Semesterguide WS2014 15

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Semester guide 2014 /2015 Antifa Kritik & Klassen kampf FFM AKK





Inhaltsverzeichnis

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Interview zur Umbenennung

16 Warum die EZB? 27 Krise heißt Krank sein 30 Interview mit der Federación Estudiantil Libertaria 36 Geflüchtetenproteste in Frankfurt & Rhein-Main 40 IG Farben Campus, NorbertWollheim-Platz und die unsichtbaren Spuren 44 (Montags-) Querfront, Neue Rechte und linke Gegenstrategien 50 Riederwald

ViSdP: Andi G. Wehre, Bockenheimer Landstr. 1312, 60325 Frankfurt / Main www.akkffm.blogsport.de


Welcome, everybody! Wir sind’s wieder, Eure liebe, gute, alte… Antifa Kritik und Klassenkampf?! Ja, genau! Die Spatzen pfeifen es bereits von den Dächern: Die campusantifa hat einen neuen Namen und damit auf bedeutende Änderungen im Parteiprogramm reagiert. Um Euch die Gründe dafür näherzubringen – und weil es ziemlich viel Spaß macht – haben wir ein packendes Interview geführt. Mit uns selbst. Die Namensänderung bedeutet aber nicht – manche_r mag es befürchtet, andere_r gehofft haben – dass wir den Campus verlassen. Oh nein! Dort pfeifen die Spatzen seit ­einiger Zeit von nigelnagelneuen Straßenschildern, die einen Mann ehren, auf dessen Existenz bislang von Unileitung und Stadtpolitik eher mit Schweigen im Walde reagiert worden war. Es handelt sich sich um Norbert Wollheim. Was es mit ihm, dem IG-Farben-Gebäude und dem siegreichen Straßenschilderkampf auf sich hat, erfahrt ihr im Heft. 6


Den geringsten Stress mit interkontinentaler Migration haben wahrscheinlich Mauersegler und Mehlschwalben. Wer kein Vöglein ist und auch keine Flüglein hat, sondern unglücklicherweise als Mensch geboren ist und sein Zuhause in Richtung Europäische Union verlassen muss, hat dabei meist nicht nur Stress, sondern ein gehöriges Problem, leider auch nach der Ankunft. Lest dazu ein Interview mit einem Aktivisten von »Refugees for Change«. Neben diesen spannenden Themen zwitschert uns ein Außenkorres­ pondent von Hochschulprotesten aus dem fernen Madrid, Thomas ­Sablowski beschäftigt sich mit dem Star unter den Banken, der EZB, und wir haben einem Vortrag von Jutta Ditfurth über die Schwärme schräger Vögel gelauscht, die sich immer wieder montags auf den tristen Plätzen bundesdeutscher Städte zusammenfinden. Nun genug der albernen Vogelvergleiche, viel Spaß beim Brüten über dem Heft! herzlichst, eure antifa kritik & klassenkampf 7


Interview zur Umbenennung

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Die ehemalige campusantifa hat im Juni 2014 mit einem zweiseitigen Papier ihre Namensänderung in »Antifa Kritik und Klassenkampf« bekanntgegeben und begründet. Darin werden zum einen auf die Anfänge der Gruppe eingegangen, welche das Ziel hatte, antifaschistische Ideen und Organisation in die Hochschule hinein zutragen. Ihr schreibt jedoch auch, dass euch »die Konzentration auf dieses Politikfeld zu eng und eingeschränkt« war. Wie entstand dieser Sinneswandel? Um diese Frage zu beantworten, muss ich ein bisschen ausholen. Es ist so, dass wir einen langen Diskussionsprozess über unsere politische Strategie und in diesem Kontext eben auch Gruppennamen geführt haben. Die Hochschule war eigentlich nie unser einziges Betätigungsfeld, der alte Name war somit eigentlich nie ausreichend für unsere Politik. Er hat vielmehr teilweise sogar zu Verwirrungen geführt. Klar waren wir an der Uni viel aktiv, vor allem im Zuge der Bildungsstreiks 2009, und begreifen die Uni auch nach wie vor als ein wichtiges Feld unserer Politik, doch der Fokus hat sich einfach erweitert. Hierfür gaben unter anderem die Streiks und die politischen Massenmobilisierungen gegen die mit der Krise des Kapitals gerechtfertigten Spardiktate in Spanien, Griechenland, Portugal und anderen europäischen Staaten einen entscheidenden Impuls. Einerseits zeigten sie die Notwendigkeit, der drastischen Verschlechterung der Lebensbedingungen vieler Menschen in Europa eine solidarische europäische Vernetzung linksradikaler und linker Kräfte entgegen zu setzen. Andererseits rührte sich in der BRD kein wirkungsvoller politischer Widerstand. Diese Situation trug genauso wie die gemeinsame Arbeit im Frankfurter Krisenbündnis auf jeden Fall dazu bei, dass wir uns die Frage stellten: Wie kann eine wirkungsvolle, sozialrevolutionäre Bewegung auf die Beine gestellt werden? Und welche Rolle wollen und können wir dabei einnehmen? Mit den Netzwerken Blockupy und M31 wurde der Versuch eine europäische Vernetzung herzustellen ja schon gemacht. Diese wurde auch in Ansätzen verwirklicht, dennoch war uns bald klar, dass aus diesen beiden Großmobilisierungen kein anhaltender und wirkungsvoller Widerstand erwachsen würde, denn sie vernetzten nur die üblichen politischen Aktivist*innen und selbst diese nicht langfristig. Das ist uns nicht genug! Was waren erste Reaktionen auf euren neuen Namen? Die Reaktionen waren durchaus durchmischt. Von Ablehnung und 9


Unverständnis bis hin zu Lob für Name und Vorhaben der Gruppe war so ziemlich alles dabei, fast immer ging es dabei um den Klassenbegriff. Lob und Unverständnis basierten oft auf Missverständnissen. So denken die einen wir seien vollends durchgedreht und die anderen sie hätten uns endlich auch für ihren Kampf gewonnen. Uns war klar, dass wir mit diesem Begriff in vielen Bereichen nicht gerade eine Welle der Begeisterung auslösen würden. Das liegt offenbar daran, dass viele damit etwas verbinden, was wir gar nicht meinen. Aber eigentlich finden wir die Diskussionen darum ganz gut, sie sind ein Zeichen dafür, dass wir eine Auseinandersetzung mit dem Klassenbegriff in linksradikale Spektren hereingetragen haben, die zu großen Teilen glauben diesem keinen politischen Sinn mehr abgewinnen zu können. Das war auch eins unserer Ziele. Aber ganz ehrlich: Klassenkampf, ist das nicht veraltet? Wie dürfen wir uns das vorstellen – heißt das, dass die ehemalige campusantifa nun jeden Morgen vor den Werkstoren steht? Fragen dieser Art werden uns sehr häufig gestellt. Das hängt damit zusammen, dass mit dem Klassenbegriff oft eine bestimmte Vorstellung von Klasse verbunden wird. Diese verengt das Proletariat auf Industriearbeiter*innen. Dort wird behauptet, dass diese allein auf Grund ihrer Positionierung im Produktionsprozess ein revolutionäres Bewusstsein entwickelten. Der Antagonismus von Kapital und Arbeit treibe sie dazu, im Sinne eines revolutionären Automatismus, die Verhältnisse umzuwerfen. Als proletarische Klasse bezeichnen wir hingegen all diejenigen, die auf Grund ihres Ausschlusses vom gesellschaftlichen Reichtum und den Mitteln der Reproduktion, in weitesten Sinne von Lohn abhängig sind. Das schließt neben Menschen, die lohnarbeiten, bezahlte wie unbezahlte Care Arbeit Leistende, Menschen die staatliche Hilfe bekommen genauso wie große Teile der Studis, Schüler*innen und Auszubildenden ein. Durch ihre Stellung im Reproduktionsprozess des Kapitals gehören sie objekiv zur Klasse der Lohnabhängigen; daraus lässt sich aber nur wenig auf ihr Bewusstsein schließen. Von daher, um deine zweite Frage zuerst zu beantworten: Nein, wir werden den Industriearbeiter*innen nicht vor den Werkstoren auflauern, um ihnen Parteibücher oder das »richtige Argument« anzudrehen. Sie machen nur einen Teil der Menschen aus, die wir als Lohnabhängige begreifen. Klassenbewusstsein begreifen wir nicht als Block von Lehrsätzen, welcher von außen an das Proletariat herangetragen werden müsste. Vielmehr entsteht 10


dieses erst im gemeinsamen Kampf, in der Form eines an die Bedürfnisse der Lohnabhängigen anknüpfenden, parteiergreifenden Totalitätsbewusstseins. Das Kapitalverhältnis ist außerdem nicht das einzige bestehende Herrschaftsverhältnis. Es ist eng verwoben mit den aktuellen Formen von Rassismus und Sexismus, die zu seiner Reproduktion beitragen, indem sie bspw. gewaltvolle Ausgrenzung und Minderbezahlung legitimieren. Die zueinander in Konkurrenz gesetzten Lohnabhängigen machen sich nur allzu oft Ideologie und Herrschaftsmechanismen des Rassismus und des Sexismus zu eigen. Doch auch wenn die Lohnabhängigen nicht per Automatismus zur Revolution bestimmt sind, sie durch allgegenwärtige Konkurrenz eher vereinzeln als sich zusammenzuschließen, bleiben sie ein*e potentielle*r Träger*in sozialer Emanzipation. Der Gegensatz von Kapital und Lohnarbeit bleibt für die Gesellschaft grundlegend. Das macht die Orte an dem er ausgetragen wird zu einen Punkt für Widerstand und Organisierung – Dies entlang der eigenen Bedürfnisse und gegen das Kapital, dessen Verwertung die Reduktion der Bedürfnisse der Lohnabhängigen auf ein bloßes Anhängsel bedeutet. Klassenkampf bedeutet für uns in diesem Sinne den Versuch der Aneignung der materiellen, sozialen und zeitlichen Bedingungen der Produktion, Reproduktion und Bedürfnisbefriedigung. Praktisch ermöglicht der Begriff eine Klammer zwischen den verschiedenen Kämpfen in der Produktionsund Reproduktionssphäre herzustellen und gleichzeitig Theorie als bedürfniszentrierte, als materielle Gewalt in die Praxis zu überführen. Klassenkampf ist also alles andere als ein alter Hut, er bleibt wichtiges Praxisfeld für Linksradikale – bis diese Klassen­ gesellschaft abgeschafft ist. Was haltet ihr von Haupt- und Nebenwiderspruch? Rassismus und Sexismus sind eigenständige Herrschaftsverhältnisse. Hierfür ein Beispiel: Historisch betrachtet ist zumindest das Patriarchat älter als der Kapitalismus. Unter ihm hat es jedoch eine neue Form angenommen. Der Kapitalismus begünstigt den Fortbestand des Sexismus und umgekehrt. Mit der Trennung der unmittelbaren Produzent*innen von den Produktionsmitteln ist bereits die Trennung von Produktions- und Reproduktionssphäre sowie Lohn- und Carearbeit gesetzt. Diese Abspaltung von allem, was nur bedingt der kapitalistischen Produktion unterzuordnen ist, geht bis in das menschliche Gefühlsleben hinein. Das bedeutet aber eben nicht, dass das Ökonomische im engeren Sinne allem anderen vorgeordnet wäre. 11


