibt in Europa, bin ich für die EU. Wir haben ja mittlerweile gesehen, was in Jugoslawien passiert ist. Wie lang ist das her? Und es kann immer wieder passieren! •

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Russenzeit — Besatzung Mama und Papa waren überglücklich, dass es ihre zwei großen Buben innerhalb nur eines Tages nach Hause geschafft hatten. Doch dann ging es auch schon drunter und drüber. Wir konnten plötzlich unsere Kühe nicht mehr austreiben, denn uns blieb kein einziges Fleckchen Wiese. Die Russen räumten eines unserer Zimmer aus, stellten überall Baracken auf und lagerten direkt auf der Wiese hinter dem Haus. Im Wald schlägerten sie große, vielleicht 15-jährige Fichten, die sie dort, wo jetzt das Stadion ist, wie Pflöcke einschlugen und zu einer Allee zusammenstellten. Die Grassoden dazwischen hoben sie heraus und errichteten so für ihre allabendlichen Siegesfeiern eine „Straße“. Zu diesem Zweck zertrümmerten sie weiße, rote und gelbe Glasflaschen und ordneten die Splitter zu prächtigen Sowjetsternen an. Was sie nicht bedachten: Ohne Wurzeln wurden die Bäume nach einiger Zeit dürr und kahl. Aus den Baracken der Leute holten sie die Radios heraus, konnten sie aber mangels Stromanschluss nicht in Betrieb nehmen. Die Russen in Kapfenberg waren größtenteils unzivilisierte Leute. Angeblich sollen sie die Butter in der Klomuschel eingefrischt haben. Es ist aber nicht auszuschließen, dass es sich bei dieser Behauptung um deutsche Propaganda handelt. Oft gingen sie in unsere Ställe und schnappten sich die nächstbeste Kuh - weil sie sich nicht auskannten, erwischten sie auch tragende Tiere. Diese schlachteten sie und fraßen sie an Ort und Stelle auf. Anders kann man es wirklich nicht nennen. 80


Jeden Tag wurde bis Mitternacht der Sieg gefeiert. Um vier Uhr in der Früh waren sie dann schon wieder auf den Beinen. Genau genommen wurde es die ganze Nacht nicht still. Unser größtes Problem war, dass wir unsere Kühe nicht mehr austreiben konnten. Wir hatten keine Weiden, kein Heu … Nicht einmal mehr eine Fuhre Grünfutter gab es. Papa hatte außerdem Angst, die Russen würden uns die Kühe überhaupt wegnehmen. Ein paar schlugen sie tatsächlich direkt auf der Wiese nieder – und zwei Stunden später waren sie auch schon gekocht. Die russischen Offiziersfrauen sprachen teilweise Deutsch und forderten: „Die rote Armee braucht Menage!“, womit sie Fleisch meinten. In seiner Not sah sich Papa um. Dem damaligen Ramsauer-Pächter erging es gleich wie uns. Auch er hatte keine Weideflächen mehr. Da kam Papa eines Tages in Graschnitz vorbei und stellte fest, dass die Russen dort das gesamte Vieh weggetrieben hatten. Der Stall war aber noch vorhanden, und die Koppeln waren auch da. Also übersiedelten der Ramsauer-Pächter und wir mit unseren Kühen nach Schloss Graschnitz. Drei Knechte und ein Dienstmädchen zogen mit und versorgten das Vieh dort. Jeden Tag mussten wir die Milch nach Kapfenberg hinein führen. Wir waren stolz darauf, im gesamten Einzugsgebiet der einzige Betrieb zu sein, der an keinem Tag die Milchlieferungen an die Genossenschaft ausgesetzt hatte. Alle anderen mussten ihre Milchlieferung unterbrechen. Die Russen unterhielten in Schloss Graschnitz ein Lazarett. Behauptet wurde, dort würden lauter Geschlechtskranke behandelt. Wir trafen ein Abkommen: Die Lazarettbetreiber nahmen die Milch, die sie für das Lazarett brauchten, sorgten aber im Gegenzug dafür, dass uns kein Vieh wegkam. 81


Die ganze Russenzeit über fuhren wir mit der Milch aus- und ein. Weil die Russen so viel Beutevieh hin- und hertransportierten – plötzlich sah man in Kapfenberg ungarische Steppenochsen mit meterlangen Hörnern –, verbreiteten sich diverse Tierseuchen, und wir schleppten uns die Maul- und Klauenseuche ein.

Der couragierte Wagenlenker Von überall im weiten Umkreis hatten wir gehört, die russischen Besatzer würden alle Ställe und Verschläge aufreißen und die Pferde mitnehmen. Wir bekamen eine Riesenangst, die Russen hätten es auch auf unsere Tiere abgesehen, und so blieb uns nichts anderes übrig, als Rösser und Wagen nach Winkl zu bringen. Helmut und ich machten uns also daran, in einer richtigen HauRuck-Aktion die Pferde möglichst rasch anzuschirren und die Räder auf die Wagen aufzustecken. Das musste blitzschnell geschehen, weil die Besatzer ja gleich hinter dem Haus auf unserer Wiese lagerten. Helmut und ich wollten sie überrumpeln und unseren kostbaren Besitz nach Winkl retten. Aber natürlich sahen uns die Soldaten sofort und versuchten, auf Helmuts Wagen aufzuspringen. Er fuhr mit den kleinen Pferden, Fanny und Bubi, und mit dem Milchwagen. Die Russen hatten es generell auf die Pferde abgesehen. Helmut stand auf dem Wagen. Mit einer Hand musste er lenken, mit der anderen, zur Faust geballt, stieß er links und rechts die anstürmenden Soldaten vom Wagen.

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Mein Bruder bewies eine unglaubliche Courage den Russen gegenüber, also wirklich! Dabei war er erst 17 Jahre alt. Wir jagten im Galopp in die Stadt hinein, und die Besatzer hingen wie die Trauben auf dem Wagen. Irgendwie schaffte es Helmut trotzdem. Aber auch die täglichen Milchtransporte von Schloss Graschnitz in die Stadt hinein gestalteten sich äußerst gefährlich. Immer wieder versuchten junge Soldaten, die vollen Milchkannen herunterzuholen, sodass Helmut den täglichen Weg von Schloss Graschnitz zur Molkerei in vollem Galopp zurücklegen musste. Einmal bekamen mehrere Russen Helmut zu fassen und befahlen ihm, sie mit dem Pferdewagen nach Kindberg zu bringen. Unterwegs entschieden sie, er solle danach gleich weiterfahren, über den Semmering und dann wahrscheinlich in Richtung Russland, wenn es nach ihnen gegangen wäre. Von dieser Reise wäre er wohl nie mehr zurückgekommen. „Einspannen und gleich losfahren!“ So lautete ihr Befehl. Der ganze Wagen voller Russen. Da bekam Helmut es mit der Angst zu tun. Er wusste, dass er sofort etwas unternehmen musste. In Kindberg angekommen, sah er das Schild der Ortskommandatur. Er bremste den Wagen ein, sprang hinunter und lief in das Gebäude. Zum Glück gab es dort einen Dolmetscher, mit dessen Hilfe er dem Major seine Lage auseinandersetzte. Er erklärte, die Wagenbesetzer würden ihn nötigen, mit ihnen über den Semmering zu fahren, dabei müsse er doch mit den Pferden nach Hause. Auf keinen Fall wolle er noch weiter nach Osten fahren. Der Kommandant glaubte ihm, ging hinaus und jagte seine Landsleute vom Wagen. So kam Helmut unversehrt wieder nach Hause.

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Das war damals eine ganz wilde Zeit. So kamen viele Leute aus den Konzentrationslagern in Ebensee und Mauthausen nach Kapfenberg. Hier, bei uns am Bahnhof, wurden die Heimtransporte zusammengestellt. Tag und Nacht schöpften diese armen Gestalten bei unserem Brunnen hinter dem Haus Wasser. Dort konnten sie trinken und waschen. In ihren gestreiften KZ-Uniformen sahen sie aus wie Hyänen. Leute aus ganz Europa waren da und warteten auf die Züge, die sie in ihre Heimat bringen sollten. Sie erschienen uns wie Gespenster. Die beiden russischen Zwangsarbeiter, die uns zugeteilt worden waren, verließen uns. Pavel nahm eines unserer Pferde, die Gretl, mit. Insgesamt waren Arbeitskräfte knapp, obwohl ein neues Dienstmädchen zu uns kam und nach den Kriegswirren auch zwei Knechte wieder auftauchten. Die russische Besatzung dauerte nur kurz, hinterließ aber der einheimischen Bevölkerung und auch den nachfolgenden Engländern ein regelrechtes Chaos. Allen, die diese Zeit miterlebt haben, ist sie jedenfalls noch in lebhafter Erinnerung. •

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1938 - 1944 Die nationalsozialistische Regierung forciert den Ausbau der Rüstungsindustrie. Zu dem im Thörltal gelegenen Stammwerk werden neue Fertigungshallen, das heutige Werk VI, und ein neues Stahlwerk (Werk XII in St. Marein) im breiteren Mürztal gebaut. Die vielen Arbeitskräfte werden in Barackenlagern untergebracht.

1944 - 1945 Zwischen dem 6. Nov. 1944 und dem 10. Mai 1945 zerstören die Bomben der Alliierten Streitkräfte die Werksanlagen und auch Privathäuser. Etwa 200 Todesopfer sind zu beklagen.

9. Mai 1945 Mit dem Kriegsende marschieren 30.000 russische Soldaten in Kapfenberg ein. Der Großteil der noch erhaltenen Industrieanlagen wird demontiert und abtransportiert. Am 24. Juli lösen britische Soldaten die russische Besatzung ab.

Wiederaufbau Neben dem Wiederaufbau der Infrastruktur ist besonders die Bereitstellung von Wohnraum für die stark angewachsene Einwohnerschaft vordringlich. Viele Familien greifen zur Selbsthilfe und bauen in Eigenregie ihr Eigenheim.

Quelle: Auszug aus der Chronik der Stadt Kapfenberg: http://www.kapfenberg.gv.at/system/web/zusatzseite.aspx?detailonr=133423800

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Nachkriegszeit — Was bringt die Zukunft? Als Krieg und Besatzungszeit zu Ende waren, hatten wir eigentlich allen Grund, glücklich zu sein. Helmut und ich waren unversehrt nach Hause zurückgekehrt, Papa hatte gar nicht einrücken müssen und es war ihm das beinahe Unmögliche gelungen: Er hatte die Wirtschaft über die schwierigen Zeiten gerettet – als einzigen Milchbetrieb in Kapfenberg. Dafür war uns die Gemeinde durchaus dankbar und auch der Verpächter hätte mehr als genug Grund gehabt, unsere Leistung anzuerkennen. Die früher größte Landwirtschaft in Kapfenberg, der Ramsauer, war gleich zu Beginn des Nationalsozialismus mehr oder weniger enteignet worden. Auf den Ramsauer-Gründen war etwa die Hochschwabsiedlung errichtet worden, mit denen das Regime versuchte, die Arbeiter bei Laune zu halten. Unser Pachtvertrag war bereits 1942 ausgelaufen und wir hatten einfach weitergemacht, als ob nichts gewesen wäre. Die Zeiten waren hart, vor allem der extrem trockene Sommer 1947. Damals konnten wir mit nur einem einzigen Pferd das Futter für 30 Kühe heimführen. Dieses Futter erwies sich zwar als besonders ausgiebig und nahrhaft, aber die Menge war völlig unzureichend und im Winter wussten die Leute nicht mehr, was sie

Winter 1946/47: Familie mit Tante Rosa am Küchentisch

denn füttern sollen.

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Damals gab es Zellulose aus Norwegen, und der Obmann der Landforst meinte, Zellulose sei genauso wertvoll wie ein gutes Gerstenstroh. Es hätte den gleichen Nährwert. Aber unsere Kühe wollten dieses Holz nicht fressen. Die Kühe eines befreundeten Bauern würgten das Zeug zwar hinunter, weil sie offenbar noch hungriger waren als unsere, aber es dauerte nicht lang und sie bekamen die Räude. Irgendwie überstanden wir auch diese Zeit, doch dann traf uns der schwerste Schlag überhaupt.

— Eine Lücke, die sich niemals schließt Zu Allerheiligen 1949, Helmut war wieder in Wieselburg, erhielten wir von dort die Nachricht, unser Bruder sei schwer erkrankt. Er hatte beim Holzarbeiten verseuchtes Wasser getrunken und war danach wie viele andere an Typhus erkrankt, doch die Ärzte hatten ihn auf Lungenentzündung behandelt. Papa und Mama wurden gebeten, zu ihm hinauszufahren. Ich hütete die Kühe auf der Essenko-Wiese, während sich meine Eltern auf die Reise machten. Zuerst hatten sie Benzin auftreiben müssen für ein Taxi, was alles andere als einfach war zu dieser Zeit. Die Fahrt ging über Mariazell, Annaberg, Josefberg und Scheibbs bis Wieselburg. Nach ihrer Ankunft mussten meine Eltern feststellen, dass Helmuts Zustand bereits sehr kritisch war. Sie kehrten nach Hause zurück, völlig am Boden zerstört. Helmut wurde nach Scheibbs ins Spital überstellt, doch es war schon zu spät. Papa nahm die beschwerliche Reise ein zweites Mal auf sich, um Helmut beizustehen in seinen letzten Stunden. Es gab keine Hoffnung mehr. Sie beteten bis zuletzt. Wie Papa uns später berichtete, hielt Helmut noch bis halb zwei am Nachmittag des vierten November durch, dann starb er. 88


Am Abend gelang es Papa irgendwie, unseren späteren Nachbarn, Herrn Hochörtler, zu verständigen. So gegen acht Uhr klopfte es an unserer Tür. Herr Hochörtler sagte, er müsse uns die traurige Nachricht überbringen, dass Helmut gestorben sei. Das war für unsere Mama ein unfassbarer Schlag! Sie hatte immer große Stücke auf Helmut gehalten. Er war ein kerngesunder Bub, 1928 auf die Welt gekommen, nie krank gewesen, kräftig wie ein Bär. In seinem Jahrgang in Wieselburg war er immer der Stärkste. Aus jeder Rauferei ging er als Sieger hervor. Mama war außer sich vor Kummer: „Vom Krieg kommt er heim, dann ist er in Wieselburg und man glaubt, er ist gut aufgehoben und es kann ihm nichts passieren. Und gerade dort muss er sterben!“ Sie brachten ihn im Sarg auf einem Lastwagen nach Hause, und es gab ein großes Begräbnis. Aus Wieselburg kam sein gesamter Jahrgang und begleitete ihn auf dem letzten Weg. Papa verlangte gegen einigen Widerstand, man möge den Sarg von der Aufbahrungshalle auf dem Friedhof in die Stadtpfarrkirche bringen und dort noch eine Messe lesen. Er konnte seinen Wunsch tatsächlich durchsetzen. Das war das letzte Mal, dass in Kapfenberg ein Sarg den ganzen Weg vom Friedhof bis in die Kirche hinunter getragen wurde und dort die Abschiedsmesse gelesen wurde. Die Leute hielten es auch für gefährlich, weil Helmut Typhus gehabt hatte, obwohl der Sarg verlötet war. Mama schnitt ihm noch eine Haarlocke ab, die sie lange aufbewahrte. Unser Bruder starb am 4. November. Am 4. Dezember wäre er 19 Jahre alt geworden. Für unsere Mama begann die schwerste Zeit ihres Lebens. Tag für Tag ging sie auf den Friedhof, da konnte es regnen oder schneien, in aller Früh machte sie sich schon auf den Weg zu seinem Grab. Egal wie viel Arbeit daheim auf sie wartete, auf den Friedhof musste sie. 89


Zuvor hatten unsere Eltern immer geplant, nach Vorarlberg zurückzugehen. Papas Bruder Franzsepp kehrte 1937 zurück, der Nachbarpächter Fink 1939, ein weiterer Bekannter 1941. Papa war daher ständig auf der Suche nach einem passenden Hof. Doch 1947 fasste Mama einen Entschluss. „Helmut ist hier begraben“, sagte sie, „und ich gehe nicht mehr weg von Kapfenberg.“ •

