Bayerischer Monatsspiegel #150

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TÜRKEI & EUROPA ten und des Außenministers – um nur einige zu nennen. Eine einflussreiche Journalistin tritt so vor die Fernsehkameras. Und immer häufiger sieht man diese Tücher auch hinter den dunklen Scheiben teurer Autos in den noblen Einkaufs­straßen Istanbuls – auf der Fahrerseite. Kein Wunder, dass es da den alteingesessenen Eliten in Staat und Wirtschaft mulmig wird. Übrigens auch den dort zahlreich vertretenen weiblichen Führungskräften.

Tradition: Wie baue ich mir einen Nationalstaat? Da schaut so mancher wohl sicherheitshalber nach, ob das Atatürk-Bild im Büro oder im Laden noch fest an der Wand hängt. Kein öffentliches Gebäude, kein Geschäftsraum, ja kein größerer Platz ist denkbar ohne eine bildliche Darstellung des Vaters aller Türken. Auf ihn berufen sie sich, wenn sie das Kopftuch verbieten und die derzeitige Regierungspartei, die das in Frage stellt, gleich mit dazu verbieten lassen wollen. Auf sechs Pfeiler hat Mustafa Kemal, genannt Atatürk der glorreiche Heeresführer, seinen Staat gestellt. Und wer auch nur an einem davon ernsthaft rüttelt, den trifft die volle Wucht eben dieses Staates. Heute sehen die „Kemalisten“ vor allem den Laizismus bedroht. Radikal hatte Mustafa Kemal nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches Staat und Religion getrennt und die Gesellschaft säkularisiert. Der Islam wurde in den privaten Bereich zurückgedrängt, zur Kontrolle der Religion sogar eine eigene Behörde eingerichtet. Und damit diese Kontrolle auch wirklich gelingt, hat man den Klerus entweder verboten (wie die islamischen Orden) oder verbeamtet (wie die Gemeindevorsteher und Vorbeter, die Imame). Einem überzeugtem Kemalisten ist auch heute noch allein schon die Vorstellung, dass sich die Religion wieder ins politische Leben einmischen könnte, ein Grauen. Doch die modernen islamistischen Strömungen in der Türkei sehen genau das als ihre Pflicht an. Mindestens eben so wichtig wie das Atatürk-Bild sind für jeden wahren Türken die nationalen Symbole: die Fahne, Halbmond und Stern, die Hymne, die Nationalfarben rot und weiß. Auch heute noch gilt mit aller Konsequenz: Ein Türke ist ein Türke – nicht etwa ein Kurde, ein Grieche oder ein Armenier mit türkischer Staatsangehörigkeit. Wer das anders sieht, wird verfolgt – von der Justiz, der Polizei oder schlimmstenfalls von einem fanatischen Killer. Rigoros ist über die Jahrzehnte versucht worden, aus dem Vielvölkergemisch Kleinasiens ein homogenes Staatsvolk zu formen. Die Einen sehen darin ein politisches Verbrechen, die anderen eine politische Meisterleistung.

Nachbarn: Es war nicht alles schlecht, damals unterm Sultan Wenn ich die türkischen Medien auswerte, sehe ich, dass neben der Auseinandersetzung zwischen Laizisten und Religiösen, zwischen Nationalisten (die sich selbst als Patrioten sehen) und ethnischen Pluralisten noch ein dritter Konflikt die Politik in

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der Türkei bestimmt. Es ist zugegeben einer, für den sich nur die sogenannte politische Klasse besonders interessiert – aber er ist für unser Thema nicht uninteressant: Für Mustafa Kemal Atatürk kam das Licht aus dem Westen. Dort waren die Länder, an denen sich seine Türkei orientieren sollte. Im kalten Krieg bekam diese Westbindung 2 Namen: NATO und Europa. Noch heute schwärmen ältere Istanbuler Rechtsanwälte, Journalisten oder Mediziner von den goldenen Jahren, als in der Stadt JazzClubs aufmachten und man die neuesten Schallplatten von Glen Miller oder Miles Davis – je nach Geschmack – kaufen konnte. Die Wenigen, die ein Auto besaßen, fuhren einen amerikanischen Straßenkreuzer, am Stadtrand errichtete Hilton das erste Hotel nach amerikanischem Stil und eine wasserstoffblonde Melina Mercouri im französischen Kostüm zeigte der Istanbuler Kemal Atatürk, der Vater der heutigen Türkei. Geboren als Mustafa Ali Riza im heutigen Thessaloniki. Er wollte die Türkei an Europa heranführen. Er ließ in der Verfassung 6 Prinzipien festschreiben: Nationalismus, Sekularismus, Modernismus, Republikanismus, Populismus und Etatismus. 1928 erließ er die Umstellung von der arabischen Schrift auf die lateinischen Buchstaben. Er starb am 10. 11. 1938 in Istanbul. Auf Muhammed, dem Gründer des Islams, war Kemal Atatürk angeblich gar nicht gut zu sprechen.

Männerwelt wozu levantinisches Temperament fähig ist. Es war eine wohl geordnete Zeit: In Istanbul wurden Geschäfte gemacht, in Ankara regiert und in Izmir rollten Güter aller Art in den Hafen. Wenn es mal ein politisch nicht lösbares Problem gab, dann putschte das Militär. War das Problem erledigt, fuhren die Panzer zurück in die Kasernen. Der kleine Mann auf der Straße musste schauen, wo er blieb – und wenn er gar nicht mehr weiter wusste, dann konnte er ja immer noch als Gastarbeiter nach Deutschland gehen. Die Türkei wurde NATO-Mitglied, Mitglied im Europarat und assoziiertes Mitglied der EU. Und dann implodierte die Sowjet­ union samt Warschauer Pakt. Der Blick der Türkei ist nicht mehr nur nach Westen gerichtet, sondern auch nach Süden, in den arabischen Raum, nach Osten zu den brüderlichen Turkvölkern und nach Norden, nach Russland. Das türkische Parlament verweigerte 2003 den US-Truppen den Durchmarsch in den Irak – die USA revanchieren sich durch den Aufbau eines teilautonomen kurdischen Staates in Nordirak. Erdo˘gan war Ehrengast bei der Amtseinführung des neuen libanesischen Präsidenten, seine Besuche in Aserbei­ dschan lassen sich fast nicht mehr zählen und gerade in diesen Monaten führen Israel und Syrien Geheimgespräche unter türkischer Vermittlung – in Istanbul. In Istanbul und nicht in Ankara. Und wieder zuckt der aufrechte Kemalist zusammen. War es doch eine große symbolische Geste gewesen, den alten osmanischen Regierungssitz aufzugeben, sich von den Traditionen des islamischen Vielvölkerreiches auch räumlich

Bayerischer Monatsspiegel 150_2008


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