Seid ihr denn noch an der Uni anzutreffen? Die Hochschule ist für uns nach wie vor ein wichtiges Politikfeld. Man könnte aber sagen, dass sich die Art und Weise, wie wir hochschulpolitisch aktiv sein wollen, geändert hat. Es geht uns im Sinne unseres Klassenbegriffs darum, uns entlang der eigenen konkreten Lebensbedürfnisse und -bedingungen zu organisieren. Da einige von uns nach wie vor einen Großteil ihres Lebens an der Hochschule verbringen, bedeutet das natürlich auch, sich dort zu organisieren und zu vernetzen. Wir betrachten die Hochschule als einen gesellschaftlichen Ort, an dem die Studierenden für ihre künftige Ausbeutung vorbereitet werden, einen Ort, an dem eben künftige Arbeitskräfte für die kapitalistische Wirtschaft ausgebildet werden. Als solcher ist sie derselben Kapitallogik unterworfen wie der Rest der Gesellschaft. Insofern erscheint es uns unter den derzeitigen Bedingungen sinn- und hoffnungslos einem verklärenden Ideal freier, gleicher Bildung hinterher zu rennen und die Umsetzung desselben von der Uni zu fordern. Ein solches Ideal umzusetzen ist nicht ihre Aufgabe innerhalb des kapitalistischen Systems, welches sich noch dazu in der Krise befindet. Die Hochschule ist aber gleichzeitig ein Ort, an dem Menschen arbeiten, lernen und lehren, die jeweils spezifische Motivationen, Bedürfnisse und Erwartungen an ihre Arbeit, ihr Studium, ihre Lehre haben. Wenn diese verschiedenen Aspekte im Konkreten aufeinandertreffen, kommt es häufig zu Konflikten. Beispielsweise wenn wissenschaftliche Hilfskräfte unter prekären Arbeitsbedingungen an der Hochschule beschäftigt werden oder wenn Studierende in überfüllten Seminarräumen »kritisch« denken sollen bzw. wollen. Diese Konfliktlinien, man könnte sagen, zwischen bestimmten Interessen der Arbeitenden und Studierenden an der Hochschule und der kapitalistischen Verwertungslogik, die natürlich auch vor den Toren der Uni nicht halt macht (sosehr sich der IG-Farben Campus auch nach außen abschottet), gilt es unserer Meinung nach hervorzuheben. Entlang dieser Konfliktlinien kann die Organisierung vorangetrieben werden und die entsprechenden Konflikte somit verschärft bzw. ausgetragen werden, anstatt sie immer nur in sich rein zu fressen. Langfristig erhoffen wir uns davon eine Verstetigung der Organisierung an der Uni, die ja bisher eher punktuell (bspw. Studiengebühren) geglückt ist, sowie eine Vernetzung zwischen Studierenden und Beschäftigten. Solche Prozesse bauen aber auch auf einem Bewusstsein über die eigene Position im gesellschaftlichen Ganzen, das heißt auf einem Verständnis über die Zusammenhänge zwischen kapitalistischer 12


Verwertung, deren Krisendynamik und dem universitären Ausbildungsbetrieb. Dieses Bewusstsein kann sich aber auch durch eine gemeinsame Praxis, den Kämpfen um die eigenen Bedürfnisse und Interessen entwickeln. Perspektivisch gesehen müssten Proteste an der Hochschule sich mit anderen Krisenprotesten und Alltagsund Interessenkämpfen vernetzten, sich als teil derselben begreifen: Studentischer Protest als Kampf von Menschen um ihre Lebens-, Arbeits- und Ausbildungsbedingungen, aus dessen Praxis sich ein Bewusstsein über die kapitalistische Totalität, die eigene Position innerhalb dieser, sagen wir Klassenbewusstsein entwickeln kann. Um nochmal kurz auf deine Frage zurückzukommen: die HiWi Initiative (Initiative wissenschaftlicher Hilfskräfte gegen ihre prekären Beschäftigungsverhältnisse) finden wir einen sehr wichtigen Schritt in die richtige Richtung, die M31 Hochschulplattform, die wir vor ca. einem Jahr initiiert haben, um verschiedene linke Aktivist*innen zu vernetzen, möchten wir in etwas anderer Form, aber mit der gleichen Idee einer Austauschplattform für linke Kräfte an der Uni weiterführen. Sie stellt für uns einen Versuch da, Kräfte zu bündeln und Organisierung zu verstetigen, inhaltlichen Austausch zu verstärken. Außerdem wird unser Semesterguide selbstverständlich weiterhin und (fast) pünktlich wie immer zum Semesterstart zu haben sein. Wie wollt ihr das praktisch anstellen? Naja, praktisch bedeutet das für uns in Zukunft kontinuierliche und langfristig angelegte politische Arbeit zu machen, vor allem wo es möglich ist auch viel Vernetzung zwischen bereits Kämpfenden zu betreiben. Sicher wird diese Arbeit deutlich weniger eventbezogen sein, das heißt wahrscheinlich auch weniger spektakulär im wörtlichen Sinn. Uns ist es zum einen wichtig, uns an den Orten, wo wir selber ganz direkt kapitalistischen »Zwängen« unterworfen sind, dem etwas entgegen zu setzen, uns selbst zu organisieren, aber entlang der eigenen konkreten Lebensbedürfnisse. Das heißt zum einen natürlich auf der Arbeit, aber ebenso an der Uni, in der Schule, FH oder als Mieter*innen, um nur einige zu nennen. Parallel dazu wollen wir auch sonst den Fokus mehr auf diejenigen Alltagskämpfe richten, in denen Menschen für ihre Bedürfnisse und gegen die kapitalistische Unterdrückung derselben kämpfen. Diese gilt es zu unterstützen, zu vernetzen und zu verschärfen. Uns ist klar, dass wir als Frankfurter Politgruppe nur einen klei13


nen Beitrag leisten können. Dieser könnte beispielsweise die praktische Unterstützung von Streikenden sein oder auch das Herstellen von Kontakten zwischen Lohnabhängige in verschiedenen Bereichen. Dabei ist uns Offenheit gegenüber potentiellen Mitstreiter*innen wichtig, was nicht heißen soll, dass wir für uns nicht weiterhin großen Wert auf klare politische Positionierung setzen. Vielmehr ist es klar, dass ein derartiges politisches Vorgehen, was ja dazu beitragen soll der Marginalität linksradikaler Inhalte entgegenzuwirken, ohne Offenheit und Streitfähigkeit nicht auskommt. Dabei gehen wir davon aus, dass die praktische Erfahrung gemeinsamer Kämpfe eine gute Grundlage für das Entstehen von Klassenbewusstsein sein kann, dieses Potential wollen wir verstärken, Impulse setzten und Diskurse anregen. Langfristig d.h. In den nächsten Jahren geht es um die Etablierung einer übergreifenden Struktur, die diese Vernetzungen bündeln und Kontinuität sowie einen gemeinsamen Diskussionsprozess organisieren kann. Was hat denn Klassenkampf mit Antifa zu tun? Klassenkampf und Antifaschismus sind für uns notwendige Bestandteile einer sozialrevolutionären Politik, und das aus mehreren Gründen. Zum einen haben wir uns weiterhin als Antifa bezeichnet, weil jede sozialrevolutionäre Bewegung sich – allerspätestens seit Auschwitz – darüber im klaren sein muss, dass das Unbehagen an den bestehenden Verhältnissen keineswegs notwendig in emanzipatorischer Richtung ausschlagen muss. Nationalistische, völkische, rassistische und antisemitische Tendenzen in der Gegenwart deuten ja nur zu deutlich darauf hin, dass der Wunsch nach Veränderung auch regressiv beantwortet werden kann. Schon deshalb muss der Antifaschismus Bestandteil sozialrevolutionärer Politik bleiben und in diesem Sinne ist der Klassenkampf auf den Antifaschismus angewiesen. Das gilt aber auch umgekehrt. Antifaschismus bedeutet für uns immer mehr als die bloße Verteidigung der bürgerlichen Gesellschaft gegen ihre negative Aufhebung, denn schließlich sind Faschismus und NS-Faschismus Geschöpfe eben dieser Gesellschaften der kapitalistischen Moderne. Wer den Faschismus bekämpfen und unmöglich machen will, muss seine sozialen Entstehungsbedingungen, also die kapitalistische Vergesellschaftung, theoretisch und praktisch in die Kritik nehmen und letzteres wollen wir eben mittels einer emanzipatorischen Form von Klassenkampf tun. Insofern ist also der Antifaschismus, will er konsequent sein, auf den Klassenkampf verwiesen – es reicht eben 14


nicht, Nazidemos zu blockieren und Faschist*innen auf der Straße umzuboxen. Drittens hat der Klassenkampf aber bereits in sich ein antifaschistisches Moment, und zwar insofern als er der Entsolidarisierung der globalen Klasse der Lohnabhängigen, die durch nationalistische, antisemitische und rassistische aber auch sexistische Strukturen und Ideologien erzeugt wird, entgegenarbeitet.