— Schloss Wieden Eines Tages erfuhren wir, dass Graf Stubenberg Schloss Wieden, wo sich unsere Mostkeller befanden, verkaufen wollte. Das Schloss wäre auch schon im Krieg zu verkaufen gewesen, doch damals wollte es niemand haben. Das Gebäude war, wie fotografisch belegt ist, abbruchreif und es wohnte sozusagen das schlimmste Gesindel von Kapfenberg in den heruntergekommenen Behausungen. 36 Mieter bezahlten zusammen gerade einmal 480 Schilling an Miete. Papa ließ die Nachricht vom möglichen Verkauf aber keine Ruhe und so fuhr er hinunter zum Grafen nach Gutenberg bei Weiz. Dieser beteuerte ihm, es war zwar von einem Verkauf die Rede gewesen, aber das Haus bedeute für seine Familie doch so viel, es sei die Geburtsstätte seines Vaters und er bringe es nicht übers Herz, dieses traditionsreiche Gebäude zu verkaufen. Einige Tage später – Papa war damals Gemeinderat und Landeskammerrat – flatterte uns die Einladung zur nächsten Gemeinderatssitzung samt Tagesordnung ins Haus. Und darin war unter Punkt 11 oder 12 schwarz auf weiß zu lesen: „Ankauf sämtlicher Stubenbergischer Talgründe um den Betrag von 2,1 Millionen Schilling.“ Papa konnte gar nicht genug staunen, wie das möglich war. Er hätte nie im Traum gedacht, dass ihm der Graf mitten ins Gesicht lügen würde. In dieser misslichen Situation wandte sich Papa an den damaligen Bürgermeister Scheibengraf. Er erklärte, er sei Pächter, und 90


überhaupt sei der Betrag von 2,1 Millionen viel zu hoch. Es handle sich um Überschwemmungsgebiet und man könne darauf nicht bauen. Bei einem Lokalaugenschein musste der Bürgermeister einsehen, dass der Sieber recht hatte, denn damals, zur Zeit der Schneeschmelze, standen die Grundstücke, soweit man sehen konnte, knietief unter Wasser. Scheibengraf sagte daraufhin den Kauf ab. Da machte sich der Graf, der das Geld schon für den Ausbau einer Ruine verplant hatte, auf den Weg nach Kapfenberg, um mit Papa zu sprechen. Doch der herrschte ihn an wie einen dummen Schüler: „Ich habe Ihren Besitz gerettet, Sie hätten jetzt kein einziges Grundstück mehr zu verkaufen, hätten wir während des Krieges nicht so viel abgeliefert und so gut gewirt-

Das renovierte Schloss Wieden mit Burg 1977

schaftet. Ihr gesamter Grund wäre ohne uns bereits verbaut. Dann wäre es Ihnen genauso so ergangen wie dem Ramsauer. Der ist eingeschätzt worden, hat für den Quadratmeter vielleicht 40 Pfennig bekommen. Die Nazi haben nicht lang gefragt, was so ein Grund kostet. Sie haben den Preis festgesetzt und fertig.Nur aufgrund unserer hohen Ablieferungen war es möglich, dass Sie Ihren Grund erhalten haben. Und jetzt wollen Sie mich der Gemeinde ausliefern? Unsere Gemeinde verfolgt doch ein doppeltes Ziel: Erstens wollen sie den Grund haben, zweitens einen schwarzen Gemeinderat loswerden. Schämen Sie sich! Während des ganzen Krieges sind Sie untätig geblieben, wenn man davon absieht, dass der junge Graf oft zu uns gekommen ist und bei uns gejausnet hat. Dass Sie mich so belogen haben, werde ich nie vergessen!“ Und so ging es weiter. Aus dem Kauf wurde jedenfalls nichts. Doch die Gemeinde brauchte Grundstücke und probierte es unverdrossen weiter. Also fuhr Papa hinunter zur Landesregierung. Diese verfasste schließlich einen Brief: Es sei nicht abzusehen, 91


wann der Grund zur Verbauung freigegeben werden könne. Er sei ein Herzstück des landwirtschaftlichen Betriebes, weil sich die hofnahen Weiden dort befanden. Die Gemeinde versuchte es nun mit Diplomatie, und zugleich brauchte Graf Stubenberg das Geld. Papa hielt mit seinen Funktionen – 1948 war er auch kurze Zeit hindurch Landtagsabgeordneter – dagegen und bekam Unterstützung durch die Landeskammer und den Landeshauptmann. Auf diese Weise erreichten wir schließlich, dass sie uns Schloss Wieden 1952 auf drei Jahresraten anboten. Wir hatten ja auch kein Geld für den Kauf. Wir mussten zuerst etwas verkaufenund bekamen dann Schloss Wieden auf 3 Jahresraten. Als alles durchgeführt war, mussten wir feststellen, dass der Grund hinter dem Haus in Wirklichkeit einem ganz anderen Stubenberg gehörte, nicht unserem Verkäufer. Es handelte sich um Camillo Stubenberg in St. Pölten, der gar nicht wusste, dass er in Kapfenberg Besitz hatte. So blieb uns nichts anderes übrig, als auch noch diesen Grund zu erwerben, weil unsere Hausmauer sonst zugleich die Grundgrenze gewesen wäre. Wir hätten nicht einmal ums Haus herumgehen können. Nach langem Hin und Her und nachdem Papa immer wieder bei der Gemeinde vorgesprochen hatte, gelang es uns sogar noch, die Grenze begradigen zu lassen und das fehlende Eck von der Gemeinde zu kaufen. Jetzt besitzen wir mit dem Schloss und der sonstigen verbauten Fläche hier gerade einmal zwei Hektar. Zum Glück hatten wir bereits Winkl und St. Ruprecht, sonst wären wir nicht durchgekommen. Die ganzen Stubenberg-Grundstücke verkaufte der Graf schließlich scheibchenweise und bekam so statt der 1,2 Millionen den hübschen Betrag von 5,5 Millionen, mehr als das Doppelte. Dank der Hochwasserverbauung und Mürzregulierung waren aus den Flächen ganz passable Bau92

gründe geworden. •


Schloss Wieden Der Name Wieden leitet sich vom Wort widum (lat. Vidualicium) ab. Der Begriff Widum bezeichnete im Mittelalter ursprünglich größere Ländereien, die der Gattin eines Adeligen, im Fall einer Witwenschaft als Versorgung zugedacht waren. 1739 1750 1782 1848 1952

Anstelle älterer Bauernhöfe errichtet Georg Graf von Stubenberg das heutige Schloss Kaiserin Maria Theresia verbringt die Nacht vom 3. auf den 4. Juli auf Schloss Wieden Auf seiner Reise nach Wien nächtigt hier am 20. März Papst Pius VI Bis zu diesem Jahr ist das Schloss der Sitz des großen Landgerichts sowie der Bezirksherrschaft für das ganze Mürztal und die Hochschwabregion bis nach Mariazell Josef Graf von Stubenberg verkauft das Schloss an Plazidus und Agathe Sieber

Maria Theresia im Schloss Wieden Kaiserin Maria Theresia war nicht nur durch ihre Reformen präsent, sie kam auch persönlich nach Kapfenberg. Anlässlich ihrer Fahrt zum Militärlager nach Pettau reiste die Landesmutter durch Kapfenberg und nahm Quartier im Schloss Wieden. Am 2. Juli 1750 wurden die Landgerichte entlang der Straße von Wien über den Semmering nach Graz und Pettau angewiesen, alle Galgen zu entfernen oder zumindest die daran hängenden Leichen, die auf Pfählen steckenden Köpfe oder die an Räder gehefteten Gliedmaßen abzunehmen. Man möge der "allerhöchst Kaiserin, bei ohnedem gesegneten Leib" jede mögliche Aufregung ersparen. Die Nacht vom 3. auf den 4. Juli 1750 verbrachte die Kaiserin als Gast der Herren von Stubenberg im Schloss Wieden. Sie reiste offensichtlich mit großem Gefolge, da sie Unmengen an Lebensmittelvorräten herbeischaffen ließ und anordnete, dass: Bey unserer höchsten Ankunft zu Neu-Wieden genugsamber Vorrath von allen Victualien, an wohlgemästeten Oxen, Lämmer- und Schöpsenfleisch, gueten Fischen, schönen Krebsen, frischer Butter, Schmalz, Spöckh, Milch Meel, Grünes, allerhand Feder-Wildbräth, gemästete Kapäunls, Hüendl und was sonst immer nöthig und unser Controllorgan verlangen wirdet, zu bekommen seyn möge.

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Unser Familienalltag Hedwig erzählt: — In Kapfenberg Bei uns zu Hause herrschte ein reges Leben und Treiben. Da unsere Eltern Most verkauften, gingen die Mostkunden nicht nur bei uns ein und aus, sondern ließen sich auch nieder, ja verbrachten den Großteil ihrer Freizeit bei uns. Unsere Küche war immer von fremden Leuten belagert, von Kundschaften verschiedenster Art. Auch zu den Mahlzeiten waren wir als Familie selten allein. Unsere Eltern führten ein offenes, gastfreundliches Haus, in dem es selbstverständlich war, Gäste zu bewirten – nicht nur ausnahmsweise, sondern praktisch jeden Tag. Außerdem galt es ja Knechte und Dienstmädchen zu verköstigen, das waren allein über zehn Personen. In den mageren Zeiten musste sich Mama in der Kunst üben, aus buchstäblich nichts etwas zu machen. Essen spielte bei uns zu Hause eine wichtige Rolle. Unsere Mutter war eine sehr feinsinnige Köchin, die sich hervorragend aufs Würzen verstand. Die Kochkenntnisse, die sie sich in der Bürgerschule angeeignet hatte, kamen nicht nur uns, sondern auch unseren zahllosen Gästen und Bediensteten zugute. Wie viel Arbeit das Kochen bereitete, kann man ermessen, wenn man bedenkt, dass praktisch alles selbst gemacht und hergestellt werden musste. Eine Hausfrau begann damals spätestens um zehn zu kochen, und selbst da hatte sie es eilig, wollte sie bis zu Mittag fertig sein. Zuerst musste Feuer gemacht werden, danach alles händisch – jeder Strudel- und Nockerlteig, alles. Es galt, den großen Herd einzuheizen und auf die richtige Temperatur zu bringen, die Zutaten herzurichten und zum Teil aus dem Garten zusammenzusuchen, Teige zu rühren oder zu kneten, Kin94


dernasen zu schnäuzen, Mostkunden zu bedienen und den einen oder anderen Konflikt zu schlichten. Wie meine Mutter das alles bewältigen konnte, ist mir heute unvorstellbar. Bei uns wurde fünfmal am Tag gegessen. Zuerst kam das Frühstück, zu fast nachtschlafender Zeit. Die Knechte mussten ja sehr früh aufstehen, speziell im Sommer, wenn gemäht wurde. In der Früh gab es normalerweise Polentasterz. Der wird zubereitet, indem man Polenta in kochendes Wasser einrührt. Diese Masse stockt und wird mit einer Gabel zerrissen. Dann erhitzt man in einer großen, gusseisernen Pfanne Schweineschmalz – gut ist es auch, wenn Grammeln drin sind -, bis es rauchheiß ist. Das Fett wird über die Polentamasse geschüttet, das Ganze noch weiter mit der Gabel zerkleinert und ein bisschen geröstet. Also, dieser Sterz ist einfach köstlich! Dazu trank man Kaffee. Das ist ein anhaltendes Essen, das hart arbeitende Menschen eine Zeitlang wirklich satt macht. Am Vormittag bekamen alle eine Jause mit Speck und Wurst, und bald darauf gab es Mittagessen. Dreimal pro Woche hatten wir zu Mittag Fleisch, ansonsten kamen Mehlspeisen wie Erdäpfelnudeln oder Strudel auf den Tisch. Suppe gab es jeden Tag, die war wichtig für die Männer. Heute noch essen die Männer in meiner Familie gern Suppe. Das ist ein richtiges Männeressen. Im Anschluss an das Mittagessen wurde gebetet. Nach der Arbeit am Nachmittag, ungefähr um vier, war Jausenzeit. Die Melker kamen früher an die Reihe, denn sie mussten ja gleich danach in den Stall. Zum Abendessen um etwa sechs Uhr gab es traditionell geröstete Erdäpfel und Kaffee. Man kann sich vorstellen, was es für die „Küchenmannschaft“, sprich für Mama, bedeutete, die Zutaten 95


herbeizuschaffen, die Mahlzeiten auf den Tisch bzw. aufs Feld zu bringen, die Berge von Geschirr abzuwaschen, die dabei anfielen, und währenddessen ständig die Milch- und Mostkunden zu betreuen, die Spuren der erdigen Männerschuhe vom Küchenboden zu beseitigen, als Klagemauer zu dienen und zusätzlich Personal, Kinder und Zaungäste zu dirigieren und im Auge zu behalten. Von Urlaub war natürlich keine Rede, und Ruhephasen gab es höchstens an Sonntagen, und selbst da waren sie knapp bemessen. Vor dem Mähen standen die Männer schon in aller Herrgottsfrühe auf, um die Sensen zu dengeln. Das Gras musste zum Mähen taunass sein. In großen Gruppen zogen sie dann auf die Wiesen hinaus. Unter den Knechten herrschte eine eigene Hierarchie. Es gab Witzbolde und „Grantscherm“, und jeder einzelne hatte seinen Platz. Es war genau festgelegt, wer jeweils der Erste war. Bei uns wurde sehr darauf geachtet, dass die Knechte immer gut und reichlich zu essen bekamen. Wir unterschieden uns darin stark von den steirischen Bauern, die als recht kluppig galten. Der Grund war natürlich auch eine gewisse Armut, doch das kann nicht alles gewesen sein. Schließlich herrschte auch bei uns nicht gerade Reichtum, aber die Knechte hatten immer Vorrang, auch vor uns Kindern. Sie mussten zuerst versorgt werden. Die Küche meiner Mutter war bei den Dienstboten sehr beliebt. Ihr bestes Gericht waren ihre Leberknödel. Die waren weithin berühmt. Es gab ja damals nicht viel: Neben Fleisch, Mehl und Eiern hatte man Zwiebeln, aber auch nicht unbeschränkt, dann Thymian, Majoran, Salz, Pfeffer und Zucker, von dem in der damaligen Küche allerdings wenig verwendet wurde. Man zuckerte eigentlich nichts außer den Mehlspeisen. Zugleich gab es hervorragende Mehlspeisen, in denen praktisch kein Zucker war. So machte etwa Maria, ein Dienstmädchen aus Osttirol, das in den frühen sechziger Jahren eine Zeitlang bei uns war, Marmeladentascherln aus Mehl, die in Schweineschmalz herausgebacken wurden. Gefüllt waren sie mit schwarzer Ribiselmarmelade. Diese Tascherln wa96


ren derart gut, dass die meisten anderen Mehlspeisen dagegen verblassten. Bei uns kam jeden Samstag und Sonntag ein Gugelhupf auf den Tisch, außerdem Tascherln mit unterschiedlichen Füllungen, Zimtschnecken oder gebackene Mäuse. Irgendetwas Süßes machte Mama immer, sehr oft aus Germteig. Einmal passierte es ihr, dass sie versehentlich Essig zum Germteig gab, ich weiß nicht mehr, anstelle von was. Sie war zuerst ganz besorgt, weil sie nicht wusste, was aus diesem Teig werden sollte. Ihn wegzuwerfen, kam nicht in Frage. Man durfte mit Essen auf keinen Fall „wüsten“, also verschwenderisch umgehen, dafür war es zu kostbar. Interessanterweise entpuppte sich gerade dieser Germteig aber als der beste aller Zeiten: Er war ungeheuer feinporig. Seit dieser Zeit wurde der Germteig bei uns immer mit Essig gemacht! Auch Semmeln gab es bei uns öfter. In der ersten Zeit wurde das Brot ja noch daheim gebacken, aber das erwies sich bald als zu zeitaufwändig und zu kompliziert. Danach kauften wir unser Brot beim Bäcker. Deshalb hatten wir häufig Semmeln, zum Beispiel zum Erdäpfelgulasch oder wenn Besuch kam, denn das Weißgebäck galt als ein gewisser Luxus. Und so standen natürlich auch Semmelknödel öfter auf dem Speiseplan. Bei uns wurde regelmäßig Gemüse gekocht, damals keine Selbstverständlichkeit. Mama liebte es, und man kocht ja erfahrungsgemäß das, was man selbst gerne isst. Die Knechte hatten mit dem Gemüse allerdings keine Freude. „Das fressen die Kühe“, sagten sie. Aber Mama verstand es, ihnen doch so manches gesunde Grünzeug unterzujubeln. Karfiol, grüne Bohnen, Sauerkraut... Meine Mutter machte ein sagenhaftes gedünstetes bayerisches Süßkraut. Die Leibspeise unseres Vaters waren Schweinsbraten und „Hafaloab“. „So gute Hafaloab bekommt man nirgends“, pflegte er zu sagen. Mit diesem leicht irreführenden vorarlbergischen Wort wurden große Polentanocken bezeichnet, die mit dem 97


Schweinsbraten mitgeschmort wurden, bis sie vollgesoffen waren mit Fett und Bratensaft und eine Kruste bekamen. Dann erst waren sie richtig gut. Diese Nocken, eine Vorarlberger Spezialität übrigens, waren sein Ein und Alles. Er kam ja weit herum, aber seine heimatlichen Hafaloab waren ihm heilig. Die Kinder, die zu uns kamen, kannten dieses Gericht nicht. „Was esst ihr denn da?“ fragen sie uns. „Türkensterznockerln?“ Ein weiteres typisches Essen waren Käsespätzle, die vor allem auf den Tisch kamen, wenn die Vorarlberger Verwandtschaft Käse mitbrachte. Dazu wurde Apfelmus gegessen, ein Brauch, der in steirischen Breiten völlig unbekannt war. Vieles wurde aus Erdäpfelteig zubereitet, und auch Strudel bekamen wir oft. Mama machte zum Beispiel zwei verschiedene Sorten Grießsuppe, eine dunkle und eine helle, die sie immer fein würzte, unter anderem mit Pfeffer. Ich mochte nur zuhause essen. Woanders schmeckte es mir nicht. Nicht nur im Ort, auch in der Großfamilie waren wir Mittelpunkt und Anlaufstelle. Alle Verwandten, die aus Vorarlberg kamen, aber auch die Mitglieder der erweiterten Familie aus der Steiermark, trafen sich bei uns.

