Bayerischer Monatsspiegel #150

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POLITIK & WIRTSCHAFT Aus dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes folgt eine Regelungs- und Gestaltungsauftrag für den Gesetzgeber, der ein Gebot des Ausgleichs der sozialen Gegensätze und der Schaffung einer gerechten Sozialordnung umfasst. Der Gesetzgeber ist also zu „sozialer Aktivität“ durch diese verfassungsrechtliche Staatszielbestimmung sowie insbesondere dazu verpflichtet, sich um einen Ausgleich der widerstreitenden Interessen, um die Herstellung erträglicher Lebensbedingungen für alle zu bemühen. Lassen Sie mich dies ein wenig präzisieren und auf drei Aspekte oder Dimensionen des Sozialstaatsprinzips ergänzend hinweisen. Der erste Punkt lässt sich mit dem Stichwort der „Generationengerechtigkeit“ oder man könnte allgemeiner auch sagen: mit der zeitlichen Dimension des Sozialstaatsprinzips, umreißen. Bislang wurden Fragen der sozialen Gerechtigkeit vor allem – zum Teil sogar ausschließlich – als Fragen des sozialen Ausgleichs in der Gegenwart angesehen; aktuelle Sicherungsbedürfnisse wurden aktuell befriedigt. Damit einher ging über Jahrzehnte ein gewaltiger Ausbau des Sozialstaats. Unsere Gesellschaft und mit ihr der Sozialstaat haben dabei aber schon seit langem über ihre Verhältnisse gelebt. Wenn deshalb heute die Erhaltung und die Finanzierung der sozialen Sicherungs­systeme zu einer erheblichen Last für unser Gemeinwesen geworden sind, so ist das nur die eine Seite des Problems. Die andere Seite ist, dass diese Last zunehmend den jüngeren Menschen aufgebürdet oder auf nachkommende Generationen verschoben wird. Der Sozialstaat wird sich deshalb künftig nicht mehr nur um einen sozialen Ausgleich in der Gegenwart bemühen müssen, sondern auch um eine angemessene Lastenverteilung zwischen den Generationen. Das zweite Problemfeld der Zukunft des Sozialstaats könnte man als die internationale Dimension des Sozialstaatsprinzips bezeichnen. Die zunehmende Ökonomisierung des Lebens und die gleichzeitige Globalisierung der wirtschaftlichen Beziehun­ gen haben in wenigen Jahrzehnten die Welt verändert. Es ist unbestreitbar, dass die grenzüberschreitende Freiheit der Wirt­schaft und des Handels große Vorteile, gerade auch für die Bürger unseres Landes, gebracht hat und immer noch bringt.

Die Globalisierung entmachtet die Staaten Aber auch die Schattenseiten dieser Entwicklung sind deutlich geworden. So gehört es zu einer mittlerweile alltäglichen Erfahrung, dass der Fortbestand eines Arbeitsplatzes im Inland davon abhängt, ob dasselbe Wirtschaftsgut dreihundert oder dreitausend Kilometer entfernt für die Hälfte oder für ein Zehntel der Lohnkosten produziert werden kann. Gleichzeitig werden eine partielle Entmachtung oder jedenfalls nicht unerhebliche Machteinbußen der Staaten beobachtet, die mit ihren beschränkten Handlungs- und Steuerungsmöglichkeiten einer international agierenden Wirtschafts- und Finanzwelt gegenüberstehen. Diese Einbußen an Steuerungskraft treffen den Staat vor allem als Sozialstaat. Denn während die Staaten einerseits auf der Ebene der Wirtschaft immer weiter „entgrenzt“ werden und immer mehr Zuständigkeiten und Einflussmöglichkeiten an supra- und

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internationale Organisationen abgeben, sind sie auf der anderen Seite weitgehend auf sich gestellt, wenn es um die soziale Sicherung ihrer Bürger geht. Der Sozialstaat läuft vor diesem Hintergrund zunehmend Gefahr, von einer aktiven und gestalterischen Rolle in eine defensive, reagierende Rolle gedrängt zu werden, in der er die sozialpolitischen „Kolateralschäden“ der Ökonomisierung und Globalisierung verwalten und halbwegs abmildern soll. Der Sozialstaat muss jedoch mehr sein: er muss die Werte, die Leitideen und den Zusammenhalt einer ganzen Gesellschaft verkörpern und zu verwirklichen suchen. Der dritte und letzte Punkt betrifft einen Aspekt, der mir besonders wichtig erscheint und den ich als die freiheitliche Dimension des Sozialstaatsprinzips bezeichne. Das Grundgesetz geht von der Eigenverantwortung und von der Selbstbestimmung des Menschen aus. An der Spitze unserer Verfassung stehen deshalb das Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Würde des Menschen und der Grundrechtekatalog mit seinen Gewährleistungen von Freiheits- und Menschenrechten. Auch die Funktion des Sozialstaats darf nicht losgelöst von dieser freiheitlichen Grundlage und Ausrichtung der Verfassung gesehen werden. Der Sozialstaat kann – und sollte – schon deshalb keine Vollversicherung und keinen fürsorgerischen Lebensplan bieten, weder für den Einzelnen noch für die Gesellschaft insgesamt. Der Sozialstaat muss dem Menschen vielmehr diejenigen elementaren Risiken abnehmen, die er allein nicht tragen kann. Aber der Sozialstaat muss zum Wohle des Einzelnen wie des Ganzen auch seine Grenzen erkennen. Eigenverantwortung und Sozialstaatlichkeit bilden kein Gegensatzpaar. Eigenverantwortung und Sozialstaatlichkeit verbinden sich vielmehr im Prinzip der Chancengleichheit. Das Prinzip der Chancengleichheit geht von der freien Entfaltung der Bürger aus und akzeptiert Unterschiede im beispielsweise beruflichen oder wirtschaftlichen Erfolg. Das Prinzip der Chancengleichheit erkennt aber auch an, dass Unterschiede im Erfolg nicht nur auf Unterschieden in der Leistung und in der Einsatzbereitschaft, sondern nicht selten auch auf unterschiedlichen Ausgangsbedingungen beruhen. Die Herstellung von Chancengleichheit zielt deshalb auf einen gewissen Ausgleich in den Voraussetzungen, die für einen späteren Erfolg besonders wichtig sind, z.B. Bildung und berufliche Ausbildung. Das Prinzip der Chancen­ gleichheit scheint mir jedenfalls diejenige Formel zu sein, die einem Sozialstaat auf freiheitlicher Grundlage am ehesten ent­spricht und die beide Grundwerte „Freiheit“ und „Gleichheit“ miteinander versöhnt.

5. Grundvertrauen in die Demokratie Mit diesem Vorhaben muss, wenn es gelingen soll, eine Er­ neuerung des Grundvertrauens in die Demokratie einhergehen. Auch unter den Bedingungen der Globalisierung ist die freiheitliche parlamentarische Demokratie diejenige Staatsform, die den Menschen die weitaus größten – und auch vielfach unterschätzten – Möglichkeiten gibt, auf ihr Lebensschicksal selbst Einfluss zu nehmen. Beides zusammen – die Bewältigung der Reformaufgaben und die Erneuerung der demokratischen Vertrauensgrundlage – ist schließlich auch der Weg, auf dem die innere Einheit Deutschlands vollendet und dauerhaft gesichert wird.

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