Klassenkampf wie wir ihn verstehen – als Selbstätigwerden der Lohnab­hängigen – ist darü­ber hinaus eine Praxis der Entunterwerfung und damit gegen den autoritären Charakter gerichtet. Er ist das Gegenprinzip zur Volksgemeinschaft.

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Warum die EZB? Die Europ채ische Zentralbank als Zielscheibe der Krisenproteste

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In Griechenland und Spanien liegen die offizielle Arbeitslosenquote bei 27% und die Jugendarbeitslosigkeit bei 60%. Das Sozialprodukt Griechenlands ist in einer sechsjährigen Rezession um 25% geschrumpft. Die Löhne der noch Beschäftigten in Griechenland sind noch stärker gesunken, teilweise um bis zu 50%; das heißt, es hat in der Krise eine weitere Umverteilung zugunsten der Kapitaleigner gegeben. Tarifverträge existieren in Griechenland kaum noch. Hungernde Kinder gibt es inzwischen nicht nur in der so genannten »Dritten Welt«, sondern auch wieder mitten in Europa. Dies alles sind nicht nur Folgen der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise, die sich seit 2007 ausgehend vom Hypothekenmarkt in den USA entwickelt hat. Vielmehr hat auch die Krisenpolitik der europäischen Regierungen und der Troika von Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF) wesentlich zu der humanitären Krise in Griechenland und weiteren EU-Ländern beigetragen. Grund genug, diese Politik weiter zu bekämpfen und zu Demonstrationen und ungehorsamen Aktionen in Frankfurt, am Standort der EZB zu mobilisieren. Für den 18. März 2015, dem Tag der feierlichen Eröffnung des Neubaus der EZB, wird europaweit zu Protestaktionen in Frankfurt mobilisiert. Dass die Blockupy-Aktionen und andere Krisenproteste der vergangenen Jahre von den politisch Verantwortlichen in Stadt und Land mit allen Mitteln bekämpft wurden, ist nicht weiter verwunderlich, sondern zeigt vielmehr, dass das Blockupy-Bündnis den richtigen Nerv getroffen hat. Bedauerlich ist allerdings, dass ein Teil der Frankfurter Studierenden, die sich als »links« verstehen, Blockupy nicht unterstützt haben. Sie sahen in der Mobilisierung zur Blockade der EZB eine verkürzte Kapitalismuskritik. Nun ist Blockupy in der Tat ein Aktionsbündnis, das sich zuvorderst gegen die Austeritätspolitik und die autoritäre, neoliberale Restrukturierung der EU richtet. Nicht jeder, der die Krisenpolitik der Troika ablehnt, muss Antikapitalist sein. Allerdings umfasst das Blockupy-Bündnis auch dezidiert antikapitalistische Kräfte. Dass die europäische Krisenpolitik in einem größeren Kontext gesehen werden muss, hat das Blockupy-Bündnis wiederholt mit vielfältigen Aktionen deutlich gemacht: für die Unterstützung derer, die in der EU Zuflucht suchen; gegen Neofaschismus; gegen die Ausbeutung in den globalen Produktionsketten der Bekleidungsindustrie oder der Elektronikindustrie; für andere Verhältnisse im Bereich der Care-Arbeit. Der Vorwurf der verkürzten Kapitalismuskritik fällt auf diejeni17




gen zurück, die ihn erheben, ohne sich überhaupt ernsthaft mit der EZB als Akteur oder mit der Bedeutung des Geldes, des Kredits und der Finanzmärkte im heutigen Kapitalismus auseinandergesetzt zu haben. Ich nehme die »linke« Kritik an Blockupy zum Anlass, um hier in aller Kürze einige Thesen zur Bedeutung von Zentralbanken im Kapitalismus im Allgemeinen und zur EZB im Besonderen zu entwickeln.

Die Bedeutung von Zentralbanken im Kapitalismus Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Produktion von Gütern nicht darauf ausgerichtet ist, die Bedürfnisse der Individuen zu befriedigen, sondern darauf, Kapital zu verwerten. Produktion findet nur statt, wenn Kapitalist*innen in den Kauf von Produktionsmitteln und Arbeitskräften investieren, und sie tun dies nur mit der Aussicht auf Profit, d.h. um aus ihrem vorgeschossenen Geld mehr Geld zu machen. Nicht die Bedürfnisse der Individuen als solche interessieren dabei, sondern nur die zahlungsfähige Nachfrage. Und auch sie ist nur Mittel zum Zweck der Produktion von Profit. Geld vermehrt sich nicht von selbst, sondern der Profit entspringt aus der Ausbeutung der Arbeitskraft der Lohnarbeiter*innen. Der Wert der von ihnen geschaffenen Waren ist höher als der Wert der Waren, die sie zu ihrer eigenen Reproduktion benötigen. Dadurch werden die Eigentümer*innen der Produktionsmittel, die Kapitalist*innen, in die Lage versetzt, sich einen Profit anzueignen. Unternehmen operieren typischerweise mit einer Mischung aus Eigen- und Fremdkapital, d.h. sie nehmen z.B. Kredite bei Banken auf. Dafür fällt den Banken in der Form der Kreditzinsen ein Teil des von den Unternehmen realisierten Profits zu. Gleichzeitig deponieren die Unternehmen Geld, das sie nicht unmittelbar benötigen, bei den Banken, die ihnen für diese Einlagen Zinsen zahlen. Das Einlagen- und das Kreditgeschäft sind die zwei grundlegenden Bankgeschäfte. Die Banken vergeben jedoch Kredite in einer Höhe, die die Höhe ihrer Einlagen bei weitem übersteigt. Normalerweise ist dies kein Problem. In Krisensituationen, wenn die Rückflüsse der Kredite stocken oder wenn die Unternehmen Geld benötigen und auf ihre Einlagen zugreifen wollen, kann eine Bank jedoch in Liquiditätsengpässe geraten. Einzelne Banken können solche Engpässe überwinden, indem sie auf dem so genannten Geldmarkt oder Interbankenmarkt, d.h. bei anderen Banken, kurzfristige Kredite aufnehmen. In einer Krise wie 2007-2009 kann jedoch die Refinanzierung am Interbankenmarkt scheitern, 20


weil die Banken untereinander ihrer Zahlungsfähigkeit nicht mehr vertrauen und sich wechselseitig keinen Kredit mehr geben. In diesem Fall steht den Banken nur noch die Refinanzierung durch die Zentralbank zur Verfügung: Die Zentralbank agiert dann als lender of last resort. Die Banken können umgekehrt ihre Geldreserven auch bei der Zentralbank deponieren. Die Zentralisierung der Reserven der Geschäftsbanken in einer Zentralbank ist ökonomisch rational, weil die Banken dadurch weniger Reserven benötigen, als wenn sie sie individuell vorhalten müssten. Reserven sind im Prinzip brachliegendes Geld, das nicht als Kapital fungiert, also vom kapitalistischen Standpunkt möglichst zu reduzieren. Die Zentralbank fungiert also als Bank der Banken. Da sie zugleich ein Staatsapparat ist, kann sie anders als die Geschäftsbanken nicht Bankrott gehen. Sie kann höchstens durch die Währungskonkurrenz in Schwierigkeiten geraten, d.h. wenn das von ihr geschaffene Geld, die nationale Währung nicht mehr akzeptiert wird und Kapital in großem Umfang ins Ausland abfließt. Zentralbanken verschenken das von ihnen geschaffene Geld grund­ sätzlich nicht, sondern vergeben es als Kredit: Die Banken müssen es mit Zinsen zurückzahlen, wobei die Höhe der Zinsen je nach Geldpolitik und Konjunkturverlauf schwankt. Gegenwärtig sind die Zinsen, die die führenden Zentralbanken verlangen, aufgrund der ökonomischen Stagnation in den alten kapitalistischen Zentren nahe Null. Doch das ändert nichts an dem grundsätzlichen Sachverhalt, dass auch das Zentralbankgeld Kreditgeld ist. Das impliziert, dass die Zentralbanken mit ihrer Geldschöpfung eine gelingende Kapitalverwertung, d.h. die Ausbeutung der Arbeitskraft immer schon unterstellen. Denn Zinsen können nur gezahlt werden, wenn Profite (und andere Einkommen) erwirtschaftet werden. Die Zentralbanken agieren direkt oder indirekt auch als Bank des Staates. So erhalten die Geschäftsbanken nur Geld von der Zentralbank, wenn sie als Sicherheit Wertpapiere hinterlegen. Dabei handelt es sich in der Regel um Staatsanleihen. Wenn die Zentralbank Geld emittiert, absorbiert sie zugleich Staatsanleihen. Indem die Staatsanleihen durch die Zentralbanken dem Kapitalmarkt entzogen werden, wird wieder Raum für die Emission neuer Staatsanleihen geschaffen. Die Zentralbanken tragen so indirekt zur Staatsfinanzierung bei. Manche Zentralbanken finanzieren auch direkt den Staat, indem sie ihm Staatsanleihen abkaufen. Die Zentralbank ist also nicht nur Bank der Banken, sondern auch Bank des Staates. 21




Die Zentralbanken tragen dazu bei, dass das Geld in der Gesellschaft so verteilt wird, dass die Klassenverhältnisse reproduziert werden und die erweiterte Reproduktion des Kapitals möglich ist. Das ist keineswegs eine triviale Angelegenheit. Waren können nur produziert und verkauft werden, wenn auch ausreichend Geld vorhanden ist, um den Wert der Waren zu realisieren. Andererseits muss das Geld notwendigerweise knapp gehalten werden, um seine Funktionen als Maß der Werte, Maßstab der Preise, Zirkulations- und Zahlungsmittel sowie Wertspeicher zu erfüllen. Die Spaltung der Gesellschaft in eine Klasse von Eigentümer*innen der Produktionsmittel und eine Klasse von Lohnarbeiter*innen impliziert, dass die beiden Klassen nicht in gleichem Maße über Geld verfügen können, damit dieses Klassenverhältnis sich reproduzieren kann. Das hierarchische Kreditsystem mit der Zentralbank an der Spitze gewährleistet genau dies. Das Geld gelangt nur auf bestimmten Kanälen in die Gesellschaft, und zwar in der Form des Kredits. Dies impliziert auch das Kapitalverhältnis als Ausbeutungsverhältnis.