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— Die lästige Nachmittagsjause Im Sommer, wenn auf dem Feld gearbeitet wurde, mussten wir den Leuten die Jause bringen. Dort, wo heute der Lidl steht, waren damals unsere Erdäpfeläcker und ein großer Stadel. Wir hatten oft 30 Tagwerker, meistens volksdeutsche Frauen. Sie verdienten sich mit der Feldarbeit eine kleine Zubuße zum kargen Lohn ihrer Männer. Zusätzlich bekamen sie die Milch günstiger. Deshalb kamen sie immer gern zu uns. Für mich war das „Jausenführen“ der absolute Gräuel: Schon als Kind vertrug ich die Hitze nur schlecht. Meine Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass die Knechte um halb vier pünktlich etwas zu essen und zu trinken bekamen. Dazu musste ich schon um zwei Uhr von zu Hause aufbrechen. Bis zum Feld hatte ich es weit mit dem randvollen Leiterwagen – eine ganze Pitsche Most und Jause für alle! Über den Frauenriegel ging es spürbar bergauf. Außerdem herrschte um diese Zeit starker Schichtbetrieb und auf der Straße waren viele Leute. Am frühen Nachmittag hatte die herunterbrennende Sonne den Asphalt aufgeweicht, so dass der Leiterwagen immer wieder stecken blieb. Ich musste sehr stark ziehen und schwitzte furchtbar. Diese Hitze! Ich hasste es, mit der Jause zu gehen. Meine Brüder halfen auf dem Feld mit und ich musste für die Verpflegung sorgen. Hatte ich mein Ziel endlich erreicht, war mir der Appetit gründlich vergangen, und ich verzichtete auf die mir zustehende Jause.

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Kühe hüten Wenn mein Vater, der sonst immer laut und kräftig redete, in aller Frühe ganz leise an mein Bett geschlichen kam und mit freundlicher, lieblicher Stimme säuselte: „Aufstehen, Mädi, Kühe halten!“, wusste ich, was es geschlagen hatte. Ich musste in den sauren Apfel beißen, da gab es keine Widerrede. Aber ich haderte mit meinem Schicksal: Es galt 60 Kühe und einen Stier zu hüten zwischen Bundesstraße und Mürz, wobei die Bundesstraße nicht abgezäunt war, und auch zur Mürz hin war das Gelände offen. In aller Früh barfuß auf der taunassen Wiese, die im Herbst eiskalt war... Gummistiefel hatte ich nicht, und die Alltagsschuhe waren zu teuer für diese schmutzige Arbeit. Noch dazu wussten die Kühe genau, dass in den angrenzenden Gärten Leckerbissen wie zum Beispiel Kohlköpfe zu holen waren, und strebten mit einem entsprechenden Eifer in diese Richtung. Auch die Straße hatte eine starke Anziehungskraft auf sie. Die Wiese war groß, und ich musste die ganze Zeit hinter den Kühen her rennen. Trotzdem war mir oft so kalt, dass ich mit meinen bloßen Füßen in eine warme Kuhflade trat, um mich wenigstens ein kleines bisschen aufzuwärmen. Romantisch veranlagt wie ich war, pflückte ich immer die spärlichen auf der Wiese verbliebenen Blumen. Ich bereitete ihnen ein Grab, damit sie besser über den Winter kämen, oder ich sang, ich kannte ja viele Lieder. Und sehnsüchtig wartete ich auf unseren Knecht Sepp, der irgendwann am Vormittag kam und die Kühe abholte. Die Stunden vergingen wie in Zeitlupe! Ich verstehe nicht, warum mein Bruder Herbert sagt, das Kühe hüten sei lustig gewesen. Für mich war es alles andere als das. Rückblickend muss ich aber mit Stolz sagen: Kein einziges Mal sind mir die Kühe durchgebrannt! Naja, außer dass sie von Zeit zu Zeit die Gärten heimsuchten…

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— Feierabend Die Arbeit endete ungefähr um halb sieben, je nachdem, was zu tun war. Nur wenn sich ein Gewitter ankündigte, musste alles auf die Wiese, ganz gleich zu welcher Tageszeit, denn es war unbedingt notwendig, das Heu bei trockenem Wetter einzubringen. Wer abends Lust hatte, setzte sich vors Haus, um auf der Hausbank das Tagesgeschehen zu bereden. Oft kam Papa noch um zehn Uhr am Abend, im Stockfinsteren, auf eine Idee: „Mädi“, sagte er dann, „geh und brock mir ein Schüsserl Ribisel!“ oder „Mach mir noch eine Schüssel Salat!“ Widerrede gab es keine, und ich erfüllte ihm seinen Wunsch. Meine Freude über diese Aufgaben hielt sich allerdings in Grenzen. Ganz besonders schön war es an den Winterabenden. Nach dem Essen gingen wir immer in das Zimmer, in dem die Dienstboten aßen. Dort wurde vom Leben und von der Vergangenheit geredet. Wir Kinder hörten den Gesprächen aufmerksam zu. Was da geredet wurde, war für uns hoch interessant und wir erfuhren, wie verschieden sich das Leben für jeden einzelnen anfühlte. Als eingefleischte Leseratte lebte ich immer ein bisschen gefährlich. Papa schätzte meine Vorliebe für Bücher gar nicht, und wenn er mich lesend antraf, sagte er immer vorwurfsvoll: „Sie stiert scho wieder in a Buach eini!“ Ich hörte ihn kein einziges Mal sagen: „Sie liest“. So versteckte ich mich nach Möglichkeit in einem schummrigen Winkerl zwischen Schubladkasten und Sägespäneofen. Der Platz war eng, aber gut geschützt. Wenn Papa den Raum betrat, sah er mich nicht gleich. Erst wenn er weiter ins Zimmer vordrang und sich dann umdrehte, war ich ertappt. Sobald er mich lesen sah, fiel ihm gleich eine Arbeit ein für mich. 101


Was das Lesen anbelangte, hatte ich aber zum Glück einen Schutzengel in Gestalt von Mama. Natürlich musste ich viel arbeiten müssen im Vergleich zu dem, was heute die Kinder tun – Tisch decken und ähnliche Dinge. Vor allem im Sommer war ich schlecht dran! Da hieß es die ganze Zeit Jause austragen und führen. Aber sonst konnte ich meine Nischen doch relativ gut verteidigen.

„Im Osterhasenland“ - Lieblingsbuch von Hedwig

Illlustration aus dem „Osterhasenland“

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Mein erstes Buch Zu Hause las ich schon mit sieben Jahren jeden Tag die Tageszeitung und den Fortsetzungsroman, so lesehungrig war ich. Das war auch der Grund, warum ich in der Schule so gut war. Ich blätterte immer weit voraus, egal ob im Lesebuch oder im Religionsbuch. Das erste Buch, das ich in die Hände bekam, war mein Lesebuch. Das ist bis heute mein Heiliges Buch, das für mich gleich nach der Bibel kommt. Aber mein erstes richtiges Buch war das Osterhasenbuch. Zu uns kam manchmal die alte Frau Schlagbauer, die uns die Zeitschrift „Stadt Gottes“ brachte. Einmal hatte sie etwas ganz Besonderes mit: Das Osterhasenbuch von Erna Maria Waldhof, herausgegeben von den Steyler Missionaren! Mit seinem matt schimmernden, bunt gestalteten Einband lag es, nach frisch bedrucktem Papier duftend, vor ihr auf dem Tisch. Ich spürte, wie sich eine ungeheure Sehnsucht meiner bemächtigte. In unserer Familie war es undenkbar, um etwas zu betteln, man hätte sich lieber auf die Zunge gebissen. Und natürlich war Mama auch immer knapp bei Kasse. Geld war Mangelware. Aber in diesem Fall konnte ich nicht anders: „Mama!“, hauchte ich, „dieses Buch hätte ich sooo gern!“ Ich getraute mich kaum zu atmen. Und wirklich: Mama hatte Erbarmen! Sie kaufte mir das Buch. Ich konnte es gar nicht fassen. Kein Kind kann je glücklicher sein als ich es war, als ich diesen Schatz in die Hand gedrückt bekam. Man kann es nicht anders sagen: Ich fraß das Buch. Ich las es hundert, ja vielleicht tausend Mal. Ich vertiefte mich in die Geschichten, ich pauste die Bilder ab, ich lebte mit dem Buch. Später las ich es ungezählte Male meinen Kindern und Enkelkindern vor. Das Osterhasenbuch war mein Traum, und ich liebe es heute noch.

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— Verwandtenbesuch Schön war es auch immer, wenn Besuch angesagt war. Wir kriegen Besuch, hieß es! Das war für uns eine große Freude. Tante Rosa, Onkel Seppel oder andere Verwandte aus Vorarlberg... wir fanden diese Anlässe wunderbar. Besonders mochten wir Tante Rosa, die kinderlose Schwester unserer Mutter, die uns mehrere Winter Gesellschaft leistete. 1947 kam sie zum ersten Mal. Eigentlich war sie schon für Jänner 1946 angesagt gewesen, aber damals stimmte irgendetwas mit ihrem Stempel nicht, und so musste sie in Mandling an der Grenze zwischen Salzburg und Steiermark umkehren. Damals war ja noch Besatzungszeit. Beim nächsten Mal klappte es aber, und in den folgenden Jahren verbrachte sie jeweils einige Monate bei uns. Wenn Tante Rosa bei uns war, nähte sie Pantoffeln aus Stoff, richtig professionell, sie hatten sogar eine Sohle. Aber auch andere Verwandte aus Wolfurt besuchten uns oft. Das war für unsere Mutter, die in Kapfenberg ja keine persönlichen Beziehungen knüpfte, immer eine unendliche Freude. •

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Hedwigs Erinnerungen — Eine meiner schönsten Erinnerungen ist, wie wir nach dem Ausgraben der Erdäpfel auf dem Leiterwagen, der mit den vollen Säcken beladen war, in der Abenddämmerung nach Hause fuhren. Die Pferde zockelten gemächlich vor sich hin, wir hatten Fackeln auf dem Wagen. Überall roch es nach Erdäpfelfeuer, es war eine herbstliche Stimmung, ein Duft, den ich mein Leben lang nicht vergessen werde. Um diese Jahreszeit war es um fünf schon dunkel. Ebenso unvergesslich ist mir eine Begebenheit, als mein Vater in der Kriegszeit einmal zu einer Luftschutzinformation musste. Ich begleitete ihn - warum, weiß ich nicht mehr. Es hatte geschneit, und wir gingen die menschenleere, verschneite Straße entlang. An der Seite meines Vaters fühlte ich mich wie in Abrahams Schoß. In dieser weißen Stille neben dem großen, starken Papa zu gehen, der weiche, frische Schnee... wir unterhielten uns nicht groß, aber dieses Nach Hause Wandern machte einen unvergesslichen Eindruck auf mich.

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Schule — Volksschule Der Tag meiner Schuleinschreibung war für mich einer der glücklichsten Tage meines Lebens. Oh happy day! Dieser Jubelruf kommt mir in den Sinn, wenn ich an diesen Tag zurückdenke. Ich kann mich dunkel erinnern, dass es mein Bruder Richard war, der mit mir zur Schuleinschreibung ging, oder vielleicht war es auch das Dienstmädchen. Nach meinen ersten Jahren, in denen ich über weite Strecken „in Aufbewahrung“ bei alten Frauen gewesen war, empfand ich die Schule geradezu als Tor zum Himmel. Etwas Aufregenderes hatte ich noch nie erlebt! Für mich konnte es nichts Schöneres geben. Ich ging mit einer solchen Begeisterung in die Schule! Der Name meiner Lehrerin, Frau Brunner, hatte durch das Attribut „Fräulein“ die gebotene Bedeutungsschwere. Mein Lesebuch aus der ersten Klasse war in Kurrentschrift gehalten und mit kunstvollen Zeichnungen verziert, die mich, die ich in einer bilderlosen Umgebung aufwuchs, faszinierten.

Fräulein Brunner, die beste Lehrerin der Welt

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In dem Buch sieht man zum Beispiel, wie die Kinder angezogen waren. Man hatte neben der Alltagskleidung ein Schul- und ein Kirchengewand. Mädchen trugen in der Schule Schürze. Im Sommer gingen die Kinder oft barfuß. Ich erinnere mich, dass ich eigentlich immer Schuhe anhatte. Bei meinem Bruder Richard war das anders: Er zog sich die Schuhe meistens im Hof hinterm Haus aus und ging barfuß zur Schule. Kurz bevor er nach Hause kam, zog er die Schuhe wieder an. Meine Mutter sah das gar nicht gern. Sie achtete immer sehr auf die Form, wie sie es von Vorarlberg her gewöhnt war. Die erste Klasse war für mich etwas so überwältigend Schönes, dass ich gar nicht genug bekommen konnte. Wie ein Schwamm saugte

Lesebuch Cover

ich alles in mich ein. Noch nie zuvor hatte uns jemand Geschichten erzählt. Das war etwas vollkommen Neues für mich. Dass es so etwas Herrliches gab! Mein Lesebuch, das ich gefühlte tausend Mal las, kannte ich inund auswendig. Das Religionsbuch ebenfalls. Wir hatten keine Tafeln mehr, sondern bereits Hefte. Ich kam 1937 in die Schule, mit gerade sechs Jahren. Die Kinder unmittelbar vor uns hatten noch Tafeln und Griffel.

