Bayerischer Monatsspiegel #150

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TÜRKEI & EUROPA seit 1980, trotz regelmäßiger wirtschaftlicher Krisen. Die letzte große Krise liegt allerdings schon sieben Jahre zurück. Seither bemühen sich IWF, Weltbank und türkische Regierung erfolgreich, die einst berüchtigte ökonomische Achterbahn zu verschrotten und durch einen ordentlichen Zug zu ersetzen, der sich an Fahrpläne hält. Gut zu verstehen also, dass die wirtschaftlichen Eliten in der EU wie in der Türkei von einem gemeinsamen Markt für Güter und Arbeit träumen: Die einen sehen die enormen Absatzchancen ihrer Produkte, die anderen das Aufnahmepotential für ihre jungen Arbeitskräfte. Bei so viel Verlockung darf man jedoch den nüchternen Blick nicht verlieren. Das türkische Wachstum erfolgt auf niedrigem Niveau und es konzentriert sich auf die Ballungszentren – allen voran die Metropole Istanbul. Dazu nur zwei Zahlen: Selbst in der pulsierenden Stadt am Bosporus erreicht das durchschnittliche Einkommen nur 40 Prozent der 15 „alten“ EU-Staaten. Im Osten der Türkei liegt es bei nur etwa sieben Prozent. Wie wohl nicht anders zu erwarten: Die soziologische Verteilung dieses Einkommens ist sehr ungleich. In der Türkei ist man entweder sehr arm, arm oder reich. Auch die Bildungschancen sind gesellschaftlich wie regional höchst unterschiedlich verteilt. Noch heute zählt man unter den Frauen etwa 20 Prozent Analphabetinnen, noch heute halten es viele türkische Familienpatriarchen für überflüssige Geldverschwendung, wenn die Töchter zur Schule gehen. Immerhin – die meisten Türken kommen mit etwas Glück und Hilfe ihrer Familie so einigermaßen über die Runden und sind damit zufrieden. Für die Männer ist vor allem wichtig, dass ihr Fußballverein nicht schlecht dasteht – und ihre Frauen besprechen mit Vorliebe die bunten Fotogeschichten über Istanbuls Superreiche in den wöchentlichen Klatschmagazinen.

Gesellschaft: Bei meiner Ehre – „Kopftuch“ gegen Chanel Es war wieder eine erfolgreiche Sommersaison an der Mittelmeerküste zwischen Izmir und Antalya. Die Flugzeuge aus Manchaster, Düsseldorf und Moskau spucken Urlauber aus, die vor allen eines wollen: Ein preiswertes Paket aus Sonne, Spaß, einem schönen Bett und viel zu essen. Die geschäftstüchtigen und gastfreundlichen Türken schnüren dieses Paket perfekt zusammen. Aus dem Norden und Osten des Landes strömen Saison­arbeiter herbei. Wer es schafft, arbeitet in einem Hotel, sonst bleiben noch Kneipen, Geschäfte, Taxis und die vielen einfachen Dienstleistungen, die eine solche Urlaubsmaschine braucht. Diese Arbeitskräfte sind zum größten Teil männlich. Natürlich gibt es auch die qualifizierten Tätigkeiten im Tourismus: Fremdenführer, Organisatoren, alle mehrsprachig und weltgewandt. Aber ich spreche von der großen Masse. Diese Männer be­ treten für einige Monate einen fremden Planeten. Zu Hause, in dem Dorf herrscht der überlieferte Wertekanon aus Familienehre, Respekt den Älteren gegenüber, Achtung vor dem Imam. In der künstlichen Welt der Mittelmeerküste gelten andere Regeln: Geschäfte machen, solange die Fremden da sind – und staunen, wie die sich so geben, was die so alles treiben. Ganz besonders die Frauen.

Bayerischer Monatsspiegel 150_2008

Peter Althammer M.A., Seit 1987 Redakteur beim Bayerischen Rundfunk/Fernsehen im Bereich Politik (Landesberichterstattung, Innenpolitik, Ausland). Seit April 2005 ARD-Korrespondent in Istanbul

Nach über drei Jahren in der Türkei weiß ich, dass in den ländlichen Gebieten und in den einfachen Vierteln der Städte das alte Muster immer noch funktioniert: Der öffentliche Raum ist der Platz des Mannes, das Haus der Platz der Frau. Und wenn eine Frau nach draußen geht, dann hat sie sich so zu verhalten und zu kleiden, dass sie nicht die begehrlichen Blicke fremder Männer auf sich zieht. Ein Kellner mag der kurz behosten Urlauberin höflich den Tee servieren – was in seinem Kopf vorgeht, ist eine andere Sache. Andererseits gibt es auch sie: die erfolgreichen türkischen Frauen, die sich ein Leben, eine Karriere außerhalb der eigenen vier Wände aufgebaut haben. Dahinter stehen meist zwei typische Biographien: Entweder lebten die Eltern bereits auf die „moderne Art“, betrachten Bildung und Berufsausbildung einer Tochter nicht als moralisches Risiko, sondern als Werte, die es zu fördern gilt oder es war ein schmerzhafter Weg, den diese Frauen gehen mussten. Nicht selten um den Preis des Zerwürfnisses mit der eigenen Familie. Nur vor diesem Hintergrund versteht man, welcher Kulturkampf sich hinter dem Streit um das Kopftuch verbirgt. Wobei es das „das Kopftuch“ in der Türkei gar nicht gibt. Es gibt zwei völlig unterschiedliche Arten, sein Haar zu bedecken. Da ist einmal das traditionelle Tuch. Seit Generationen tragen es die Frauen auf dem Land. Auch in der Stadt tragen Frauen bei einfachen Tätigkeiten dieses Tuch – etwa Zugehfrauen oder Küchenhilfen. Es ist das Symbol der bodenständigen, ungebildeten Frau. Es sagt: Ich ordne mich unten ein in dieser Gesellschaft, habe keinen großen Ambitionen, halte mich an die überlieferten Lebensweisen und widersetze mich weder der Männerwelt noch der Staatsmacht. Seit einigen Jahren, seit dem Aufkommen des politischen Islamismus, gibt es aber auch den sogenannten „Türban“. Und an ihm entzündet sich der Streit. Dieses Kopftuch ist streng um Gesicht und Hals gebunden, es verleiht der Trägerin eine fast maskenhafte Mimik. Eine Frau, die so ein Tuch trägt, drückt etwas ganz anderes aus. Sie sagt: Ich halte mich nicht an eure Regeln. Ich verlange Teilhabe und lehne es ab, von der Gesellschaft vor die Wahl gestellt zu werden entweder ein frommes Leben im Privaten zu führen, oder mein Denken, mein Handeln, ja sogar meine Kleidung den sogenannten westlichen Werten und Normen anzupassen. Ich will nach den strengen Regeln des Islams leben und dennoch eine gute Bildung und einen guten Beruf. Ich will die Gesellschaft verändern. Meine Richtschnur ist dabei der Islam. Die Frau des Staatspräsidenten trägt so ein Tuch, die des Ministerpräsiden-

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