Besonderheiten der EZB Die EZB unterscheidet sich von anderen führenden Zentralbanken wie der US-amerikanischen Federal Reserve oder der Bank of England dadurch, dass die Merkmale neoliberaler Politik in ihrer Verfassung festgeschrieben sind: Die Geldpolitik der EZB soll primär auf das Ziel der Geldwertstabilität ausgerichtet sein. Andere Ziele dürfen nur verfolgt werden, insoweit sie dieses primäre Ziel nicht beeinträchtigen. Somit kann die EZB z.B. beschäftigungspolitische Ziele allenfalls nachrangig verfolgen. Der EZB ist auch die direkte Staatsfinanzierung untersagt. Sie darf selbst am Sekundärmarkt für Staatsanleihen nur tätig werden, soweit dies ihrer geldpolitischen Aufgabe entspricht. Schließlich soll die EZB unabhängig sein – von den Regierungen und von jeglicher – demokratischen – Einflussnahme. Die EZB ist insofern ein Staatsapparat, der nur über eine schwache demokratische Legitimation verfügt. Die Unabhängigkeit der Zentralbank von der demokratischen Willensbildung ist im Interesse der kapitalistischen Klassenherrschaft, die hier in besonders reiner Form zur Geltung kommt.

Die Krise als Ausnahmezustand: Die EZB agiert jenseits ihres Mandats Auch das neoliberale Regelwerk gilt nur so lange, wie es funktional für die Reproduktion der kapitalistischen Herrschaft ist. Um einen 24


Zusammenbruch des Finanzsystems abzuwenden, hat die EZB unkonventionelle Maßnahmen ergriffen, die weit über den Rahmen ihrer Geldpolitik vor der Krise hinausgehen. Sie hat die Leitzinsen fast auf null gesenkt; sie hat den Banken in großem Umfang »toxische« Wertpapiere abgekauft, für die es keinen Markt mehr gab, und hat dadurch Bankenzusammenbrüche verhindert; sie hat die Anforderungen für die Refinanzierung von Banken stark gelockert; und sie hat versprochen, falls notwendig unbegrenzt die Staatsanleihen von Ländern mit Refinanzierungsschwierigkeiten in der Eurozone aufzukaufen. Damit hat sie wesentlich dazu beigetragen, das Vertrauen der Investoren in die Zahlungsfähigkeit in der Eurozone wieder herzustellen. All diese Aktionen wurden kritisiert, weil es praktisch keine demokratische Grundlage, keine ausreichende Rechtsgrundlage dafür gab. Es handelte sich letztlich um sehr kostspielige Bankenrettungsmaßnahmen, die aber bis heute weder zu einer wirklichen Belebung der Wirtschaft in der Eurozone noch zu einer Entschärfung der sozialen und humanitären Krise im Süden und Osten Europas beigetragen haben. Im Gegenteil: Die EZB hat zusammen mit der Europäischen Kommission und dem IWF sowie den nationalen Regierungen die Troika-Memoranden zu verantworten, die die Krise in Griechenland und in den anderen Ländern, die Hilfskredite erhielten, wesentlich verschärft haben. Löhne werden gesenkt, Schulen und Kliniken werden geschlossen, Menschen müssen sterben, damit der »Standort« EU im globalen Wirtschaftskrieg wettbewerbsfähiger wird. Die EZB steht also erstens für den kapitalistischen Normalbetrieb, durch den das Geld so gelenkt wird, dass die Reichen reicher werden und die Armen arm bleiben. Sie steht zweitens für eine besondere neoliberale Variante des Kapitalismus, in der die monetaristische Ideologie und der Ausschluss demokratischer Kontrolle in der Zentralbankpolitik gleichsam Verfassungsrang haben. Und sie steht drittens für ein Krisenregime, das der Bevölkerung insbesondere im Süden Europas nur noch mit den Mitteln des Ausnahmezustands aufgezwungen werden kann. Grund genug dafür, dass die EZB als Teil des Systems und stellvertretend für das schlechte Ganze zur Zielscheibe von Protesten wird. thomas sablowski Dr. Thomas Sablowski ist Referent für Politische Ökonomie der Globalisierung im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und aktiv im Blockupy-Bündnis.

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Zum Weiterlesen: • Thomas Sablowski/Etienne Schneider: Verarmung made in Frankfurt/M. Die Europäische Zentralbank in der Krise. Berlin, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Standpunkte 06/2013. http:// www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Standpunkte/Standpunkte_06-2013_Web.pdf • Dario Stefano dell’Aquila/Stephan Kaufmann/Jannis Milios: Blackbox EZB. Macht und Ohnmacht der Europäischen Zentralbank. Berlin, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Materialien, Dezember 2013. http://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/Materialien_BlackboxEZB.pdf • Andreas Fisahn u.a.: Wider das Recht. Ein Gutachten zur Unrechtmäßigkeit der EZB-Aktivitäten im Rahmen der autoritären Kürzungspolitiken der Troika. Berlin, Rosa-LuxemburgStiftung, Mai 2014. http://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Studien/Studien_ Wider_das_Recht.pdf

Am 18. März 2015 wird das neue Gebäude der EZB im Frankfurter Ostend feierlich eröffnet. Es wird von verschiedenen Seiten dazu aufgerufen, diese zynische Veranstaltung der herrschenden Klasse zu stören. Auch wir mobilisieren im Rahmen des M31-Netzwerks. Der entsprechende Aufruf des Netzwerks findet sich hier:

www.strikem31.blogsport.eu

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Die Krise heiSSt Kranksein ÂťEs gibt kein gesundes Leben im KrankenÂŤ (Antitainment)

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Die Einsicht selbst ist alt bekannt: Wer arm ist, ist häufiger krank und hat eine geringere Lebenserwartung. Hinter diesem statistischen Zusammenhang verbergen sich Realitäten, die gerade in Zeiten der Krise für viele spürbar werden – schließlich treiben neben der ökonomischen Krisendynamik selbst auch die politischen Krisenlösungsmaßnahmen die Verarmung weiter Bevölkerungsteile massiv voran. So wächst auf der einen Seite aufgrund des zunehmenden sozialen Drucks auf Erwerbstätige wie NichtErwerbstätige der Bedarf nach physischer und psychischer Versorgung, während gleichzeitig an den Ressourcen zur Deckung dieses Bedarfs gespart und der Zugang zu ihnen erschwert, teils sogar versperrt wird. In aller Drastik und Deutlichkeit zeigt sich dies bei den sogenannten Spar- und Reformmaßnahmen, die den finanzierungsbedürftigen Staaten wie Griechenland und Portugal von der Troika als Bedingung für Hilfskredite aufgenötigt wurden und auch das Gesundheitswesen betreffen. Gespart wird hier vor allem • durch eine Reduktion der Ausgaben für Medikamente • durch Erhöhung der privaten Zuzahlungen und Reduktion des Leistungskatalogs der Krankenkassen • durch Personal- und Lohnkürzungen im Gesundheitssektor • durch die Budgetierung von Klinikausgaben und • durch die Streichung von Präventionsmaßnahmen Wie willkürlich diese Maßnahmen sind, lässt sich exemplarisch an der Verpflichtung der griechischen Regierung gegenüber der Troika ablesen, »die Berufsunfähigkeitsrente auf nicht mehr als 10% der gesamten Rentenzahlungen zu reduzieren. Zu diesem Zweck werden die Definition von Berufsunfähigkeit und entsprechende Regeln bis Ende August 2011 überarbeitet”1 Eine sachlich-medizinische Begründung für diese Umdefinierung sucht man vergebens. Wenn es um die Rettung der kapitalistischen Verhältnisse geht, sind sie auch völlig irrelevant – hier wird einfach wild gekürzt, ohne Rücksicht auf konkrete Bedürfnisse. Die Folgen dieser Politik sind vielfältig: Sie reichen vom Ausbruch des West-NilVirus über den sprunghaften Anstieg von HIV-Infektionen bis hin zur Unterversorgung mit Todesfolge. Wer einen Blick auf die Entwicklung der Gesundheitsversorgung in Deutschland wirft, wird feststellen, dass das oben genannte Maßnahmenbündel auch hier zu Anwendung kam – allerdings 1