Lesebuch Weihnachtsillustration

Nazi-Nachtrag im Lesebuch: Als die Nazi an die Macht kamen, wurde in unser schönes Lesebuch ganz hinten noch dieses Blatt eingefügt, um uns auf die neuen Zeiten einzustimmen

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Ich lernte in Windeseile lesen, denn ich übte ja unermüdlich. Nichts tat ich lieber. In schulischen Dingen waren wir völlig auf uns allein gestellt. Unsere Mutter hatte für so etwas keine Zeit. Sie war über ihre Kräfte hinaus belastet: Zehn Knechte, ein Dienstmädchen, vier Kinder, die vielen Kundschaften und all die fremden Leute in unserer Küche nahmen sie so in Anspruch, dass sie kaum zum Atmen kam. So mussten wir ganz allein zurechtkommen. Am Abend konnte ich den nächsten Schultag kaum erwarten. So schön war die Schule für mich. Unbeschreiblich schön. Am Ende des ersten Schuljahres schrieben wir einen Aufsatz. Das Thema habe ich vergessen, aber ich weiß noch, dass mein Aufsatz in der ganzen Schule herumgereicht wurde, weil er so gut gelungen war. Leider war nur das erste Schuljahr so schön. Die restlichen drei Volksschuljahre waren eine einzige Enttäuschung. In der zweiten Klasse war ich noch in Hafendorf, aber danach wurde ich der Volksschule Kapfenberg Stadt zugeteilt. Das war das Widerwärtigste, was mir passieren konnte. Vor dem Anschluss war Hafendorf eine eigene Katastralgemeinde. 1938 erfolgte die Eingemeindung nach Kapfenberg, und wir mussten in die dortige Schule, direkt neben der Mürz. In der dritten Klasse bekam ich als Lehrerin ein Fräulein Pinter, eine bissige alte Jungfer. Ihr Unterricht war völlig uninspiriert und langweilig. Die heimelige erste Klasse mit dem mollig warmen Ofen gegen dieses zentralgeheizte Gebäude mit dem geistlosen Unterricht tauschen zu müssen, war für mich wie ein Sturz aus dem Hochhaus. Aber damit nicht genug: In der vierten Klasse kam ich vom Regen unter die Traufe. Unsere Lehrerin, eine Frau Masser, war glühende Nationalsozialistin. Bei ihr erlebte ich am eigenen Leib, was Gehirnwäsche ist. 110


Die Hitlerjugend veranstaltete ihre Appelle immer ausgerechnet auf dem Kirchplatz. Die Posaunen und Trommeln waren so laut, dass man in der Kirche nicht einmal mehr die Orgel hören konnte. Wir mussten mit unserem Vater durch die Reihen der Hitlerjugend hindurch in die Kirche gehen. Er war absolut dagegen, dass wir uns diesem Verein anschlossen – eine Haltung, die uns Kinder in allerlei unangenehme Situationen brachte. Nachdem ich am Sonntag mit meinem Papa durch die Appellreihen zur Kirche hatte gehen müssen, bekam ich am Montag in der Schule postwendend Ärger mit Lehrerin Masser. Vor der ganzen Klasse fragte sie mich, warum ich nicht beim Appell gewesen sei und wer mich denn beeinflussen würde. Ich weiß zwar nicht mehr, was ich auf diese inquisitorischen Fragen antwortete, kann mich aber genau erinnern, wie ich diese peinliche montägliche Befragung hasste. Ganz ließen sich die Appelle aber nicht vermeiden. Manchmal wurde man einfach abgeholt, und dann musste man gehen. Ich erinnere mich übrigens, dass sie gar nicht so schlecht gefielen. Dabei wurde viel gesungen, und das machte mir Freude. Die Texte der militärischen Lieder verstand ich ohnehin nicht. Meinen Bruder Richard versteckte sich bei diesen Anlässen immer. Er verübelte es den Nazi, dass sie unseren Papa gleich nach dem Anschluss im 38er Jahr eingesperrt hatten, und ließ sich weder durch ihre Schmeicheleien noch durch ihre Schmähungen umstimmen. So waren wir schon in jungen Jahren mit dieser Gehirnwäsche konfrontiert. In der Schule waren die Nazi-Parolen unser tägliches Brot. Die meisten Lehrer waren ja Nazi.

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Vater unser, der du bist, der die alten Weiber frisst! Der frühe Winter brachte eine böse Gefahr mit sich: den Krampus! Den Nikolaus bekamen wir in unserer Kinderzeit nur ein einziges Mal zu Gesicht, und auch da brachte er keine Geschenke. Allerdings fanden wir am nächsten Tag einen Teller mit einer Orange, einer kleinen Bensdorp-Schokolade und ein paar Nüssen und Stollwerck. Der gefürchtetste Krampus war der Rotsohler. Dieser Name wies darauf hin, dass er aus dem Gebiet um die Veitsch kam, das Rotsohl genannt wird. Dass man ihn „Rozulla“ aussprach, unterstrich seine Gefährlichkeit. Er suchte uns nur alle vier Jahre einmal heim, aber wehe, wenn er angesagt war! An dem bewussten Abend saßen wir auf dem großen Waschbrett in der Waschküche versammelt, und die Buben führten allerhand große Reden, wie sie es dem Krampus geben würden. Sie hätten die Birkenruten schon eingeweicht! Anstatt zu beten, würden sie dem Krampus ins Gesicht schleudern: „Vater unser, der du bist, der die alten Weiber frisst!“ Doch wenn es dann so weit war, schmolz ihr Mut wie Butter an der Sonne. Der Krampus fackelte nicht lang. Er stürzte auf die Buben zu und schrie sie an: „Beten!“ Da war nicht mehr viel zu hören von den forschen Reden. Kein Mauseloch wäre den Helden zu klein gewesen! Sie versteckten sich am liebsten hinter den Beinen der Knechte in der Stube, oder hinter den Besen.

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— Kusinen aus Vorarlberg Meine Kusinen Herlinde, Melitta und ich – die Sorger Elfi war auch dabei – gingen immer in die Au. Dort waren Bänkchen, auf denen wir uns niederließen. Sie dienten uns als Ausgangsstation für allerlei Raubzüge in die Gärten der Umgebung. Karotten, Kohlrabi und alle guten Sachen, die uns so schmeckten. Herlinde kann sich heute noch daran erinnern! Das war lustig! Von Mama bekamen wir Liptauerbrote mit, und damals hatten wir auch schon Paradeiser. Nach denen waren Herlinde und Melitta total verrückt! Sie leisteten mir in diesem Jahr den ganzen Sommer über Gesellschaft.

— Hauptschule In der Hauptschule besserte sich die Lage. Der Direktor, Franz Schiessl hieß er, war zwar ein leidenschaftlicher Nazi, aber trotzdem ein guter Lehrer, der nie jemandem nahetrat, nur weil er oder sie anderer Meinung war. Ich habe an ihn die besten Erinnerungen. Außerdem hatte ich in der Hauptschule die beste Deutschlehrerin aller Zeiten. Leonore Neuburger hieß sie, auch sie eine überzeugte Nazi-Anhängerin. Ihr verdanke ich alles, was ich jemals in Deutsch gelernt habe.

1942 wurden zwölfjährige Mädchen gezwungen, solche Aufsätze zu schreiben

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Auch meine Freundin Else Langmann, die später meine Kinder unterrichtete, schätzte Frau Neuburger sehr. Diese war nach ihrer Pensionierung noch einmal in die Schule zurückgekehrt. Es herrschte ja Lehrermangel, da viele Männer eingerückt waren und es auch noch nicht so viele weibliche Lehrkräfte gab. Jedenfalls hatten wir eine wirklich hervorragende Deutschlehrerin, und auch Direktor Schiessl nahm seine Arbeit sehr ernst. Ich weiß noch, dass er uns am Abend häufig in die Schule bestellte, um mit uns gemeinsam die Sterne zu betrachten. Er hatte ein Teleskop. Diese astronomischen Übungen interessierten uns brennend. Ich habe an meine Schulzeit viele gute Erinnerungen. Allerdings wurde unsere Schule bereits im Herbst 1944, als ich in die vierte Klasse ging, in ein Lazarett umgewandelt. Man hatte aus Luftschutzgründen eine Menge Stollen in den Schlossberg gegraben. Dort fand noch ein paar Wochen lang ein notdürftiger Unterricht statt, der aber auf Dauer nicht zu halten war. Im Berginneren war es furchtbar stickig, kalt und viel zu finster. Nach einiger Zeit, im Oktober, wurde der Schulbetrieb dann vollends abgeblasen. Die eingefleischten Nazi glaubten nach wie vor, Hitler würde über eine Geheimwaffe verfügen, mit der er das Kriegsgeschehen noch wenden könnte. Aber zugleich sangen die Leute auch schon Lieder wie: „Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei – nach jedem Dezember kommt wieder ein Mai.“ Man spürte schon den Untergang der Naziherrschaft und den bevorstehenden Aufbruch. Die Schule endete also abrupt im September 1944, ohne dass wir ein Abschlusszeugnis bekommen hätten, so dass uns ein volles Schuljahr fehlte. Später hieß es, dass diejenigen, die weiter zur Schule gehen wollten, die vierte Klasse wiederholen müssten. Für alle anderen war das Abschlusszeugnis einfach das Zeugnis der dritten Klasse. 114


In der zweiten vierten Klasse kam ich wieder mit meiner Freundin Bibi zusammen, nachdem wir zuvor lange Zeit getrennt gewesen waren. Bibi wohnte außerhalb von Kapfenberg in der Nähe von Schloss Buchta. Diese zweite vierte Klasse war für mich die reinste Offenbarung. Wir hatten hervorragende Lehrer, allen voran Hilde Krainz. Neben ihrer Funktion als Direktorin unterrichtete sie auch Deutsch und Geografie, Fächer, die mich besonders interessierten. Wenn sie etwas außerhalb der Klasse zu tun hatte, setzte sie mich als Vertretung ein, und so durfte ich öfter eine Literaturstunde halten. Das war für mich der Himmel! Ich hatte eine unglaubliche Freude an diesen Stunden. Frau Krainz hatte überhaupt das Talent, uns zu begeistern. Dieser Frau werde ich dankbar sein, solange ich lebe. Für sie und für Frau Neuburger bete ich täglich. Ich hätte ja gerne die Lehrerbildungsanstalt besucht, aber das hätte mein Vater nie erlaubt. Einmal kam Hilde Krainz zu uns nach Hause, um meine Eltern zu überreden, mich Lehrerin werden zu lassen. Mein Vater hörte sich ihre Rede in aller Freundlichkeit an, aber nachdem sie das Haus verlassen hatte, sagte er zu mir: „Was bruucht a Moatle? Kocha, näha – sie hüratet doch.“ Mein Bruder Helmut war da besser gestellt: Ihn schickte mein Vater nach Wieselburg, damals die einzige landwirtschaftliche Mittelschule Österreichs. Mit ihm hatte er große Pläne. Er hatte sich schon überlegt, was jeder seiner Buben einmal machen sollte. Dabei ging er natürlich von damaligen Vorstellungen aus. Vor allem sollten sie Bauern werden! Deshalb kaufte er kurz vor dem Krieg auch vorsorglich den Betrieb in Ruprecht. Er hielt große Stücke auf den Bauernstand. Seiner Meinung nach konnte es gar nicht genug Bauern geben. Grund und Boden waren für meinen Vater heilig und sind es auch für mich. Mit mir hatte er nichts Besonderes vor – als „Moatle“ benötigte ich seiner Meinung nach ja keine höhere Ausbildung. Ein vereinzeltes 115


Mädchen in der Bubenschar war ihm schon recht – die kleine Freude gönnte er Mama. Doch später, im Alter – ich weiß noch, er saß auf der Bank in unserer Küche am Hainweg – sagte er einmal zu mir: „Jetzt weiß ich erst, dass du das einzige von meinen Kindern bist, das mir nachgeraten ist.“ Dass ich als Kind mit Lob überhäuft wurde, kann ich wirklich nicht sagen. Vielleicht sind mir die seltenen Komplimente, die ich bekam, deshalb noch so gut in Erinnerung. Wir hatten eine Bekannte, Frau Spörk, die während des Krieges immer bei uns nähte. Damals musste ja alles geflickt und geändert werden. Sie kam immer zu uns, um auf unserer Nähmaschine zu nähen. Eines Tages sagte sie zu mir: „Aus dir wird noch einmal etwas!“ Das beeindruckte mich zutiefst. Niemand sonst sagte je etwas so Lobendes zu mir. Auch für meine ausgezeichneten Zeugnisse bekam ich niemals Anerkennung oder gar eine Belohnung. Gute Leistungen waren selbstverständlich! Wenn man etwas Positives über sich selbst erfahren wollte, musste man zwischen den Zeilen lesen. Manchmal erhaschte man das eine oder andere Lob, wenn die Eltern etwas zu Freunden oder Bekannten sagten. Von Zeit zu Zeit konnte man den Erwachsenen auch ein wenig Anerkennung entlocken. Sehr selten wurde zum Beispiel angemerkt, dass ich gut in der Schule sei, aber wirklich nur sehr selten. Mein Vater schätzte an mir besonders das Wehrhafte und meine verbale Ausdrucksfähigkeit. Die hatte ich nämlich von ihm. Wenn er sich irgendwo erhob und das Wort ergriff, hörten ihm die Leute zu.

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Der Vater Ich strickte, als ich noch ein Spielkind war, Mit meiner Mutter fleißig Strümpf und Socken. Der Vater ließ mich volle sieben Jahr In einer engen Bauernschulbank hocken. Schon früh genug hat seine rauhe Hand Mich abgewöhnt von Ball und Puppenwiege Er wollte, dass mein wachsender Verstand Sich vor der Zeit zu seiner Arbeit biege. Und er belehrte mich: die Wissenschaft Ist Luxusware mit vermehrten Spesen. Der Mensch braucht nichts zu seiner eignen Kraft Als Rechenkunst und Schreibekunst und Lesen. So hielt und hemmte er in strenger Zucht Mir unerbittlich die gespannten Flügel Doch das Geducktsein stärkte ihre Wucht, Und einmal rissen sie sich los vom Zügel. Aus der Begrenzung, die mich hat umstellt, Ward ich befreit und traumgleich fortgetragen. Ich schaute fernhin auf die kleine Welt Und dachte oft: Was wird der Vater sagen? Wie karg verhallte mir sein Spruch im Ohr, Wenn ich erwog die Vielfalt aller Dinge. Und immer kam mir triumphierend vor, Dass ich weit Größeres als er bezwinge. Nun, wo mein Sinn gemach zur Umkehr taucht, Denk ich, von mancher Eitelkeit genesen: Der harte Vater ist im Recht gewesen. Ich hab mein Lebtag doch nicht mehr gebraucht Als Rechenkunst und Schreibekunst und Lesen.

Paula Grogger, Gedichte, 1954

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Meine Freundin Elli

— Die Zeit im Heim 1945 im Sommer hielten Böhler-Ingenieure sporadisch Unterricht im Schulhof. Schulräumlichkeiten gab es keine. Bibi und ich machten die Aufnahmeprüfung in die sogenannte „Entenschule“ in Graz, eine Hauswirtschaftsschule, die mit Matura abschloss. Elli folgte uns nach einem Jahr Handelsschule im darauffolgenden Herbst. 1946 kamen wir nach Graz. Nur wer diese Zeit selbst erlebt hat, hat eine Vorstellung, wie es damals war. Den Leuten war es im Krieg nicht so schlecht gegangen wie mittelbar danach. Es war nichts mehr da, was man hätte verwalten können. In Graz war es nicht anders. Wir kamen in ein Heim, in dem vorher Russen stationiert gewesen waren bzw. gehaust hatten. Es war alles ka118


putt. Wir waren in einem großen Schlafsaal mit 17 Betten untergebracht. Das heißt, von Betten kann man eigentlich nicht reden: Die unterste Schicht bestand aus einem Bogen Packpapier, dann folgten die früher üblichen dreiteiligen Matratzen. Zwei mussten aber reichen - sie wurden der Länge nach aufgelegt. Gekrönt wurde das Ganze von einer groben Rosshaardecke von der Art, wie man sie früher für die Pferdefuhrwerke verwendete. Das war es auch schon. Da alle sehr arm waren, konnte man nur selten nachhause fahren, zumal ja auch verkehrsmäßig alles im Argen lag. Der Erziehungsstil im Internat war streng - man spürte noch den Hauch von Arbeitsdienst und militärischem Kommando. Es gab alle Arten von Kontrollen, angefangen bei der Fingernägelkontrolle in der Früh. Das Essen? In der Früh bekamen wir einen Heublumentee, da wurden irgendwelche Blüten und Stängel ausgekocht. Das Brot musste man mit dem Löffel essen, so bröckelig war es. Ich war in einem relativ guten Ernährungszustand, so dass ich die magere Küche ganz gut aushielt. Bei anderen war das nicht so. Wir hatten schreckliches Heimweh. Die Verpflegung war haarsträubend. Zu Mittag gab es eine Milchsuppe auf der Grundlage von amerikanischer Trockenmilch, die roch man schon Hunderte Meter entfernt. Das Heim befand sich in der Plüddemanngasse in der Nähe des Schillerplatzes, und die Schule war am Entenplatz. Mir kam es vor, als würde ich in dem Augenblick, in dem ich aus dem Schultor trat, schon die angebrannte Milchsuppe aus dem Heim riechen. Angebrannte Milch stinkt ja unvorstellbar. Es gab Mädchen, die schrecklichen Hunger litten und bereit waren, für ein Stückchen Brot jede Dienstleistung zu erbringen. Ich erinnere mich noch so gut an eine Kameradin aus Eisenerz, die so lang, dünn und hungrig war. Sie tat mir furchtbar leid, aber ich hatte ja auch nichts. Dazu kam, dass es so kurz nach dem Krieg auch zuhause knapp war. Es gab in dieser Zeit nichts zu kaufen. Wie andere überlebt haben, ich weiß es nicht. 119


Mir war aber nur eines wichtig: Ich schrieb mich in Graz sofort in eine Bücherei ein, um mir Lesestoff zu besorgen. Das war alles, was mich interessierte. Mit der Zeit lebten wir uns in Graz gut ein und waren gern im Internat. Unsere Klassengemeinschaft wuchs zusammen. Warmes Wasser gab es nur selten, und auch zu den spärlichen Gelegenheiten kamen wir oft zu spät. Manche Insiderinnen wussten früher Bescheid als wir, und so gingen wir häufig leer aus. Aber da die Nahrung so arm und einfach war, wurde unsere Kleidung auch kaum schmutzig und roch viel weniger als heute. In der Vorratskammer unserer Schulküche gab es eine Kiste mit Uralt-Teigwaren, die wir zum Kochen verwendeten. Die Makkaroni mussten wir immer wie der Trompeter von Säckingen immer durchblasen, denn sie enthielten allerlei Einwohner. Jede einzelne! Aber daran ist niemand gestorben. Wir hatten unendlich viel Spaß. Es war so, wie wir es heute in Afrika sehen: Die Ärmsten sind oft die Fröhlichsten! Wir waren zu jedem Spaß aufgelegt und hatten eine wunderbare Gemeinschaft. In der vierten Klasse fuhren wir dann oft gar nicht nach Hause, auch wenn die Gelegenheit dazu bestand. Aus den spärlichen Zutaten, die wir hatten, kochten wir die eigentümlichsten Gerichte und unterhielten uns dabei königlich. Unsere Kochlehrerin wusste immer haargenau, wie viele Kekse eine gewisse Menge Teig ergab. Alles musste immer strengstens und genauestens abgewogen werden. Wir mussten genau so viele Kekse abliefern, wie die Kochlehrerin aufgrund der Teigmenge errechnet hatte. Das Problem war, dass sich jedes Mädchen am Ende im Vorbeigehen mindestens einen Keks schnappte, und so war die herzeigbare Ausbeute zum Schluss eher dürftig. Unsere Direktorin Dr. Korbelar war da aber zum Glück nicht so zimperlich. Ich war eine relativ eifrige Schülerin, abgesehen von gewissen Fächern wie Nähen oder ganz speziell Weißnähen - für mich der 120


absolute Alptraum. Aber alles andere mochte ich gern. Neben der Schule befand sich die Kaffeefirma Hornig, wo immer Kaffee geröstet wurde. Ich mochte damals zwar noch gar keinen Kaffee, aber der Duft war herrlich. Wenn man aus der Schule kam oder auch wenn ein Fenster offen stand, duftete alles nach frisch geröstetem Kaffee. Wir hatten eine sehr strenge Französischprofessorin, die zwar nur wenig älter war als wir, aber eine absolute Respektperson. Ihr Name war Frau Dr. Scheel. Sie hatte in Belgien studiert und war sehr streng. Ich hatte allerdings die Gewohnheit, immer unter der Bank zu lesen. Eines Tages schöpfte Dr. Scheel Verdacht und erwischte mich. Ich hatte natürlich keine blasse Ahnung, wovon sie gerade sprach. Normalerweise war ich nicht schlecht in Französisch, überhaupt wenn es ums Übersetzen ging. Aber die Grammatik? Die zählte nicht zu meinen Stärken. Dr. Scheel tadelte mich streng wegen meines mangelnden Pflichtbewusstseins und meinte, wenn ich schon selbst nicht daran interessiert sei, etwas zu lernen, solle ich es wenigstens für meine Eltern tun, die mich nach Graz schickten und meine Ausbildung bezahlten. Um eine Ausrede war ich nie verlegen, und so gab ich frech zurück: „Meine Eltern machen sich aus Noten gar nichts!“ Ich habe heute noch im Ohr, wie die Feder auf dem Papier ihres Notenbüchleins kratzte, als sie die Fünf eintrug. Bei unseren Klassentreffen kommt die Rede oft heute noch darauf, wie ich Frau Dr. Scheel ein Mundwerk anhängte. Wir hatten aber auch andere Lehrer, zum Beispiel Dr. Hansemann, einen begnadeten Redner. Manche Lehrer gestalteten die Stunden so schön, dass es war wie im Märchen, ein Traum. Deutsch war immer mein Lieblingsfach. Die Matura verlief dann in Mathematik und Buchhaltung weniger gut, ich musste mündlich noch einmal antreten. Aber Ende gut, alles gut! Die Maturareise ging nach Kärnten, im Autobus. Ein 121


Tag musste natürlich genügen. Einmal machten wir einen Ausflug nach Vorau, und im letzten Jahr gab es sogar einen Schulschikurs in Mariazell! Leider war der Termin erst im März, als es schon mehr Gras als Schnee gab. Ich hatte zuvor noch nie auf Skiern gestanden, und die Ausrüstung ließ damals, im Jahr 1950, mehr als zu wünschen übrig. So stürzte ich und brach mir den linken Knöchel. An diesem Bruch laboriere ich noch heute, denn das Mariazeller Krankenhaus war sagenhaft besetzt! Unser Kapfenberger Hausarzt, der ja auch nicht gerade an der Sorbonne studiert hatte, lachte nur, als er den Gips sah, und meinte: „Meister der Gipse!“ Aber dafür war er nachhaltig - ich spüre den Bruch heute noch! Eine Zeitlang hat mir eine Achterschleife geholfen, aber heute reicht das nicht mehr. Wir veranstalten immer noch Klassentreffen. Alle sind genauso geblieben, wie sie waren! Einige meiner damaligen Kolleginnen sind schon gestorben, zwei leben im Heim, eine hat multiple Sklerose, eine andere Parkinson. Es gibt alle Arten von Schicksalen in der Klasse, aber die alte Gemeinschaft bleibt aufrecht, solange wir leben.

— Praxis auf der Rigi Nach meiner Schulzeit in Graz stellte sich die Frage, was mich mit meiner Ausbildung nun beginnen sollte. Da ergab sich die Gelegenheit, in der Schweiz auf der Rigi im Grand Hotel als Hilfsköchin anzuheuern. Gesagt, getan. Mit einem riesigen Koffer bewaffnet trat ich mein erstes - und genau genommen auch letztes – Dienstverhältnis an. Ich musste alles selbst organisieren – die Zugreise, dann die Fahrt hinauf auf die Rigi, die Formalitäten. Obwohl ich solche Dinge gar nicht gewöhnt war, schaffte ich alles. 122


Die Arbeit im Hotel war alles andere als beschaulich. Es hieß fest zupacken, und die Verpflegung war unter jeder Kritik. Schon zum Frühstück bekamen wir einen unvorstellbaren Fraß. Das meiste verschmähte ich. Dafür hielten wir uns heimlich schadlos an den Köstlichkeiten, die es in der Küche so gab. Himbeeren aus dem Wallis, Erdbeeren… zu Hause hatten wir keine Himbeeren. Das waren höchstens Waldfrüchte. Unsere Beute organisierten wir aus dem sogenannten „Garde-manger“, einem Ort, der seinen Namen zu Unrecht trug, war er doch nach allen Seiten hin undicht. Ich hatte Zugang zu diesem Hort der Genüsse, weil ich in der Küche beschäftigt war. Meine Kollegen kooperierten im sogenannten „Office“. Sie nahmen alle Speisen entgegen, die unberührt zurück kamen und von uns sofort konfisziert wurden. Unsere Gruppe bestand aus zwei Priesterstudenten, Candid und Franz, und Marie-Therese, einer feinen und sehr gläubigen Person. Ich bewunderte die Briefe, die sie von ihrer Mutter bekam, weil sie so kultiviert und anspruchsvoll waren. An den Abenden in unseren Zimmern ganz oben unter dem Dach ließen wir es uns dann gut gehen. Da breiteten wir alle unter dem Tag gehamsterten Köstlichkeiten aus und hielten uns schadlos. Unsere Arbeitgeber waren ja der Meinung, wir bräuchten uns nicht aufzuregen wegen der gelbgrün schimmernden, halb verfaulten Kartoffeln, die uns serviert wurden. Hatten wir nicht im Krieg Hun-

Zeugnis Hotel Rigi-Kulm

ger gelitten? Ich sagte ihnen aber, dass wir einen solchen Fraß auch in unseren schlimmsten Zeiten verschmäht hätten. Zum Glück hatten wir ja eine Alternative! Aber das brauchten sie nicht zu wissen. 123


In dem Hotel waren außer uns auch Italiener beschäftigt, die aus sehr einfachen Verhältnissen stammten. Sie wurden furchtbar schlecht behandelt, wie Tiere. Am 6. August ist in der Schweiz Nationalfeiertag. Da ging es hoch her auf der Rigi. Der Küchenchef war schon einige Zeit vor dem großen Ereignis furchtbar nervös. Wir mussten draußen auf der Wiese alles zusammenraffen, was wir an Zutaten fanden – Schnittlauch, Kräuter, Knoblauch. Das ergab dann die sogenannte „Potage à la ménagère“. Wenn die Gäste die Entstehungsgeschichte dieser feinen Suppe gekannt hätten, wären sie sicher konsterniert gewesen. Damals wuchs auf der Rigi ja alles, kein Vergleich zu heute. Die Aussicht ist immer noch schön, aber die Natur? Traurig. Im zweiten Jahr dauerte mein Aufenthalt auf der Rigi nur sehr kurz. Ich sollte nämlich die vier Kinder des Hotelchefs hüten, und diese Aussicht ließ mich so verzweifeln, dass ich Hals über Kopf abreiste. So fand meine Karriere in der Gastronomie ein frühzeitiges Ende.

— Katholische Jugend Die Zeit meiner Mitgliedschaft bei der katholischen Jugend war eine lange, wunderschöne Zeit in meinem Leben. In der Nazizeit war das Publikum in der Kirche ja eher dünn gesät, erst nach dem Krieg wurde alles wieder aufgebaut. Wir hatten zwei junge Kapläne, Narnhofer und Stocker hießen sie, die die Jugend um sich versammelten und viele Dinge mit uns veranstalteten. Da waren zum Beispiel die wöchentlichen Heimstunden, in denen wir sangen und viele interessante Themen behandelten. Wir waren ungefähr 20 oder 30 Personen. 124


Später kam dann ein anderer Kaplan, der nachmalige Pfarrer Plesnicar, der einen besonderen Draht zur Jugend hatte und ungeheuer lustig war. Er hatte unzählige Witze auf Lager, sang mit uns und hielt als begeisterter Bergsteiger einmal im Jahr eine Bergwoche ab. Daran habe ich meine schönsten Jugenderinnerungen, und mir tun alle Kinder leid, die so etwas Schönes nicht erleben dürfen. Wir waren glücklich, lustig und unbeschwert. Wir spielten auch Theater. Wenn wir eine Aufführung hatten, war das Werkshotel immer bis auf den letzten Platz voll! Ich weiß noch, dass meine Kollegin Everl einmal eine Putzfrau spielte, die den Text hatte: „Jeder kehr´ vor seiner eig´nen Tür, denn da liegt genug dafür!“ Da lachten die Leute laut, das gefiel ihnen. Ob sie den Rat beherzigten, weiß ich aber nicht! Die Bergwochen waren unvergleichlich. Wenn ich bedenke, was man heute alles braucht zum Bergsteigen... Damals nahm man einfach, was man hatte: einen Anorak und halt ein bisschen festere Schuhe. Wir waren zum Beispiel in den Niederen Tauern, im Gesäuse und auch auf dem Traunstein. Billig musste es natürlich hergehen. Unsere Ausgangsorte erreichten wir mit dem Zug, und dann ging es los. Meistens übernachteten wir in Jugendherbergen oder auf Hütten. Die Aufsicht, die wir genossen, empfanden wir gar nicht als Kontrolle. Wir sangen viel, eine geglückte Mischung zwischen religiösen und weltlichen Liedern. Das Lustige war, dass Kaplan Plesnicar vor der Bergwoche immer bei uns zu Hause anrufen musste, ob ich mitfahren dürfe. Und da war meistens Papa am Telefon. Der rief dann immer: „Agathle! Darf ´s Mädi mitfahren?!“ Erst wenn Mama bejahte, stimmte auch er zu. Ich fiel nämlich unter Mamas Ägide, und diese Zuständigkeit wurde bei uns strikt eingehalten. Keiner pfuschte dem anderen ins Revier. Mama sagte jedes Mal ja, auch wenn sie nicht immer begeistert war. Sie hätte mich ja auch durchaus zu Hause brauchen können. Aber sie gönnte mir immer meinen Spaß. • 125


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Herberts Erinnerungen — Drei Jahre und schon mit dabei Meine ersten bewussten Eindrücke reichen ins Jahr 1936 zurück, als wir unsere Obstpresse bekamen. Papa hatte sie in Kärnten, in Pörtschach am Wörthersee, gekauft. Sie wurde in einem eigenen Waggon mit der Bahn zu uns geschickt. Ich weiß, dass die Knechte sie mit dem Pferdegespann und dem Plateauwagen holten. Dass ich als Dreijähriger schon mitfahren durfte, machte auf mich einen solchen Eindruck, dass ich mich heute noch daran erinnere. Diese Presse war so groß, dass man sie nicht auf einmal transportieren konnte. Wir mussten also zweimal fahren, und ich saß hinten auf dem Wagen. Für die Mosterei verantwortlich war unser erster Knecht, Michl, ein sehr lebenstüchtiger Mann, der später meine Kusine heiratete.

— Wilde Reiter Aus dem Jahr 1937 ist mir ein unheimliches Erlebnis in Erinnerung geblieben. Meine Schwester Hedwig, Mädi gerufen, ihre Freundin Annerl und ich gingen ganz allein unten bei der Frauenwiese, wo unser Pachtgrund lag, einen Weg entlang. Die heutige Werk-VIStraße war ja damals noch ein einfacher Fuhrwerksweg und galt sogar für uns kleine Kinder als ungefährlich. Auf einmal kamen, wie die wilde Jagd, zwei Reiter direkt auf uns zu galoppiert. Wir waren uns sicher, sie würden uns jeden Augenblick niederreiten. Doch unmittelbar vor dem Zusammenstoß schlugen sie plötzlich einen Haken und ritten in die Gegenrichtung davon. Wir erfuhren nie, wer die beiden waren und was sie beabsichtigt hatten, doch der Schreck saß uns noch lange in den Knochen. 127


Dass Papa 1938 eingesperrt wurde, habe ich atmosphärisch sicher mitbekommen, aber ich erinnere mich nicht daran. Innerhalb der Familie und unter den Dienstboten herrschte, wie ich aus den Erzählungen in der Familie weiß, große Verzweiflung und Aufregung. Über solche ernsten Dinge wurde damals mit kleinen Kindern nicht gesprochen, sie mussten sich auf alles ihren eigenen Reim machen.