vgl. imf country report 11/175, Juli 2011, S. 129

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verteilt über einen langen Zeitraum (zunehmende private Zuzahlungen seit 1977, prospektive Budgetierung der Krankenhäuser seit 1984) und mit entsprechend weniger Drastik verbunden. Vor allem die 2004 begonnene Umstellung der Krankenhausfinanzierung auf ein Fallpauschalensystem, in dem die Behandlung eines Falles mit einem (politisch) festgelegten Betrag vergütet wird, hat die Versorgungslage stark verändert. Die Krankenhäuser werden zueinander in Konkurrenz darüber gesetzt, wer die meisten lukrativen Fälle mit dem geringsten finanziellen und personellen Aufwand behandeln kann. Das hat zu einer starken Zunahme von Fällen (bekannt sind die Hüft- und Kniegelenksoperationen) bei einer gleichzeitig stagnierenden Zahl von Pflegekräften, also zu einer massiven Arbeitsverdichtung geführt. Berechnungen von ver.di zufolge fehlen in der Krankenhauspflege bundesweit 70.000 Vollzeitstellen. Die damit einhergehende physische und psychische Belastung wirkt sich natürlich auch negativ auf die Patientenversorgung aus – falsche Medikation, erhöhte Gefahr einer Infektion durch Krankenhauskeime, erhöhte Sterberaten sind die Folgen. Begleitet und verstärkt wurden diese Tendenzen durch eine Privatisierungswelle. Mittlerweile befinden sich mehr Allgemeinkrankenhäuser in privater als in öffentlicher Hand. Viele Kommunen, die finanziell am Ende waren, verschleuderten in den letzten Jahren ihre Krankenhäuser an die vier großen privaten Krankenhauskonzerne (Rhön, Helios, Asklepios, Sana). Diese kalkulieren mit einer Rendite von 10-15%, die mit entsprechend »rationalisierter« Produktion erwirtschaftet werden muss. Dieses kleine Schlaglicht auf die Gesundheitsversorgung führt zu dem Resümee: Die Krise macht krank – vor allem jene, die ohnehin nicht viel haben. Doch während der Versorgungsbedarf steigt, wird an den Ressourcen zur Deckung dieses Bedarfs gespart – nicht nur auf radikale Weise in den sog. Krisenländern, sondern auch in Deutschland. Die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse ist, wie sich hier zeigt, nicht der Zweck kapitalistischer Vergesellschaftung und steht gerade in Zeiten der Krise unter verschärftem Beschuss. Eine Gesundheitsversorgung jenseits kapitalistischer Zwänge ist deshalb nötig. Darauf, dass sie möglich ist, geben bspw. die solidarischen Kliniken in Athen und Thessaloniki einen Vorschein.2 antifa kritik & klassenkampf 2

http://www.labournet.de/internationales/griechenland/griechische_schuldenkrise-griechenland/krise-gr-all/austeritatspraxen-nadja-rakowitz-uber-gesundheitliche-nebenwirkungen-der-troika-politik-in-griechenland/

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Interview mit der Federaci贸n Estudiantil Libertaria

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Die Federación Estudiantil Libertaria ist eine antiautoritäre, libertäre und anarchistische Gruppe, die für eine freie Bildung in einer Gesellschaft ohne Klassen kämpft. Por una educación libre en una sociedad sin clases Vom 21. bis 23. Oktober fanden in verschiedenen Städten und Universitäten Spaniens Bildungsstreiks statt. In diesem Zusammenhang gingen allein in Madrid am 22. Oktober 2014 knapp 30.00 Menschen auf die Straße, um gegen Kürzungen im öffentlichen Bildungssystem zu protestieren. Einer der Auslöser der Proteste ist die Ankündigung einer Reform des Bachelor-/Masterstudiums unter dem Namen »3+2« gewesen. Dadurch soll das bisher 4-jährige Bachelorstudium an spanischen Hochschulen um ein Jahr verkürzt und dafür das bisher 1-jährige Masterstudium auf 2 Jahre erhöht werden. Dieses Vorhaben hätte nicht nur zur Folge, dass die Inhalte des Bachelorstudiums massiv zusammengekürzt werden würden, sondern ebenfalls – und das ist der entscheidende Punkt – sich viele Studierende ein Masterstudium nicht mehr leisten könnten. Denn die Studiengebühren, welche für ein akademisches Jahr während des Bachelorstudiums bereits zwischen 500 und 1500 Euro betragen können, sind in Spanien für Masterstudiengänge nochmal um ein vielfaches höher. Von daher fanden die Proteste in Madrid auch unter anderem unter dem Motto »Faltan 45.000« (Es fehlen 45.000) statt. Eine Anspielung darauf, dass, sollte die Reform umgesetzt werden, die hiesige Universität die Hälfte ihrer Studierenden verlieren würde, da diese durch den Inhalt der Reform fortan vom elitären Bildungssystem ausgeschlossen wäre. Für einen zusätzlichen Moblisierungsschub dürfte zudem noch ein erst kurze Zeit vorher bekanntgewordener Korruptionsskandal gesorgt haben. – Und das, obwohl im politischen Alltagsgeschäft Spaniens die Korruption genauso selbstverständlich dazugehört wie die Tapas zum abendlichen Caña. – Anfang Oktober war bekannt geworden, dass 86 leitende Angestellte der Sparkasse »Caja Madrid« über Jahre hinweg sogenannte Schwarze Kreditkarten (»Tarjetas Negras«) zur Verfügung hatten, mit denen sie sich, ohne dass diese Beträge jemals in der Buchhaltung aufgetaucht wären, ein gutes Leben finanzieren konnten. 31


Was die ganze Angelegenheit noch ein wenig brisanter macht, ist die Tatsache, dass die Caja Madrid, die nach ihrer Fusion mit weiteren Sparkassen im Jahr 2010 zu Bankia wurde, erst vor zwei Jahren im Zuge der Bankenrettung mit einem Zuschuss in Höhe von insgesamt 18 Milliarden Euro vor der Pleite bewahrt worden ist. Im Vergleich dazu dürften die, durch die Tajetas Negras getätigten Ausgaben, in der Höhe von 15 Millionen Euro wie Peanuts wirken. Nichtsdestotrotz nahm das Colectivo de Estudiantes dies zum Anlass, um auf einem Plakat zu verdeutlichen, dass mit diesem Betrag rund 10.333 Studierende die Gebühren für ihr Bachelor- und noch einmal weitere 2.583 Studierende die Gebühren für ihr Masterstudium hätten bezahlen können. Wie passend, dass einer der glücklichen Inhaber der »Tarjeta Negra«, José Antonio Moral Santín, – bis 2012 Vizepräsident der »Caja Madrid« – ausgerechnet Professor an der Fakultät für Politikwissenschaften und Soziologie der Universidad Complutense Madrid ist (und Recherchen zufolge über die Jahre hinweg einen Betrag von 456.000 Euro mit seiner Schwarzen Kreditkarte ausgegeben haben soll).

Warum protestiert ihr? Wir kämpfen gegen die Auswirkungen des kapitalistischen Systems im Bildungsbereich und das mit einem anarchistisch-revolutionären Ansatz. Die Hauptauswirkungen sind die Vermarktung und Elitisierung der Hochschulausbildung, die Hand in Hand mit der fortschreitenden und verdeckten Privatisierung gehen. Vermarktung in dem Sinne, dass die Hochschulbildung immer mehr von den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes und somit den Bedürfnissen eines Produktions- und Gesellschaftssystems, dass auf Ausbeutung und Ungleichheit basiert, bestimmt ist. Elitisierung in dem Sinne, dass es immer teurer wird zu studieren und es immer weniger Hilfen für junge Leute gibt. Das führt dazu, dass Leuten aus ärmeren oder Arbeiterfamilien, oder wie auch immer man sagen möchte, der Zugang zur Hochschulausbildung versperrt wird, weil diese immer mehr zum Ort für die wohlhabenden Klassen wird. Außerdem lehnen wir als Anarchist*innen die Rolle der Bildungsinstitutionen als Vermittlerinnen der herrschenden Ideologie, die ihnen auf Grund ihrer staatlichen Führung zukommt, ab. Wer beziehungsweise welche Organisationen und Gruppen organisieren den Streik im Bildungsbereich? 32


Die Streiks werden auf unterschiedliche Art und Weise einberufen und organisiert. Es gibt nichts Festes. Aber die tatsächlich wichtigen Streiks sind diejenigen, die von den Asambleas de Facultad (Fakultäts-Versammlungen1) und von den Gewerkschaften der Arbeiter*innen ausgerufen werden. Neben den Asambleas gibt es weitere politische Organisationen wie unsere, die auf verschiedenen Wegen versuchen die eigenen Standpunkte in die Streiks zu tragen. Aus unserer Sicht ist es wichtig die Asambleas de Facultad zu stärken, und dass diese der politische Ort sind aus dem die Mobilisierungen hervorgehen. Wird auch in anderen Städten und Universitäten gestreikt und wie sind diese miteinander verbunden? Ja, es wird auch in anderen Städten und Unis gestreikt. Allerdings ist die Studierendenbewegung auf Landesebene bisher eher schlecht koordiniert, die bereits vorhandenen Verbindungen bestehen eher zwischen politischen Organisationen. Wir als Federación Estudiantil Libertaira (FEL) beispielsweise haben Gruppen in Madrid, Zaragoza, Santiago de Compostela, Corunia, Ourese und Sevilla. Außerdem bestehen Kontakte nach Teruel, Valencia, Córdoba, Barcelona, Málaga und Ciudad Real. In Madrid sind sämtliche Asambleas de Facultades miteinander verbunden und koordinieren sich über die Plattform Toma la Facultad (www.toma lafacultad.net). Sind das rein studentische Streiks oder gibt es auch Verbindungen zu den Leuten, die an der Uni arbeiten? Manchmal sind die Streiks nur von Studierenden und manchmal werden auch alle Beschäftigten im Bildungsbereich zum Streik aufgerufen. Gibt es Verbindungen zu anderen Kämpfen, beispielsweise zu den sozialen Bewegungen oder linken politischen Parteien? Ja, die gibt es, allerdings sind das eher gelegentliche, keine besonders starken Verbindungen. Zum Beispiel hat es in der Vergangenheit gemeinsame Demonstrationen gegen Kürzungen in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Wissenschaft gegeben. 1

Eine Asamblea de Facultad ist eine Versammlung, welche regelmäßig zusammenkommt. Sie ist offen für die Beteiligung aller Interessierten und und weder an Parteien oder Gewerkschaften, noch an sonstige Institutionen oder Organisationen gebunden.