— Kindheitserinnerungen Als Kind spielte ich sehr viel mit den anderen Kindern aus dem Schloss und aus der Umgebung. Der Holzer Friedl, der Sandri Burli – eigentlich Arthur -, der Zeidler Bruno, der Pichler Fritzi, der Ecker Rudi, die Holzer Erika... das waren meine Freunde. Wie spielten zum Beispiel „Der Kaiser schickt Soldaten aus“, „Schneider, Schneider leih ma d‘Scher“ und natürlich Verstecken und Abfangen. Besonders beliebt war das Schlangen ziehen, aber da hatte ich einmal einen Unfall. Sechs, sieben Kinder liefen hintereinander. Vorne waren immer die Starken, die zogen die ganze Schlange. In den Kurven entstanden da ganz schöne Fliehkräfte. Einmal – ich war das letzte Kind in der Schlange – flog ich in einer Kurve hinaus. Es schleuderte mich weit weg, ich stürzte, und schon spürte ich den stechenden Schmerz in meiner Schulter: Ich hatte mir das Schlüsselbein gebrochen! Das war in der ersten Klasse Volksschule. Dann wurde ich eingegipst und musste zwei Wochen lang Gips tragen. Im Winter hatten wir es besonders schön: In den Kriegsjahren, 1941 und 1942, gab es dicke Eisplatten bei uns am Hof. Darauf ruselten wir den ganzen Tag. Aus der Hochschwabsiedlung kamen die Kinder herunter, und wir vergaßen die Zeit. Wir ruselten und ruselten... Es war einfach herrlich. Damals hatten wir die wunderbarste Unterhaltung, ohne dass es einen Groschen Geld kostete. 128


Wir hatten es einfach lustig, Geld spielte keine Rolle. Es war alles so ungekünstelt, so ehrlich. Als ich ungefähr sieben, acht Jahre alt war, musste ich beim Heuen die Pferde füttern und die Fliegen verscheuchen, damit die Tiere ruhig stehen blieben. Da hieß es mitdenken. Ich war immer voll dabei. Sobald der Wagen weiterfahren sollte, rief Papa oben auf dem Fuhrwerk „Obacht!“ Die Männer auf dem Wagen mussten nämlich aufpassen, dass sie nicht herunterfielen, wenn es plötzlich einen Ruck machte. Danach sagte ich „Hüa!“, und es ging ein paar Meter vorwärts. Die Pferde konnte ich damals schon selbst führen. Der kleine Rossknecht, Johann Kumpitsch hieß er, mochte mich gern. Ich erinnere mich gut, als er mir das erste Mal den Auftrag gab, den Wagen anzuhängen – also genau gesagt, zwei Wägen zusammenzuhängen. Ich hatte eine eigene Kette, die ich schon vorsorglich aus der kleinen Hütte zu Hause mitgebracht hatte. Und dann hängte ich die Wägen zusammen, mit meiner eigenen Kette! Der Rossknecht fuhr mit dem Gespann, und ich beobachtete mit stolzgeschwellter Brust, wie sich die Kette spannte und wieder lockerte... Das war meine Kette, und sie hielt. Der Tag, an dem Onkel Seppl mit Herlinde und Melitta im Juli 1943 auf Besuch kamen, war für mich ein ganz besonderer Tag. Eine große Vorfreude! Aber vorher ging es zum Heuen. Papa sagte: „Um vier am Nachmittag kommt der Johann herein, und dann spannen wir ein. Der Johann fährt mit den zwei Rössern, und dir schirrt er den Lutz an. Er fährt mit dem einem Leiterwagen, und du fährst mit dem zweiten!“ Was das für mich für ein wunderbares Gefühl war! Ich konnte es gar nicht erwarten. Dann ging es die Werk VI-Straße hinaus! Stolzer als ich konnte kein Kind sein. Ich strahlte wie die Sonne. Eine solche Freude! Zehn Jahre alt war ich da. 129


— Wen kümmert schon die Schule? 1939 wurde ich eingeschult. Am 1. September war Kriegsbeginn, am 9. September Schulbeginn. Unser damaliges Dienstmädchen Resi ging mit mir in die Stadt zum Einschreiben. Das weiß ich noch. Allerdings wurde ich nur am ersten Tag begleitet. Schon am zweiten Tag musste ich mich allein zurechtfinden. Das war damals allgemein so üblich, niemand dachte sich groß etwas dabei. Anders als meine Schwester besuchte ich nach der Eingemeindung nicht mehr die Volksschule in Hafendorf, sondern bereits die in Kapfenberg. Auf dem Rücken trug ich den sogenannten „Schulerpack“. Nicht etwa, dass ich zum Schuleintritt eine neue Schultasche bekommen hätte! Den Schulerpack hatte ich von meinem Bruder Richard geerbt, der ihn bereits acht Jahre lang in Verwendung gehabt hatte. Es gab sechs Noten, nämlich Sehr Gut, Gut, Befriedigend, Ausreichend, Mangelhaft und Nicht Genügend. Schon in der ersten Klasse hatte ich in Heimatkunde einen Dreier. Das konnte meine Stimmung aber nicht trüben. In der zweiten Klasse waren wir jede Menge Buben und insgesamt 57 Schüler! Schon am Ende der ersten Klasse hatten wir gehört, dass viele Südtiroler nach Kapfenberg gekommen waren. Die Deutschsprachigen wurden ja von dort ausgesiedelt, und plötzlich hatten wir in meiner Klasse drei Brüder aus Südtirol – Anton, Alois und Robert Auer. Zu meiner Zeit saßen in den Klassen immer auch ältere Schüler, die schon ein- oder mehrmals sitzengeblieben waren. Meine Lehrerin in der dritten Klasse, Margarethe Reiter, war mir sehr sympathisch. Ich war damals in der Schule, die mich später wenig kümmerte, gar nicht schlecht. Während ich im Unterricht saß, dachte ich aber meistens schon darüber nach, was am Nachmittag daheim an landwirtschaftlichen Arbeiten anstand. Dafür konnte ich mich wirklich begeistern. 130


— Das Leben daheim Anders als meine Schwester hütete ich die Kühe mit großer Freude. Das war für mich wirklich nicht schlimm! Aber eine anspruchsvolle Aufgabe für ein kleines Kind war es schon. Auch die Jause führte ich gerne aus. Dazu engagierte ich meistens einen Freund, Bruno, Friedl oder einen anderen. Gemeinsam vertrieben wir uns die Zeit, so dass sie wie im Flug verging. Aber pünktlich mussten wir schon sein! Ungefähr um halb vier war Jausenzeit. Am schönsten fand ich es, dass sich nach der Arbeit alle hinsetzten und jausneten. Der Most wurde ausgeschenkt, und man saß beisammen und unterhielt sich. Das war sehr gemütlich. Ganz besonders schöne Erinnerungen habe ich an die Winterabende. Nach dem Essen gingen wir immer in das Zimmer, in dem die Dienstboten versammelt waren. Dort wurde geredet vom Leben und von der Vergangenheit. Da hörten wir Kinder sehr gern zu. Das Leben fühlt sich für jeden ganz anders an, so viel entnahmen wir diesen Gesprächen. Eine schöne Erinnerung habe ich auch daran, dass unser Knecht Blas mir einmal auf einer Schießbude einen Hund schoss. Er schoss gern, und zwar erfolgreich! Den Hund schenkte er mir. Was hätte er mit einem Stoffhund auch anfangen sollen?

— Meine Träume Als Kind wünschte ich mir sehnsüchtig Ski. Früher schrieben die Kinder ja Wunschbriefe ans Christkind, und ich glaubte als Kind daran, dass das Christkind durch das Fenster schweben und meinen Brief abholen würde. Also vertraute ich meinen innigen Wunsch dem Papier an und stellte den Brief aufrecht auf die Konsole über 131


der Vertäfelung beim Küchentisch. Da prangte er nun und wartete darauf, abgeholt zu werden! Mein Freund Bruno Zeidler, der schon vor mir zur Feder gegriffen hatte, meldete am nächsten Tag Vollzug. Sein Brief befand sich bereits an der richtigen Adresse. Und meiner? Der stand noch immer unberührt auf der Konsole. Jeden Morgen stürzte ich in die Küche – mein erster Blick galt der Konsole. Dort stand mein Brief wie ein weißes Mahnmal verlorener Träume. Mit der Zeit wurde ich richtig melancholisch. Aber eines Morgens war er verschwunden! Endlich hatte ihn das Christkind geholt! Und tatsächlich: Unter dem Baum lagen die ersehnten Ski. Skischuhe gab es natürlich keine, man fuhr mit den gewöhnlichen Schuhen, die der Osterhase bereits freundlicherweise beigesteuert hatte. Allerdings nur in der Fantasie! Wir hatten natürlich vom Osterhasen gehört, in Vorarlberg kam der angeblich, aber so sehr wir auch suchten und alles umdrehten, Nest fanden wir keines. Ich träumte immer davon, Lokomotivführer zu werden. Die Bahn interessiert mich auch heute noch. Oft gehe ich hinauf zum Bahnhof, schaue mir die Schienen an, was für ein Baujahr, die Schwellen, die Waggons. Damals gab es auf jedem Zug mehrere Bremser, die auf den Waggons eigene Hütterln hatten, die zirka so groß waren wie ein Klo. Im Winter erlitten sie oft schwere Erfrierungen, die Hütterln waren ja nicht zu erheizen auf den stundenlangen Fahrten. In der Lok saß auf der rechten Seite der Lokomotivführer, der bediente nur die Hebel, und neben ihm der Heizer. Der musste mit kurzen Zwischenpausen ständig heizen. Das waren fürchterliche Arbeitsbedingungen: auf der einen Seite die Hitze neben der Feuerung, auf der anderen die kalte Außenluft. Die Lokomotive war ja damals nicht geschlossen, sondern an der Seite offen. An den Stationen hielt der Lokomotivführer immer den Kopf hinaus, um zu sehen, wann der Fahrdienstleiter das Zeichen gab. Er wartete, bis der letzte Passagier eingestiegen war. Dann gab der Fahrdienstleiter mit seinem roten Signal das Zeichen zum Abfahren. 132


— Meine Firmung Eine meiner schönsten Kindheitserinnerungen habe ich an den Tag, an dem mir Helmut Matscheko, unser Hausfleischhauer, versprach, mit mir zur Firmung zu gehen. Ich hatte so eine riesige, so eine ungeheure Freude! Schon der Tag, an dem er die Zusage machte, war für mich ein Freudenfest. Es wurde in der Familie ja schon eine Zeitlang darüber geredet, dass in diesem Jahr meine Firmung anstünde, und es wurde überlegt, wer mein Firmpate werden sollte. Normalerweise wurde für solche Fälle immer ein Onkel herangezogen. Doch als eines Sonntags nach der Kirche der Matscheko zu uns auf Besuch kam, fragte ihn Papa, ob er mit mir zur Firmung gehen würde. Der Angesprochene stimmte gleich zu. Dann wollte Papa wissen, wohin er denn mit mir fahren würde? Das Gebräuchliche war damals Graz, eventuell noch Mariazell. Aber mein zukünftiger Firmpate wischte diese Vorschläge gleich vom Tisch: „Na“, sagte er, „mia foahn auf Wean!“ Mein Gott! Hatte ich eine Freude! Nach Wien fahren! Mit dem Zug fahren! So weit fahren! Also! Vor mir tat sich der Himmel auf. Neben dem Tisch in der Küche, an dem wir saßen, gab es eine hölzerne Fensterbank. Dort hockte ich nun ständig, die Füße angezogen, und schaute nur noch hinauf zum Bahnhof. Wenn ein Zug vorbeibrauste, fuhr ich im Geist mit nach Wien. Auf der Kohlenrutsche gab es eine Tafel mit allerhand Aufschriften, und Wien stand auch dabei. Der Matscheko verstand es so gut, mir eine Freude zu machen! Vorher stellte er 133


schon ein Programm auf, was wir in Wien alles angehen würden. Vorgesehen war unter anderem ein Besuch im Prater, von dem ich ja keine Ahnung hatte. Ich dachte, dort würde irgendetwas gebraten. Vom Watschenmann erzählte er mir auch. „Do muasst aufpassn“, sagte er. „Der haut z´ruck aa!“ Spannend machte er es. So eine Freude! Der Matscheko war genau der Richtige. Der Rest der Familie kam auch mit auf die Reise, weil meine Schwester Hedi in diesem Jahr ebenfalls gefirmt wurde. Nach Wien durfte sie aber nur, weil der Matscheko mit mir fuhr, sonst hätte sie mit Graz oder Mariazell Vorlieb nehmen müssen. In Wien waren die restlichen Familienmitglieder aber woanders einquartiert als ich. Es war dann wirklich so schön, wie ich es mir erträumt hatte. Am Pfingstfreitag, dem 11. Juni 1943, einen Tag nach meinem zehnten Geburtstag, war es so weit. Um drei Uhr Nachmittag ging es los mit dem Schnellzug. Ich habe noch den Widerhall im Ohr, den der Zug auf der langen geraden Strecke bei Neunkirchen gab, wie er da hinaus dampfte durch den Kiefernwald. Um viertel acht kamen wir in Wien an, das weiß ich noch gut. Ein Schwager vom Matscheko, bei dem wir untergebracht werden sollten, holte uns vom Bahnhof ab. Gratzei hieß er. Mit seiner Schnabelkappe erwartete er uns am Südbahnhof. Die anderen Familienmitglieder fuhren in den sechzehnten Bezirk in die Säulengasse, und für mich ging es in den neunten Bezirk in die Alpengasse 2. Der Schwager wurde vom Matscheko Fritz-Onkel gerufen, und seine Frau Mitzi-Tant. Bei dieser Familie schliefen wir, und dort wurde auch gekocht und gegessen. Das waren ordentliche Leute, da gibt es nichts. Der nächste Tag, der Pfingstsamstag, war zu meiner Enttäuschung ein Regentag. Die Verwandten vom Matscheko hatten einen 134


Schrebergarten, zu dem fuhren wir hinaus mit der Tramway. Dort hatten sie ein Gartenhütterl. Am Nachmittag ging es dann in den Prater. So eine riesige Berg- und Talbahn! Uuuund mir wurde schlecht! Zu allem Überfluss goss es wie aus Kübeln... Am Abend besuchten wir dann ein Lokal, das wohl in der Nähe vom Prater gewesen sein wird. Dort waren schon Soldaten in Uniform zu sehen, die offensichtlich auf Urlaub waren. Die beeindruckten mich sehr. Nach dem Restaurant ging es bei strömendem Regen nach Hause. Aber der nächste Tag, der Pfingstsonntag, war ein herrlicher Tag! Schon in der Früh weckte mich die strahlend helle Sonne. Das stimmte mich erwartungsfroh und machte mir gleich gute Laune! Wir fuhren zum Stephansdom, wo uns die anderen Familienmitglieder erwarteten. So viele Leute, und Hunderte Firmlinge! Ich war tief beeindruckt. Vor dem Tor wartete schon eine lange Kolonne auf Einlass. Der Matscheko hatte einen Invalidenausweis vom Ersten Weltkrieg, und so wurden wir vorgelassen. Ich war der zweite Firmling in der Reihe, und meine Schwester stand gleich neben mir! Wir wurden von Kardinal Innitzer, Theodor Innitzer, gefirmt. Mädi hatte ihren begünstigten Standplatz nur dem Invalidenausweis vom Matscheko zu verdanken. Wegen diesem Ausweis wurde die ganze Familie vorgewunken. Den Nachmittag verbrachten wir dann in Schönbrunn und im Tiergarten. Einfach super! Am Pfingstmontag fuhren wir wieder nach Hause.

Familie Sieber am 12. Juni 1943, einen Tag vor der Firmung. Der Vater wollte die Familie noch einmal vollständig versammelt sehen, da niemand wissen konnte, was die Zukunf t bringen würde.