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Was sind die Ziele des Streiks? Das hängt immer von jeweiligen Ort ab. Aber in der Regel gibt es immer ein paar »lokale« und ein paar »globale« Ziele. Die lokalen Ziele betreffen die spezifische Situation in den einzelnen Unis und Städten. Und die Globalen beziehen sich auf die großen Reformen der Regierung. * Wie ist die Beteiligung der Studierenden an den Streiks und wie geht es nach den Streiks weiter? Die Beteiligung an der Organisation der Streiks, an den Asambleas, den Aktionen oder Streikposten ist gewöhnlich nicht gerade massenhaft. Viele Leute streiken zwar, aber nicht jede*r beteiligt sich in einer aktiven Form. Die Demonstrationen, wenn sie mit genug Vorlauf angekündigt werden und gut organisiert sind, sind dafür in der Regel ziemlich groß (mehr als 10.000 Personen). Nach dem Streik müssen wir uns darüber Gedanken machen, wie dieser gelaufen ist und weiter unsere tägliche politische Arbeit fortführen. Außerdem gilt es den existierenden Konflikt im Bildungsbereich durch verschiedene Aktionen weiterhin sichtbar zu machen. federación estudiantil libertaria, am 4. november 2014 www.madrid.felestudiantil.org

Um das ein wenig anschaulicher zu machen, hier eine kleine Auswahl (kurzfristiger, langfristiger und allgemeiner) Forde­ rungen der Coordinación de Asambleas de Facultad aus Madrid:

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Schluss mit den sozialen Folgen des aktuellen kapitalistischen Systems und insbesondere mit seinen Auswirkungen auf den Bereich der Bildung! Endgültige Beseitigung des Faschismus und sämtlichen existierenden Formen der sozialen Diskriminierung! Aufbau einer auf Gleichheit der Geschlechter basierenden, das heißt feministischen Gesellschaft und damit einhergehend die Zerstörung des Patriarchats! Wiedereinführung von sozialen Hilfeleistungen! Schluss mit der Einstellung von Praktikant*innen statt Angestellten: Für Arbeitsverträge, die Rechte garantieren! Aufbau einer nicht-marktförmigen, autonomen Universität, deren Ziel die Entwicklung und Weitergabe von Wissen ist! Nachzulesen auf: www.asambleasuam.wordpress.com/objetivos 35


»Wir leben in einem endlosen Ausnahmezustand« Geflüchtetenproteste in Frankfurt & Rhein-Main

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Ein Jahr nach der »Tragödie« von Lampedusa geht das Sterben an den EU-Außengrenzen weiter. Generell hat sich an der Struktur des europäischen Grenz- und Migrationsregimes nichts geändert. Abschottung, Abschreckung, Immobilisierung, Gewalt und Ungleichheit sind weiterhin essentielle Bestandteile europäischer Migrationspolitiken. Gleichermaßen regt sich jedoch auch heftiger Widerstand von Seiten der Migrant*innen gegen die Abschottungspolitik; eindrucksvolle Beispiele dafür sind die Wucht der anhaltenden Zaunstürmungen in den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla ebenso wie die kämpferischen und aufsehenerregenden Mobilisierungen und Kämpfe in Berlin und Hamburg. Aber auch vor Ort, in der Rhein-Main-Region, sind die besonders durch »Dublin«1 verursachten Probleme virulent und ist die Situation der Betroffenen gleichbleibend dramatisch. Im letzten Jahr hat sich ein großes Netzwerk von Geflüchteten und Unterstützer*innen in der gesamten Region gebildet. In mehreren Demonstrationen in Frankfurt und Umgebung, zu denen Geflüchtete aus ganz Hessen angereist waren, trugen sie ihre Forderungen lautstark und selbstbewusst auf die Straßen. Durch die verschiedenen Aktionen gelang es den Protestierenden, sich zu stabilen Gruppen zusammenzuschließen: In Hanau bildete sich schon früh das Kollektiv »Lampedusa in Hanau«, in der Frankfurter Region konstituiert sich die Gruppe »Refugees for Change«, die auch schon für das nächste Jahr weitere Proteste und Aktionen in Frankfurt und Hessen angekündigt hat. Ein Gespräch mit einem Sprecher der Gruppe »Refugees for Change«, Paulos Y.

How, when, why did you start to become active, how many people are involved? I can describe our group by saying that we are stronger than yesterday. But for some time you can see that some members of our group have fallen and some new have risen. As everyone can see the evidence on the ground, we have suffered and we are still suffering because of the racist Dublin-regulations. There wasn’t ano1

Die sogenannten Dublin-Verordnungen legen die Zuständigkeiten für die Durchführung der Asylverfahren zwischen den Staaten der EU fest. Demnach ist derjenige Staat für ein Asylverfahren verantwortlich, der die Einreise ermöglichte bzw. in dem Migrant*innen als erstes auf europäischem Boden registriert wurden. Üblicherweise sind das die EU-Staaten an den Außengrenzen. Migrant*innen können daher nicht selbst entscheiden, in welchen Land sie Asyl beantragen wollen und werden immer wieder in das organisierte Elend der Randstaaten, wie Italien und Bulgarien abgeschoben.

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ther alternative except to fight for our rights and our dignity. If you do not, you will die like animals. Therefore I cannot give the exact number of our group, but I can say all the victims of racism and marginalization are involved in it. Which are your main political demands? To ask for shelter, good accommodation, basic human rights, equality, dignity, freedom of movement, the right to work, to stop racism, marginalization, apartheid, discrimination. That are our main political demands. What do you think about the political groups in Frankfurt? Do you feel supported? How would you like to be supported/work together with other groups? Yes, we feel very supported. At the same time I would like to thank all these who stand by our side and special thanks to noborder frankfurt, which opened our blind eyes. Yes we need to work with others groups! When you gather your forces, then you will have a strong voice. What do you want to tell the students of Frankfurt? How can they support your struggle? I would like to tell them, that they are the future of this country. Because we are fighting today for tomorrow and tomorrow is the near future. If you give us your solidarity today, it means we will have the best of tomorrow. Because the harvest of today is the result of what we sow yesterday. Thank you for your answers! Thank you. infos zu zuk端nftigen aktionen unter www.facebook.com/refugees4change www.refugeesforchange.wordpress.com rifugiati.milano@gmail.com no border gruppe frankfurt www.noborder-frankfurt.antira.info

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aus einem aufruf der refugees for change:

»Die ständige Angst vor Festnahme und Abschiebung ist unerträglich für uns Flüchtlinge. […] Was Flüchtlingen in Deutschland und in ganz Europa widerfährt, kann als psychologische Verfolgung und Schikanierung bezeichnet werden. Diese Maßnahmen werden bewusst gegen uns eingesetzt, um unser Leben erbärmlich zu machen. […] Wir werden behandelt wie Waren in einem Supermarkt. Sie werfen uns von einem Ort zum anderen innerhalb der EU. […] Wir leben in einem endlosen Ausnahmezustand mitten in den europäischen Ländern, aber wir sind keine Kriminellen. Also warum jagen uns Polizisten? Warum? Warum würde überhaupt irgendjemand Menschen derartig terrorisieren? Flüchtlinge sind machtlose Opfer der rassistischen Dublin-Verordnungen. Wir schlafen nachts nicht. Wir liegen wach mit unguten Gefühlen, voller Angst vor Repres­ sion. […] Wir sind auf der Suche nach Frieden, Freiheit und Würde.« 39


Ich sehe was, was du nicht siehst IG Farben Campus, Norbert-Wollheim-Platz und die unsichtbaren Spuren

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Am 27. März 2004 forderten Überlebende des KZs Auschwitz III Monowitz die Goethe-Universität und Oberbürgermeisterin Petra Roth auf, den vor dem IG-Farben Haus auf dem IG Farben Campus im Westend befindlichen Grüneburgplatz in NorbertWollheim-Platz umzubenennen. Auf den Tag genau zehn Jahre danach – geschichtsvergessen wie eh und je – veröffentlichte das Präsidium der Goethe-Uni eine Pressemitteilung, die auf den jüngsten Höhepunkt der Auseinandersetzung um die Umbenennung zu reagieren versuchte. Norbert Wollheims Name, Mittelpunkt der Auseinandersetzung, wurde ohne den Zusatz »Platz« nicht einmal genannt. Stattdessen versuchten sie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, die nicht zuletzt auch die nationalsozialistische Universität ins Exil trieb, für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Es bedurfte weiterer Briefe von Überlebenden, einiger hundert Unterschriften und dem Engagement Studierender in und außerhalb des Senats der Goethe-Universität bis die Uni schließlich im September 2014 einlenkte und der Umbenennung zustimmte, um sie dann als ihren Vorschlag medial zu vermarkten. Geschickt band sie die Umbenennung in das Jubiläumsjahr ein und verkündete ein »Gesamtpaket« im Rahmen dessen bestimmte Orte und Straßen auf dem IG Farben Campus umbenannt werden sollen; hier bruchlos eingereiht findet sich dann auch der Norbert-Wollheim-Platz. Zehn Jahre zu spät, wie wir finden. 2004 forderten die Überle­ benden in ihrer Resolution die Universität und die Stadt auf »schnellstmöglich alle nötigen Schritte einzuleiten, um die Umbenennung umzusetzen, damit dieses Zeichen der Erinnerung auch für die Generation der Überlebenden noch sichtbar wird«. Das hat man nicht getan. Die Mühlen der Bürokratie mögen langsam mahlen, im Frankfurter Beispiel sollte man aber von bewusster Sabotage sprechen – nur das jüngste Beispiel dieses Umgangs mit der Aufarbeitung der Vergangenheit. Auf dem IG Farben Campus finden sich heute einige Spuren, die gegen die Universität durchgesetzt werden mussten: zwei Gedenkplatten vor dem IG-Farben-Haus, eine Dauerausstellung und das Norbert-Wollheim-Memorial. An allen diesen Gegenständen könnte man zeigen wie die Uni versucht das Gedenken zu konterkarieren. Hier aber nur ein Beispiel: Während das Memorial sich ganz explizit auf dem gesamten Bereich vor dem IG Farben Haus erstreckt und dieser damit Gedenkort ist, identifiziert die Uni das Memorial nur im von ihr großzügiger Weise zur Verfügung ge41