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Der wilde Herbert auf seiner Maschine 1953

— Endlich Motorisiert Papa kaufte uns 1950 auf unser Drängen hin ein Motorrad, eine belgische FN 350. Ich hatte noch keinen Führerschein, also „gehörte“ die Maschine zunächst Richard und ich durfte nur auf dem Sozius mitfahren. Natürlich war ich auch manchmal ohne Führerschein unterwegs, aber es wäre falsch zu sagen, dass dieses Motorrad mir gehört hätte. Wie später das Auto bekamen wir es gemeinsam. Leider konnten wir nicht allzu oft damit fahren. Das Getriebe hatte eine Schwachstelle, und Reparaturen dauerten damals ewig. Im Rückblick war das vielleicht sogar ein Glück. Wäre die Maschine immer problemlos gefahren, wer weiß, ob wir nicht einen Unfall gebaut hätten. Aber 1953 machte mir unser Hausmechaniker Gabriel den Vorschlag, wir könnten doch einmal nach Kärnten zum Baden fahren. Für mich war das eine große Sache, ungefähr so, als würde man heute nach Amerika fliegen. Wir machten sogar vorher noch einen 136


Schwimmkurs. Das Kapfenberger Hallenbad war gerade neu eröffnet worden. Hedi und ich meldeten uns an. Vielleicht sechs oder sieben Mal besuchten wir so eine Kursstunde, und zwar schon um sechs Uhr morgens, bevor der reguläre Betrieb losging. Gelernt haben wir dabei so gut wie nichts, aber etwa einen Monat später brachen wir mit zwei Motorrädern auf nach Kärnten. Ich hatte die Schuster Elli auf meiner Maschine und der Gabriel die Mädi. Am 12. Juli 1953, einem schönen Hochsommertag, brachen wir auf. Unsere Route verlief über Graz, die Pack und Völkermarkt nach Klagenfurt. Dort gönnten wir uns am Wörthersee ein Mittagessen. Unser Ziel war der Faakersee. Hedi und ich konnten praktisch nicht schwimmen. Wir gingen daher auch kaum ins Wasser, nur gerade so viel, dass wir nass wurden. Elli dagegen bewegte sich wie ein Fisch im Wasser. Gabriel auch, allerdings nicht ganz so gut wie Elli. Die beiden schwammen weit hinaus auf eine Insel. Den Heimweg nahmen wir über Villach. Von dort ging es nach Feldkirchen und Neumarkt zurück in die Steiermark. Wegen der damaligen Verkehrsverhältnisse war das eine richtig weite Tour. Heute sind die Straßen so glatt wie ein Teppich, damals stieß man überall auf Bodenwellen. Die Strecke über den Griffen war noch eine Schotterstraße und man kam wirklich nur mühsam voran.

— Obstholen mit dem Dodge Im Herbst 1953 kauften wir einen gebrauchten Lastwagen von den englischen Besatzern, einen amerikanischen Dodge. Am Schirmitzbühel fand ein Abverkauf des gesamten Geräts, das die Engländer nicht mitnehmen wollten, statt. Sie wollten das Zeug loswerden. 137


Der Lastwagen musste ein bisschen hergerichtet werden. Gabriel reparierte ihn daheim motorisch immerhin so weit, dass er wieder einwandfrei lief. Also fuhren wir damit nach St. Ruprecht. Das war Papas Idee, weil die Mostpresserei schon voll angelaufen war. Mit einem LKW konnten wir unser Pressobst selbst kaufen und auch gleich heimführen. Allerdings ging diese Rechnung nicht auf. Wir machten uns mit einem eigenen einachsigen Anhänger auf den Weg – Papa, Herr Hochörtler und ich. Unser Plan war, nach St. Ruprecht zu fahren, Obst zu holen und auch von den Nachbarn Obst zu kaufen, bis wir das Auto voll hätten. Gleich zu Beginn, über den Hügel bei Jassing hinauf, konnte der LKW die ganze Last nicht mehr ziehen. Irgendwie wurde er heiß und blieb stehen. Er war offenbar noch nicht wirklich in Schuss, denn eigentlich hätte er das leicht schaffen müssen. Die Situation war brenzlig: Wir mussten in Windeseile aus dem Auto kommen und etwas unterlegen, denn der schwere LKW begann schon zurückzurutschen. Zum Glück lag gerade neben dem Auto ein Wurzelstock, der sich perfekt für unsere Zwecke eignete. Dann blieb uns nichts anderes übrig, als eine halbe oder dreiviertel Stunde zu warten, bis sich der Motor abgekühlt hatte. Schließlich vollbrachten wir das Kunststück, direkt in der Steigung wieder wegzukommen, und weiter ging die Fahrt. Leider hatten wir auf dem Rückweg, und zwar mitten in der Heinestraße in Graz, einen Platten. Die Reifen waren nach dem ganzen Krieg nicht mehr die besten. In Gratkorn folgte die nächste Panne und letztlich mussten wir LKW und Anhänger stehenlassen und per Autostopp nach Hause fahren, wo wir erst um Mitternacht ankamen. Am nächsten Tag kehrten wir dann mit dem alten Traktor samt Anhänger zurück nach Gratkorn. Zuerst mussten wir mühsam al138


les umladen und dann ging es los. Dieser Traktor schaffte es doch tatsächlich, alles, das ganze Fuhrwerk, herauf nach Kapfenberg zu schleppen. Würden wir das heute versuchen, hätten wir sofort die Polizei am Hals und kämen garantiert nicht weit. Wir hatten damals den Traktor, den Traktoranhänger mit der ganzen Ladung, den LKW und den LKW-Anhänger. Für den Traktor war das ohnehin schon Schwerstarbeit, aber wir mussten auch noch mit dem ganzen langen Zug durch das enge Frohnleiten durch, dann über die Holzbrücke und durch eine Haarnadelkurve bergauf. Mein Interesse für Geografie rührt aus der Zeit her, als plötzlich meine Brüder fortgingen. Helmut war in Wieselburg, Richard beim Militär. Hedi und ich blieben allein zurück, aber Hedi hatte immer ihren eigenen Bereich. Sie war gut in der Schule und las für ihr Leben gern. Mir war damals oft langweilig und so begann ich, am Abend den Atlas zu studieren. Das tat ich aus freien Stücken, niemand hatte mich dazu ermuntert. Es machte mir einfach Spaß, eine reine Interessenssache.

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— Rückblick Wenn ich auf mein Leben zurückschaue, finde ich es schön. Viel Arbeit gab es immer, vor allem, als wir noch keine Melkmaschine hatten. Anfang der 50-er Jahre hätte ich mir gewünscht, zu den Sommerfesten gehen zu können, die alle 14 Tage beim E-Werk stattfanden. So viele Leute, so viel Jugend! Ich wäre halt auch gern dort gewesen. Aber ich musste am Abend immer die Kühe eintreiben und die Stallarbeit erledigen. Und danach noch einmal hinunter zu gehen... da war es ja schon spät. Als ich in Bruck die Fahrschule besuchte, sah ich am frühen Abend oft junge Leute auf der Straße beieinander stehen und sich unterhalten. Dass es das gibt, dachte ich mir. Für so etwas hatte ich keine Zeit. Gemütlich zusammensitzen – das gab es kaum. Sobald es vier war, hieß es für mich aufstehen, in den Stall gehen. Die angenehme Atmosphäre geselliger Zusammenkünfte zu genießen – davon hätte ich mir auf jeden Fall mehr gewünscht. Nach dem Krieg war der bäuerliche Berufsstand hoch angesehen. Schließlich hatten die Bauern immer zu essen und versorgten die anderen. Man war stolz auf seine Arbeit, aber alles andere kam zu kurz. Als wir dieses eine Mal mit dem Motorrad nach Kärnten fuhren – was das für ein Aufwand war, dass ich fahren konnte. Damals hatten wir noch keine Melkmaschine. Der kurze Ausflug war fast nicht zu bewerkstelligen. Alle mussten zusammenhelfen, um mir diese Freude zu ermöglichen. Bei uns lief es so: Aufstehen, die Gummistiefel anziehen, und am Abend vor dem Schlafengehen die Gummistiefel ausziehen. So war es. Ohne Übertreibung. Immer nur Arbeit, keine Freizeit. Das bedaure ich. •

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Hedwig und Herbert über Ihre Eltern — Hedwig: Meine Mutter Wenn ich an meine Mutter denke, habe ich das Bild eines Kachelofens vor mir. Obwohl sie unendlich viel Arbeit hatte, war sie der Ruhepol in unserer Familie. Sie selber war wortkarg, hörte aber jedem zu und redete nie schlecht über andere. Laut lachen hörte man sie selten, aber verhalten schmunzeln konnte man sie öfter sehen. Ich als ihre einzige Tochter möchte ihr ein besonderes Denkmal setzen: Sie war es, die meine überbordende Lesefreude in mehrfacher Weise förderte: Wenn mein Vater, der von höherer Bildung gar nichts hielt, mit energischen Schritten das Haus durchmaß, um mich in meinen dunklen Verstecken aufzustöbern und zu irgendeiner Arbeit einzuteilen, verriet sie mich nicht und ließ mich gewähren. In meiner Volksschulzeit gab es bei uns zu Hause außer der „Kleinen Zeitung“, der „Stadt Gottes“, dem „Vorarlberger Volkskalender“ und natürlich dem Religions- und Lesebuch nichts Brauchbares zu lesen. So sah ich mich im zarten Alter von sieben Jahren gezwungen, den täglichen Fortsetzungsroman in der Zeitung zu lesen! Dass mir meine Mutter, obwohl sie immer sehr knapp bei Kasse war, mein erstes „richtiges“ Buch, das „Osterhasenland“, kaufte, werde ich ihr nie vergessen. Es war viele Jahre lang mein wertvollster Besitz. Meine Liebe zur Sprache hat sich übrigens auf die nächste Generation übertragen – jedes meiner fünf Kinder hat einen Beruf ergriffen, der entweder mit Sprache oder mit Musik zu tun hat. 142


— Tierliebe Meine Mutter war sehr tierlieb. Wenn bei uns ein Schwein geschlachtet wurde, hielt sie sich mit beiden Händen die Ohren zu. Beim Essenko-Stadel wurden immer Rinder vom Fleischhauer vor dem Schlachten „zwischengelagert“. Sie wurden ausgehungert, damit sie leichter und damit billiger wurden. Das Brüllen drang bis zu uns. Das machte meine Mutter verrückt. Sie, die nie außer Haus ging, zog sich am Abend an, ging dorthin und verlangte, dass die Tiere gefüttert wurden. Sie konnte Tierleid nicht ertragen. Auch die täglichen Geschehnisse auf dem Bauernhof, wo ja oft Tiere geschlachtet wurden, hielt sie schwer aus.

— Hedwig: Mein Vater Mein Vater war wie ein Hausdach: groß, ausladend, kraftvoll und wortgewaltig. Er strahlte für uns Sicherheit und Geborgenheit aus. Obwohl er in seiner Vorarlberger Heimat nur eine zweiklassige Volksschule besucht hatte, verfügte er über alle Kenntnisse und Fähigkeiten, die er für ein erfolgreiches Leben brauchte. Er war der geborene Redner, energiegeladen, vernunftbegabt und weitbli143


ckend. Die politischen Ereignisse seiner Zeit schätzte er mit seinem messerscharfen Verstand von Anfang an realistisch ein. Als Klerikaler lehnte er den Nationalsozialismus zutiefst ab, richtete seine wirtschaftlichen Entscheidungen aber trotzdem an den politischen Gegebenheiten aus: Er wusste, dass in schweren Zeiten Grund und Boden das einzige war, was zählte. So kaufte er noch kurz vor Ausbruch des Krieges eine Wirtschaft in St. Ruprecht an der Raab. Er war nicht nur der geborene Unternehmer, sondern auch für die erweiterte Familie Helfer in allen Nöten. Immer wieder half er einem seiner Brüder aus einer Notlage. Kinder liebte er. Unser Hof war ständig von Heerscharen von Nachbarskindern belagert, die ihm nie im Weg waren. Mein Vater war neben seinem politischen Engagement von ganzem Herzen Bauer und Viehzüchter. Immer wieder sagte er, dass er, hätte er noch einmal die Wahlmöglichkeit, immer wieder denselben Beruf ergreifen würde.

— Herbert: Meine Mutter Meine Mutter war sehr ausgeglichen, eine gute Zuhörerin. Sie war freundlich zu den Leuten, aber ernst. Das gekünstelte Lachen war ihre Sache nicht. Sie wurde allgemein geschätzt, und die Leute hatten Respekt vor ihr. Zu uns Kindern war sie gut, wenn ihr auch die Hand locker saß. Man musste sich schon in Acht nehmen, dass man nicht ein paar ausfasste – aber nie ins Gesicht. Wenn es arg war, konnte sie schon einmal zum Kochlöffel greifen. Sie klagte und stöhnte nie über die viele Arbeit. Jahrelang trug sie den Most in der schweren Holzpitsche – 16 Liter fasste die – über 144


die steile Kellerstiege nach oben. Insgesamt müssen es zig tausend Liter gewesen sein. In den knapp 60 Jahren, die sie in der Steiermark verbrachte, besuchte sie ungefähr alle zehn Jahre ihre alte Heimat, nach der sie immer Sehnsucht hatte. Nach dem Tod meines Bruders Helmut ging sie unzählige Male auf sein Grab und richtete es schön. Im Alter sagte sie oft, dass sie Helmut, wenn sie es könnte, nicht mehr zurückholen würde – wer wisse schon, was ihm erspart geblieben sei. Gegen Sonntagsausflüge – besonders mit meinem Vater – hatte sie nichts einzuwenden. Dazu meinte sie öfter, ein Ausflug ohne Einkehren sei kein Ausflug. 1939, im letzten Abdruck vor dem Krieg, bekam sie ein eigenes Fahrrad. Es war ein Rad der Marke Steyr, sehr schön, mit Netz, mit dem sie ein „mords Heil“ hatte. Sie fuhr damit immer zur Frühmesse in die Stadtkirche. Einmal besuchte sie uns mit dem Rad auf dem Feld beim Heuen. 1944 fuhren Mama und Papa mit dem Rad nach Marein, um Familie Sojer aufzusuchen, und 1945 statteten Mama und ich unseren Schweizerleuten in Schloss Graschnitz einen Besuch ab. Solche Ausflüge waren damals Ereignisse, die sich tief in die Erinnerung eingruben.

— Herbert: Mein Vater Mein Vater war geprägt von seiner Position in der Herkunftsfamilie. Er wusste schon früh, dass er sich seine eigene Existenz würde schaffen müssen. Dabei kamen ihm seine Grundkenntnisse in der Vieh- und Milchwirtschaft zugute, die in der Zeit seiner Jugend in Vorarlberg ja schon viel fortschrittlicher war als in der Steiermark. 145


Er hatte einen scharfen praktischen Verstand und konnte auch größere Zusammenhänge überblicken. Die Leute hatte Respekt vor ihm, auch die Dienstboten. Er drückte sich nicht vor der schweren Arbeit und war sehr genau. Besonders wichtig war ihm, seine Zahlungen pünktlich zu leisten und alles bis ins Letzte zu verwerten. Der Sonntag war ihm heilig: An diesem Tag wurde – außer im Stall – nur in Ausnahmefällen gearbeitet. An Sonntagnachmittagen, wenn im Stall alles ruhig war, sah man ihn oft eine Stunde und länger den Gang auf und abgehen und nachdenken. Er liebte die Musik und besaß eine Mundharmonika, die er an den Abenden gern hervorzog. In jungen Jahren war er auch Mitglied der Schuhplattler in Göß bei Leoben. Im Sommer, wenn sich die Arbeit staute, war er nervös, im Winter hingegen ruhig und gemütlich. Griff ihn jemand an, wurde er zum Kämpfer. Er hasste Ungerechtigkeit und ließ sich nichts gefallen. Wenn Besuch aus der vorarlbergerischen Verwandtschaft angesagt war, freute er sich sehr. Auch gegen Ausflüge mit dem Auto und die damit verbundene Einkehr hatte er nichts einzuwenden. Zu uns Kindern war er gut. Nur selten – sehr selten – rutschte ihm die Hand aus. Er machte auch Ausflüge mit uns. Ich erinnere mich, dass er mit meinem Bruder Helmut und mir am Pfingst146


montag des Jahres 1944 mit dem Fahrrad in die Fölz fuhr, wo wir Familie Greitner besuchten. In der Vorkriegszeit und auch danach fand er besonderes Vergnügen daran, nach Tirol zu fahren, um auf den Viehmärkten Kühe zu kaufen. •

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Das Leben ist doch mehr als nur Arbeit Richard erzählt: — Sprachprobleme Als ich nach Kapfenberg kam, war ich ein kleiner Bub von fünf Jahren. Zuhause redeten wir vorarlbergerisch, und die steirischen Kinder verstanden mich nicht. Sie sagten zu mir: „Mei, red´st du schiach!“ Wir sagten zum Kaffeehäferl zum Beispiel „Beckele“, ein Zuckerl war ein „Kömmle“ und so weiter. Auch unser Essen rief Verwunderung hervor. „Was isst du denn da? Türkensterznockerln?“ Mama hatte „Hafaloab“ gemacht, na—Türkensterznockerln halt nach ihrer Meinung. Das waren große Nocken aus Kukuruz, die im Fett vom Schweinsbraten herausgebraten wurden, bis sie eine Kruste bekamen. Die Steirerbuben kannten so etwas nicht.