stellten Pförtnerhäuschen, liebevoll Pavillon genannt. Aktiv unterstreicht sie das immer wieder, indem sie diesen ausgewiesenen Gedenkort zuknallt mit Kunst aller Art, und dem Memorial damit noch die letzte Aufmerksamkeit raubt. Die Nutzung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno sowohl im Rahmen der GU100 Feierlichkeiten, als auch in der ­Umbenennungsdebatte zeigt die Widerwärtigkeit der ganzen Diskussion auf. Dass weder Adorno noch Horkheimer sich über eine Vermarktung ihrer als Aushängeschilder (auf Linienbussen) für die Universität freuen würden – geschenkt. Es geht jedoch bei der Vermarktung insbesondere im Rahmen des von Präsident Werner Müller-Esterl vorgeschlagenen Gesamtpaket zur Umbenennung um mehr. Gegen den Shoah-Überlebenden Norbert Wollheim, der die IG-Farben verklagte, werden die beiden (jüdischen) Remigranten in einer vollkommenen Verdrehung ihrer eigenen Positionen in Stellung gebracht. Als Alibi-Juden dienen sie der Selbstinszenierung der Universität als eine Institution, die sich nicht nur erfolgreich ihrer eigenen Geschichte stellt, sondern durch die Remigration eben jener und anderer geflohener Wissenschaftler*innen Absolution erfahren hat. Nichts bleibt übrig von den Umständen, unter denen die Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung fliehen mussten, dem Tode Walter Benjamins, der permanenten kritischen Auseinandersetzung mit der post-nazistischen deutschen Gesellschaft, oder den Umständen der Rückkehr an die Universität Frankfurt – die erst durch Eigeninitiative zustande kam. Die NS-Geschichte der Universität, erwähnt sei exemplarisch das »Universitätsinstitut für Erbbiologie und Rassenhygiene«, aber auch die Geschichte des neuen Standortes, dem IG-Farben-Haus, verschwindet oder endet als Randnotiz. Der Bruch in der apologetischen Darstellung der (Erfolgs-)Geschichte der Universität, der durch die Erinnerung an NorbertWollheim und somit der Opfer der Shoah erreicht wäre, musste unmittelbar überdeckt werden. Es ist offensichtlich, dass weder das Gedenken an die Ermordeten noch, die aktive Auseinandersetzung mit der Geschichte des Ortes, den die Universität nun einnimmt, erwünscht ist. Wird der Versuch unternommen, beides nicht mehr nur am Rande, sondern offen und öffentlich zu thematisieren, setzt ein Reflex ein, der es den beteiligten Entscheidungsträger*innen ermöglicht noch die absurdesten Argumente vorzubringen und unglaubliche Zeit und Energie in die 42


Sabotage eben dieses Anliegens zu stecken. Es sei nur darauf hingewiesen, dass der »großartige« Vorschlag zu einem Gesamtpaket für die Umbenennungen bereits eine Woche nach dem ursprünglichen Entschluss des Ortsbeirates zur Umbenennung vorlag. Wir sollten uns trotzdem freuen, dass die Umbenennung kommen wird. Das ist eine politische Errungenschaft, die durch das Engagement von Überlebenden und Studierenden erreicht wurde. Zu einem Zeitpunkt als die Umbenennung vom Tisch zu sein schien. Aber es ist noch lange nicht alles gut. Der Ort IG Farben Campus stellt uns weiterhin vor Probleme. Auf dem Rest des Campus gibt es nichts, was die Geschichte dieses Ortes thematisiert, von der Geschichte der Universität im Nationalsozialismus gar nicht erst zu sprechen. Und nach wie vor fehlt eine Auseinandersetzung damit, was es heißen kann nach Auschwitz zu studieren; an diesem Ort im Besonderen, und im Allgemeinen. Die Universität braucht kann sich also nicht auf der Umbenennung ausruhen. Die Auseinandersetzung um die Aufarbeitung der Vergangenheit ist noch lange nicht vorbei: nicht am IG Farben Campus und nicht in Deutschland.

Initiative zur ­Umbenennung des Grüneburgplatzes in Norbert-Wollheim-Platz Weitere Informationen zu den Hintergründen der erinnerungspolitischen Kämpfe um Aufarbeitung liefert die DiskusAusgabe »Studieren nach Auschwitz«, die die Zeitschrift in Kooperation mit der »Initiative Studierender am IG Farben Campus« 2014 veröffentlichte. Die Initiative hat einen umfangreichen Blog, über den sie über aktuelle Veranstaltungen und Ereignisse berichtet: ››› initiativestudierenderamigfarbencampus.wordpress.com ››› facebook.com/wollheimplatz

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(Montags-) Querfront, Neue Rechte und linke Gegenstrategien 6 kurze und provokante Thesen zur Montagsquerfront und linkem Versagen in der Krise

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Nationalismus, Antisemitismus, braune Esoterik und Verschwörungstheorien in Zeiten von Krise und Kriegsgefahr. Wie könnten linke Perspektiven darauf aussehen? Die Konflikte in der Ukraine und die damit verbundene Angst vor militärischen Auseinandersetzungen in Europa brachte in Deutschland ein alt bekanntes, aber länger nicht mehr so offen wahrnehmbares Phänomen hervor: die Querfront. Mit vermeintlicher Angst vor Krieg, belogen durch die »gleichgeschalteten Lügenmedien« und von den »korrupten Eliten verarscht« entstand eine vermeintliche »Friedensbewegung«, die in verschiedenen Städten der BRD Kundgebungen »für den Frieden« an jedem Montag veranstaltete. Von Berlin bis München war dies ein Ort, antisemitische Denkmuster, Verschwörungstheorien von Chemtrails bis »BRD GmbH« und sonstiges gefährliches Geschwurbel von sich zu geben. Mit der Veranstaltung (Montags-)Querfront, Neue Rechte und linke Gegenstrategien – Nationalismus, Antisemitismus, braune Esoterik und Verschwörungstheorien in Zeiten von Krise und Kriegsgefahr. Wie könnten linke Perspektiven darauf aussehen? wollten wir mit Jutta Ditfurth und Peer Heinelt über diese neurechte, rechtsesoterische bis offen antisemitische Erscheinung informieren, aufklären und zur Diskussion darüber anregen. Dabei sollte vor allem der Frage nachgegangen werden, wieso es die radikale Linke nicht geschafft hat, in der Krise des Kapitals und den mit dieser verbundenen Kriegen und Konflikten weltweit eine wahrnehmbare antikapitalistische, antimilitaristische und emanzipatorische Position zu vertreten und nennenswerte Strategien gegen rechte Krisenerklärungen zu finden. 45


Hier wollen wir einige für uns zentrale Aspekte und Thesen der Veranstaltung zur weiteren Diskussion wiedergeben: 1 Die Konflikte in der Ukraine geben faschistischen und rechten Akteur*innen eine Möglichkeit dazu, historisch häufig wiederkehrende Versuche zur Bildung einer Querfront mit vermeintlich linksalternativen Bewegungen einzugehen, auch, weil das Thema von der Linken zu schwach aufgegriffen wurde. In diesem Fall trifft dies auf das historisch gewachsene linke Thema Frieden zu, in den 1970er Jahren war dies die ökologische grüne Bewegung. Spätestens nach der breiten Kritik an den Mahnwachen muss jeder Person klar sein, dass sie sich mit der Teilnahme an diesen mit dem dort vertretenen Weltbild und Diskurs einverstanden erklärt.

2 Die Montagsquerfront und ihre zentralen Personen kennen keine Klasseninteressen. Es geht ihnen um nichts weniger als das Ringen um die »Volksgemeinschaft«, die sich gegen alles vermeintlich andere, fremde und störende stellt – auch so ist die Leugnung der Einteilung politischer Positionen u.a. in »links« und »rechts« zu verstehen. Die Konflikte in der Ukraine werden somit auf menschliches »Fehlverhalten« reduziert, kapitalistische Verwertungslogiken, imperiale Interesse oder die hegemoniale Stellung Deutschlands in der EU dabei ignoriert oder einfach nicht verstanden. Stattdessen wird behauptet, dass amerikanische Banken und jüdische Bankierfamilien an »allen Kriegen der Geschichte« Schuld tragen und diese zu verantworten hätten. Dies stellt nicht nur eine schlicht antisemitische »Erklärung« der kapitalistischen Produktionsweise dar, sondern sagt in letzter Konsequenz, die Shoah sei durch Jüdinnen und Juden geplant, was, laut einer zentralen Person der Montagsmahnwachen, um »das deutsche Volk« zu unterjochen.

3 Bereits in den Occupy-Camps in der BRD konnten antisemitische, völkische und nationalistische Verschwörungstheorien 46


zum Teil erstmals offen und selbstbewusst einer größeren Gruppe präsentiert werden. Sie können damit als Katalysator der jetzigen Querfrontbewegung bezeichnet werden. Dieser Entwicklung wurde durch verkürzte, personifizierte »Kritik am System«, wie »Wir sind die 99%« Vorschub geleistet und emanzipatorische Positionen marginalisiert.

4 Eine Trennung in »produktives und unproduktives« also »raffendes und schaffendes Kapital« versteht den Kapitalismus nicht und ist ein Nährboden für antisemitische Verschwörungstheorien – wie bei der Montagsquerfront offensichtlich zu sehen ist. Hinzu kommen geschichtsrevisionistische Positionen. Somit kann die Bewegung als antisemitisch, deutschnational und völkisch bezeichnet werden.