— Einlieger In jeder Gemeinde gab es sogenannte Einlieger. Das waren die alten Bauernknechte, wenn sie arbeitsunfähig waren. Damit sie nicht der Gemeinde zur Last fielen, wurden sie auf verschiedene Bauernhöfe aufgeteilt. Der eine musste sie 14 Tage behalten, der andere drei Wochen. Ob sie etwas zu essen bekamen, wurde aber nicht kontrolliert. Einer dieser Einlieger, die uns zugeteilt wurden, hieß Benedikt. Manchmal kamen Kollegen und fragten nach ihm: „Is der Diktl nix da?“ Der Diktl…! Der hatte Schuhe… man kann sich nicht vorstellen, wie oft diese Schuhe geflickt wurden, wie die Sohlen ausschauten, und oben… Ein Wunder, dass sie überhaupt am Fuß hielten. 148


— Schnellfeuerhosen Nebenan, ebenfalls als Pächter, wohnte eine Familie mit 14 Kindern auf Zimmer, Küche, Kabinett. Jeweils vier Kinder mussten sich ein Bett teilen. Da lagen sie wie die Sardinen, zwei kreuz und zwei quer. So wurde ihnen nicht kalt! Matratzen gab es nicht, sie mussten sich mit Strohsäcken behelfen. Zu Mittag war die Ausspeisung. Die Mutter stand am Herd und teilte das Essen aus. Jedes Kind hatte eine Schale und einen Löffel, und damit fassten sie die Verpflegung aus. Kraut, Knödel, Erdäpfel... Fleisch bekamen sie eher selten zu sehen. In der Küche fanden nicht alle Platz. Nachdem sie sich ihre Ration geholt hatten, schwärmten sie mit der Schale in der Hand aus – ein paar auf die Stiege, ein paar in den Garten, andere auf den Misthaufen, zumindest im Sommer. Praktischerweise hatten sie eine sogenannte „Leib-und-Seel-Hose“ an, auch „Schnellfeuerhose“ genannt, durch die sie das, was oben hinein kam, ohne viel Scherereien nach unten hin wieder abgeben konnten. Jedenfalls boten sie ein buntes Bild, wie sie da in der Landschaft verteilt ihr Mittagessen löffelten. Die Frau des Verwalters, eine Sudetendeutsche, die auf sich hielt, verklebte ihr Fenster, das Blick auf die Wohnung der Familie bot, mit Zeitungspapier. Sie sagte, sie könne es nicht mit ansehen, wie es bei denen zuginge. „Nix Kultura!“, meinte sie indigniert.

— Nicht jede Schottergrube ist eine Goldgrube Es gab noch einen weiteren Pächter, einen Gärtner, der starker Alkoholiker war. Auch er hatte viele Kinder. Die Familie kam aus Leibnitz in der Südsteiermark. Alle Mitglieder dieser Familie schauten ein bisschen zu tief ins Glas. Einmal ging der Pfarrer, der seinerseits auch gern einmal einspritzte, unter ihrem Fenster 149


vorbei. Da schrie die Alte vom ersten Stock herunter: „Na Pfarrer, woast scho wieder saufen?“ Darauf er: „Hoid die Goschn, du oide Schodagruam!“ Weil sie so viele Nierensteine hatte.

— Morgenstund hat Gold im Mund Derselbe Gärtner hatte zwei Lehrbuben. Er schlief im ersten Stock, die Buben unten. Der Gärtner, der sich ungern bewegte, war ein findiger Mann. Er bohrte oben im ersten Stock ein Loch durch die Decke, durch das er einen Strick hinunter ließ, an dem er eine Kuhglocke befestigt hatte. Wenn bei ihm oben um vier der Wecker rasselte, riss er an dem Strick, und unten bimmelte die Kuhglocke. Das war das Signal für die Buben: Raus aus den Federn! Vor den Leuten, die Pflanzen kaufen kamen, stellte er sie immer her: „Na, ihr Lausbuben, habt ihr euch schon wieder nicht gewaschen heute?“ Dann mussten sie sich draußen, wo der Kirschbaum war, beim Brunntrog vor allen Leuten waschen.

— Die Kuh, die durch das Fenster sprang Im Jahr 1934 brannte bei unserem Onkel Gottfried im Mürztal der Stadel ab, und das nicht zum ersten Mal. Schon zwei Jahre davor war der Stall ein Raub der Flammen geworden, aber damals hatte man ihn gleich wieder aufgebaut. 1934 ereignete sich dann noch einmal dieselbe Katastrophe. Jedenfalls bat uns Onkel Gottfried, seine Kühe bei uns unterzubringen, weil er selbst keinen Platz mehr für sie hatte. Mein Vater half seinen Geschwistern immer gern aus und natürlich nahmen wir ihm ein paar Tiere ab, vielleicht vier oder fünf. Eine dieser Kühe hieß Trudi. Sie war eine gute Kuh, die damals schon 25 Liter 150


Milch gab. Das muss man sich vorstellen, nur von Gras und Wasser, die Tiere bekamen ja sonst nichts, kein Kraftfutter. Trudi fühlte sich von Anfang an nicht wohl bei uns, sie war unruhig und scheu. Wahrscheinlich wünschte sie sich in ihren eigenen Stall zurück. Die Knechte passten auf die fremden Tiere immer besonders gut auf. Nachdem sie die Kühe in den Stall hineingelassen hatten, machten sie sofort die Tore zu. Dann hängten sie sie der Reihe nach an. Eines Tages, die Kühe sind schon alle im Stall, rennt die Trudi auf einmal davon, den Mistgang entlang, und springt beim offenen Fenster hinaus. Gelenkig wie ein Hirsch! Die Kuh springt also hinaus, galoppiert hinunter durch den Schlosshof, beim Durchgang hinaus, auf die Straße. Das wäre für sich schon eine kleine Sensation, aber genau in diesem Augenblick kommt auch noch ein Auto daher. Dass so etwas passieren konnte, damals im 34er Jahr, wo es ja fast keine Autos gab! Dieses Auto – ein eleganter Bentley – fuhr vom Stadtzentrum in Richtung Mürztal hinauf. Die Kuh machte einen Hupfer, hinauf aufs Auto, und hing dann oben auf dem Wagen wie eine Knackwurst. Vorn am Kühler, auf der Motorhaube. So fuhr sie mit, bis das Auto zum Stehen kam. Mein Vater saß währenddessen ahnungslos am Küchentisch und jausnete. Plötzlich stürmte ein Mann zur Küchentür herein. Er trug einen weißen Mantel, rot gesprenkelt mit Blutflecken. Wie sich herausstellte, war es der Apotheker vom Semmering. Er hatte sich die Finger aufgeschnitten, als Windschutzscheibe bei dem Unfall zerbrach. „Sind Sie der Besitzer dieser Rinder?“ fuhr diese seltsame Erscheinung meinen Vater an. „Ja – warum, was ist denn los?“ „Na schauen Sie mich an, wie ich aussehe!“ zischte er ganz 151


empört. „Was Ihre Kuh gemacht hat! Sie müssen für den ganzen Schaden aufkommen!“ Papa war ganz verblüfft: „Was ist denn passiert, ich weiß ja gar nichts?“ Also ging er hinaus in den Stall, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Da stand schon ein verdutzter Knecht, der ihm erzählte: „Ja, die Trudi ist beim Fenster hinaus gesprungen!“ Gleich setzten sich einige Knechte in Bewegung und trieben die Ausreißerin wieder in den Stall zurück. Mein Vater holte danach den Tierarzt, der die Kuh untersuchte. Wie durch ein Wunder hatte sie nur eine Schramme an der Seite abbekommen, sonst fehlte ihr nichts. Zum Glück hatte einer der Mieter in Schloss Wieden den Unfall beobachtet und erklärte uns, aus dem Fenster gebeugt, unaufgefordert: „Der Autofahrer war ja viel zu schnell unterwegs!“

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Es folgten einige Verhandlungen. Mein Vater beauftragte einen Rechtsanwalt. Unser Problem war, dass wir damals keine Haftpflichtversicherung hatten. Das Unfallauto wurde sofort nach Wiener Neustadt überstellt, denn dort gab es eine Bentley-Vertragswerkstätte. Dann kam der eigentliche Prozess – drei Verhandlungen. Unser Zeuge wurde gefragt, wie er denn behaupten könne, dass der Autofahrer zu schnell unterwegs gewesen sei. Er wurde auf die Probe gestellt: Wie schnell fährt ein Schnellzug? Seine Antwort: Naja, ca. 80, 90! Und ein Personenzug? So 50, 60, meinte er. Und ein Lastenzug? Ungefähr 40, 50! Also mussten sie ihn ernst nehmen, weil er offenbar Geschwindigkeiten einschätzen konnte. Die letzte Verhandlung fand bei uns an vor Ort statt, ein Lokalaugenschein. Der Richter, die Gerichtskommission, die Sachverständigen, alle waren da. Außerdem noch Schreibpersonal, wie es halt ist bei einer Verhandlung. Im Stall sahen sie sich alles an und rekonstruierten den Ablauf. Und dann sprach der Richter, gleich dort, neben den Kühen, das Urteil: „Dem Besitzer des Rindes kann keine Fahrlässigkeit nachgewiesen werden! Die Türen waren verschlossen, und dass eine Kuh aus dem Fenster springt, das war noch nie da!“ Damit waren wir freigesprochen. Der Apotheker musste alles zahlen. Die Gerichtskosten, die Reparatur seines Autos… ja, die Kuh nicht, denn der fehlte zum Glück nichts. Und der Tierarzt stellte für die kleine Schramme keine Rechnung. Ich muss schon sagen, wir hatten damals großes Glück. Wäre der Prozess anders ausgegangen, hätten wir vielleicht zehn oder fünfzehn Kühe verkaufen müssen. Eine Kuh kostete zu dieser Zeit rund 500 Schilling, das hätten wir nicht leicht gestemmt.

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— Der Scheiß-Elektra Unser Onkel Johann vom Niederschöckel, einer von Papas Brüdern, hatte sieben Kinder. Die Jüngste, Rosi, ein fesches Mädchen, hätte auf einen großen Bauernhof einheiraten können. Sie fühlte sich aber nicht wohl dabei, weil ihr die Aussteuer, die sie von zu Hause bekam, als zu gering erschien. Mit einem so dünnen Konto traute sie sich nicht auf den großen Hof. Später bewarb sich ein Sudetendeutscher um sie. Der erschien dem Onkel aber viel zu wenig. Weil er kein Bauer war, sondern „nur“ Elektriker. Er besaß keinen Grund und Boden, und darauf kam es an. Wer kein Bauer war, der hatte nichts! Das war damals die gängige Meinung. „Ah, der Scheiß-Elektra!“ pflegte der Onkel mit einer wegwerfenden Handbewegung zu sagen, wenn von dem Bewerber die Rede war. Dabei war er Elektrikermeister! Rosi heiratete ihn trotzdem, und es ging ihr gut mit ihm. Als Elektrikergattin musste sie längst nicht so viel arbeiten wie auf einem Bauernhof!

— Reinlich muss man sein! In der Hitlerzeit wurden die Schulbuben dazu angehalten, sich nützlich zu machen. So musste ich einer Bewohnerin von Schloss Wieden Kohlen bringen von der Kohlenrutsche. Also klopfte ich bei ihr an. Sie war ein dunkelhäutiges, verhutzeltes Weibchen, ganz schwarz im Gesicht. Mit dem Wasser ging sie anscheinend eher sparsam um. „Grüß Gott“, sagte ich. „Habt ihr vielleicht Jutesäcke?“ „Jaja“, antwortete sie, „ich hab schon welche!“ Die Säcke hingen neben ihrem Bett über einer Kommode. Oben drauf hatten es sich ein paar Hühner bequem gemacht, die sie in der Wohnung hielt. Jetzt sah die Frau des Hauses, dass Hühnerdreck auf den Säcken klebte. Sie hinüber, packt ein Küchenmesser und 154


schabt mit der Bemerkung: „Reinlich muss man sein!“ die Häufchen feinsäuberlich von den Säcken.

— Mei Greterl, de fliagt wia a Geier! Auch andere Parteien im Schloss hielten Federvieh in den Wohnungen. Stubenküken sozusagen! Eine Bewohnerin hielt große Stücke auf ihre Hühner, die alle einen Namen trugen: „Mei Greterl“, pflegte sie mit stolzgeschwellter Brust zu sagen: „Mei Greterl! De fliagt wia a Geier!“

— Fix gemolken Einmal hatten wir einen Melker (oder wie man damals in Österreich sagte, einen „Schweizer“) namens Karl Gierke. Er kam aus Ostdeutschland und war eine Zeitlang bei den Briten gewesen. Da er nicht nach Hause konnte, arbeitete er ein Jahr lang bei uns. Er pflegte zu sagen: „Das ging mal fix!“ Deshalb riefen wir ihn Fix. Er hatte immer Freundinnen, die er heimlich mit Milch versorgte. Eines Morgens, bevor er abreiste, kam ich in den Stall zum Melken. Als Traudl und Trudl – normalerweise verlässliche Milchspenderinnen – an der Reihe waren, musste ich feststellen, dass ihre Euter leer waren. Der Fix war beim Fenster hereingestiegen und hatte sie ausgemolken! Er kannte sie ja. Er nahm die, die leicht zu melken waren und viel Milch hatten. Ein paar Mal ging das so. Immer die leeren Euter in der Früh! Am Abend gaben sie wieder normal Milch. Ich dachte mir: „Sind sie krank oder was?“ Dass es gerade die zwei waren, die keine Milch gaben, das war schon auffällig. Also beschlossen Papa und ich, einmal in der Früh im Stall zu warten. Wir setzten uns 155


links und rechts vom Fenster auf den Boden, damit er uns nicht sah. Dann warteten wir und warteten. Der Mond schien zum Fenster herein... Aber wir warteten vergeblich auf den Fix. Unser Knecht Peperl hatte ihm offensichtlich schon gesteckt, dass er nicht mehr zu kommen brauchte. Doch auf einmal hörte ich etwas. Als ich beim Fenster hinausschaute, erkannte ich eine Frau aus dem Schloss, die gerade Prügel aus unserem Holzstoß riss. Stibitzte, könnte man auch sagen. So rief ich zum Fenster hinaus: „Morgen, Frau Nachbarin!“ Um halb zwei in der Früh. Aber schlagfertig war sie. „Die Prügel hab ich gestern Nacht zum Holzstoß dazu gelehnt“, erklärte sie. Wenn diese Schlossbewohnerin mit anderen im Schlosshof zum Streiten kam und sie ihren Wortschatz ausgeschöpft hatte, drehte sie sich einfach um, hob den Rock und zeigte ihrem Gegenüber das, was darunter war – eine Unterhose jedenfalls nicht. •

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Unsere Familie Familienbewusstsein ist einer der Werte, die wir von unseren Eltern mitbekommen haben. Sie haben die Großfamilie zusammengehalten, und wir „Kinder" – keines jünger als 80 – führen diese Tradition fort. Vor allem aber sind wir unendlich froh und glücklich, einander zu haben. Fast täglich führen wir Gespräche, besuchen einander und tauschen uns über unsere Freuden und Leiden aus. Mit diesem Buch haben wir jetzt kleine Ausschnitte unseres Lebens, die sich doch zu einem wunderbaren Ganzen fügen, vor uns liegen. Wir sind froh und dankbar, gemeinsam zurückblicken zu können, und hoffen, dass wir einander noch möglichst lange erhalten bleiben! Richard Sieber, Hedwig Weinhandl, Herbert Sieber Dezember 2013 158



— Impressum

„Eine Vorarlberger Familie in Kapfenberg – Die Sieber-Geschwister“

Herausgeber schreib-mein-leben www.schreib-mein-leben.at

Autorinnen Regina Berger und Annemarie Pumpernig

Gestaltung und Layout D M B O - Studio für Gestaltung www.dmbo.de

Dezember 2013




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