5 Die Bewegung wird sich neue Felder und Erscheinungsformen suchen. Solche Mahnwachen »für den Frieden« sind nur ein Ausdruck der verschiedenen, sehr heterogenen aber allesamt rechten Strömungen, die sich je nach Thema und Situation zusammenfinden. Das einende Band hier ist der Antisemitismus und verhilft dabei, die teilweise großen Differenzen von esoterischen bis rechten Positionen in den Hintergrund zu rücken. Selbst den kleinsten rechten Strömungen wird dabei eine große Bühne gegeben, die ihnen bis dato nicht zur Verfügung standen. Die AfD zeigt ähnliche Entwicklungen auch in Parteiform, wenn sie rassistische Hetze zu Migration mit antifeministischen Positionen verbindet.

6 Es ist nicht ausreichend gelungen antiautoritäre, emanzipatorische Positionen in der Krise ausreichend wahrnehmbar zu machen. Verschiedene rechte Erscheinungen der letzten Monate und Jahre – von der AfD über die Montagsquerfront bis hin zu rechten Hooligans, besorgte Bürger und Neonazis »gegen Salafisten« – sind lange Zeit ohne eine wahrnehmbare linke Gegenposition entstanden und gewachsen. Dabei kam es nicht nur zu fatalen Versuchen Gemeinsamkeiten zu finden (siehe die Beteiligung »linker« Akteur_innen an Montagsmahnwachen). Diesen rechten Organisierungen zeigen, dass ein konsequenter und radikaler Antifaschismus dringend notwendig ist.

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Jutta hat derzeit ein Gerichtsverfahren laufen. Jürgen Elsässer will ihr die für ihn sehr treffende Bezeichnung eines »glühenden Antisemiten« untersagen. Wir solidarisieren uns selbstverständlich mit unserer guten Genossin und freuen uns sehr, wenn ihr sie durch eine kleine finanzielle Spende für die zu erwartenden hohen Gerichtskosten auf mehreren Instanzen unterstützt. Spenden gehen an: kontoinhaberin: Jutta Ditfurth, verwendungszweck: Elsaesser-Prozess, konto: 1200881450, blz: 50050201, Frankfurter Sparkasse 1822, iban: DE61500502011200881450, bic: HELADEF1822

Walk this way Nachdem wir euch in den letzten hundert Semestern in der Rubrik »Walk this way« Infos über spannende linke Kulturorte und selbsverwaltete Zentren in Frankfurt lieferten, haben wir uns für die nächsten hundert Semester etwas anderes ausgedacht: In »Walk this way« werden von nun an verschiedene Frankfurter Stadtviertel und deren linke Geschichte vorgestellt. Wir beginnen mit dem Riederwald. Viel Spaß damit! PS: Wer keinen der alten Semesterguides ergattern konnte, findet sie und damit auch unsere früheren Tipps digital unter folgender Adresse: www.akkffm.blogsport.de/documents

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Riederwald Gegen Ende des 19.Jahrhunderts begann sich Frankfurt von einer beschaulichen Handels- und Messestadt in eine moderne Verkehrs-und Industriemetropole zu verwandeln. Unter den Bürgermeistern Adickes und Miquel entstanden zwischen 1886 und 1890 der Alleenring und die neuen Wohngebiete Ostend, Westend und Nordend. Während der Arbeit am Osthafen begann man 1910 mit dem Bau einer Siedlung für die Arbeiter*innen des Hafens. Es entstand die Siedlung Riederwald. Für die Arbeiter*innen des Riederwalds, Bornheims und des Ostends wurde der Ostpark als Erholungszone angelegt. Bauträger des ersten Bauabschnitts (1909 bis 1912) war der Volks-Bau- und Sparverein Frankfurt am Main. Es entstanden Häuser im sogenannten Heimatstil (typisch dafür sind die Doppelhausgruppen mit hohen Mansarddächern). 1926/27 begann die 2. Bauphase. Geplant wurde sie vom legendären Frankfurter Baudezernten Ernst May. Er wollte Bornheim mit dem Riederwald verbinden und plante die vollständige Bebauung des Bornheimer Hangs, des Gebiets also, in dem sich heute Schrebergärten und seit 1931 das Stadion des FSV Frankfurt befinden. Der Plan wurde nicht verwirklicht, aber der Riederwald bekam ein neues Gesicht. Es entstanden Baugruppen aus typischen Ernst-May-Häusern, die sich um Plätze gruppieren und flache Dächer haben. Besonders bemerkenswert ist, dass sie die ersten Einbauküchen Deutschlands bekamen, die die Arbeit der Frau* in der Küche erleichtern sollten. Von Anfang an war der Riederwald als ein Stadtteil mit Parks und Gärten geplant. Unmittelbar angeschlossen ist ein Wäldchen, in dem sich heute eine Sportanlage und ein von den Kindern selbst gebauter Abenteuerspielplatz befinden. Die Straßen im alten Teil 50


der Siedlung sind nach den Pionieren der Genossenschaftsbewegung (Raiffeisen, Schulze-Deliztsch und Duncker) benannt, die Straßen im von May geplanten Teil erhielten die Namen von Ökonomen, die mit mehr oder weniger Erfolg versuchten das Wesen des Kapitalismus zu ergründen, oder wurden nach bedeutenden Figuren der Arbeiterbewegung benannt. Selbstverständlich liegen die Karl Marx-Straße, die Lasalle-Straße und der Friedrich Engels-Platz in Frankfurt im Riederwald. Dem Konzept einer Arbeiter*innensiedlung entsprach es auch, dass für die Kinder der Siedlung 1928 die heutige Pestalozzi-Schule erbaut wurde (bis 1933 war sie nach dem SPD-Parteilinken Konrad Haenisch [1876-1925] benannt). Die Schule liegt unmittelbar am 1952 erbauten Stadion der Frankfurter Eintracht, die nicht zufällig 1921, als der Fußball zum Arbeiter*innenmassensport zu werden begann Von Anfang an war der Riederwald die Hochburg der »Roten« in Frankfurt. Das zeigt sogar die Architektur. Am Eingang der Siedlung entstand bei den Planungen von Ernst May der Torbau am Anfang der Schäfflestraße. Er wirkt wie der Eingang zu einer Festung, in der sich eine klassenbewusste Arbeiter*innenklasse gegen eine feindliche Umwelt versammelte und mit dem Aufbau einer eigenen Welt begonnen hatte. Auch die Pestalozzi-Schule wirkt mit ihren mächtigen Mauern und den kleinen Fenstern nach außen beinahe wie eine Verteidigungsanlage. In der Weimarer Republik war der Riederwald sozialdemokratisch und kommunistisch. Zwischen 1933 und 1945 war der Riederwald ein Ort eines stillen Widerstands. In ihrem Roman »Das 7. Kreuz« schildert Anna Seghers, wie Georg Heisler aus dem KZ Westhofen (bei Worms) ausbricht und nachdem er bei einigen Genossen in Frankfurt nur halbherzig Unterstützung erfährt, bei einem Arzt im Riederwald einen gefälschten Pass und Geld erhält, was ihm die Flucht in die Niederlande ermöglicht. Unter den »stillen Widerständlern« des Riederwaldes ist Johanna Tesch die bekannteste geworden. 1875 geboren, trat sie 1902 der SPD bei und war ab 1906 Vorsitzende der Frankfurter Ortsgruppe einer Gewerkschaft, die vor allem Frauen organisieren wollte: des Verbandes der Haus-und Büroangestellten. Von 1920 bis 1924 saß sie für die SPD im Reichstag. Ab 1933 lebte sie im Riederwald (»Am alten Volkshaus 1«). 1944 wurde sie im Zusammenhang mit dem Attentat vom 20. Juli verhaftet und ins KZ Ravensbrück verschleppt. Dort starb sie kurz vor ihrem 70sten Geburtstag am 13. März 1945 wahrscheinlich an Entkräftung. Der Johanna Tesch Platz im Riederwald ist die erste Adres51


se, die in dem Stadtteil nach einer Frau benannt wurde. Auch die evangelische und die katholische Kirchen im Riederwald waren ein Teil des Widerstands. Ihre Kirchengebäude wurden Ende der 20er, Beginn der 30er Jahre bewusst auf Sichtweite voneinander gebaut, um zu unterstreichen, dass der Glaube nichts Trennendes beinhalten sollte. Im Krieg wurde auch der Riederwald und die umliegenden Industriegebiete bombardiert. Ab 1945 begann die Bevölkerung mit dem Wiederaufbau zerstörter Gebäude. Ab 1949 übernahm die »Aktienbaugesellschaft für kleine Wohnungen« den Wiederaufbau. Es entstanden sowohl Rekonstruktionen alter Ernst-MayHäuser als auch komplette Neubauten, die nicht unbedingt in das alte Bild der Siedlung passten. Heute haben die Bewohner*innen des Riederwalds einige schwerwiegende Probleme. Viele Häuser sind stark sanierungsbedürftig und zu klein. Die Einkaufsmöglichkeiten im Stadtteil sind rapide geschrumpft. Es fehlt an Kneipen und Restaurants. Unmittelbar an der Siedlung vorbei führt eine ständig verstopfte Ausfallstraße von Frankfurt nach Osten und ­erzeugt eine Dauerbelastung von Lärm und Schadstoffausstoß. Geplant ist stattdessen ein Tunnel. Von dessen Bau befürchten die Bewohner*innen auf Jahre hinaus eine Umgebung von unerträglichem Lärm und Dreck. Trotz aller Probleme ist der alte Geist der Siedlung bis heute lebendig. Im Riederwald gibt es ein dichtes Netz von Nachbarschaftshilfen, von Alten- und Kinderbetreuung und Anlaufstellen für Jugendliche. Auf dem Johanna-Tesch-Platz entstehen kleine Gemüsegärten. In der Bundestagswahl von 2009 im Riederwald erhielten die »Linken« 20,6% [!] der Stimmen. jens huhn

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Wohnaus von Johanna Tesch




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»Klassenbewußtsein ist immer ein ans Durchschauen der Wertabstraktion gebundenes, parteiliches Totalitätsbewußtsein und an die Befriedigung von Bedürfnissen geheftetes produktives Konsumtionsbewußtsein.« Hans Jürgen Krahl, 1969


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