Amnesty Journal Oktober/November 2010

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das maGaZin Für die menschenrechte

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amnesty journal

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2010 oktober november

überall unerwünscht wie roma in europa diskriminiert werden

GeFährliche reise wer aus nordkorea flieht, muss über viele Grenzen

Freiheit und Zensur kuba entlässt dissidenten, duldet aber keine kritik

präsente verGanGenheit argentinien ist Gastland der Frankfurter buchmesse


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EDITORIAL

Foto: Amnesty

Anton Landgraf ist Redakteur des Amnesty Journals

sie kamen im morGenGrauen… …um das Roma-Camp zu räumen. Polizeibeamte beschlagnahmten die persönlichen Habseligkeiten der Bewohner, Bulldozer zerstörten ihre Wohnwagen. Wer nicht sofort der Ausreise nach Rumänien zustimmte, saß anschließend obdachlos auf der Straße. So wie in dem Pariser Vorort Choisy-le-Roi wurden im August in Dutzenden anderen französischen Gemeinden Roma-Siedlungen aufgelöst und die Bewohner vertrieben. Doch in Rumänien gibt es kaum Perspektiven für die Roma: Keine Wohnung, keine Arbeit, keine Schule. Unter Umständen müssen sie dort sogar um ihr Leben fürchten, wie die Reportage über zwei Dörfer in Siebenbürgen beschreibt (S. 20). Das brachiale Vorgehen der französischen Behörden gegen die Roma ist ein Lehrstück über politischen Populismus auf dem Rücken gesellschaftlicher Minderheiten: Ein lokaler Vorfall, bei dem Roma mit der Polizei aneinandergerieten, wurde zu einem Ereignis aufgebauscht, das angeblich die Sicherheit der Nation gefährdet – und nebenbei auch von den innenpolitischen Skandalen der Regierung Sarkozy ablenken sollte. Wenn »die Lage von Minderheiten ein Gradmesser für die Verwirklichung von Menschenrechten und Demokratie in einer Gesellschaft ist«, wie der Historiker Wolfgang Wippermann erklärt (S. 32), dann fällt die menschenrechtliche Bilanz nicht nur für Frankreich verheerend aus. Gute Nachrichten gibt es hingegen aus Kuba, wo die Regierung kürzlich zahlreiche Dissidenten und Oppositionelle freigelassen hat (S. 44). Eine grundsätzliche Änderung im Umgang mit Meinungsfreiheit und Kritik ist zwar noch nicht in Sicht. Der Kuba-Experte Bert Hoffmann äußert im Interview mit dem Amnesty Journal (S. 46) dennoch vorsichtigen Optimismus. Er sieht in der überraschenden Freilassung einen neuen »Politikstil« der Regierung in Havanna. Eine exklusive Reportage beschäftigt sich in dieser Ausgabe mit einem Land, aus dem es normalerweise so gut wie keine Informationen gibt. Über mehrere Jahre hinweg hat der dänische Journalist Thomas Aue Sobol Flüchtlinge aus Nordkorea getroffen. Sie geben nicht nur erschütternde Einblicke in den Alltag in dem hermetisch abgeschotteten Land, sondern berichten auch über ihre extrem gefährliche Fluchtroute, die sie durch mehrere ostasiatische Länder führte. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.

editorial

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INHALT

20

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Titelfoto: Roma-Mädchen in dem Dorf Sâmartin, Rumänien. Foto: Andreea Tanase

titel 19 Kollektiv bestraft… Von Imke Dierßen

20 »Sie haben das im Blut«

Besonders in Zeiten von Wirtschaftskrisen nimmt der Hass gegen Roma zu. So wie in einigen Dörfern in Rumänien. Dort wollen viele Bewohner die unliebsame Minderheit lieber heute als morgen verjagen. Eine Spurensuche in Siebenbürgen. Von Keno Verseck

rubriken

28 Roma in Europa

06 Reaktionen

30 »Können Sie tanzen?«

07 Erfolge 10 Panorama 12 Nachrichten 13 Interview: Françoise Sironi 15 Kolumne: Birgit Svensson 59 Rezensionen: Bücher 60 Rezensionen: Film & Musik 62 Briefe gegen das Vergessen

Zahlen, Fakten und Kurzberichte.

Stéphane Laederich aus Zürich ist Mathematikprofessor, Banker und Direktor der »Rroma Foundation«. Seit fast zwanzig Jahren kämpft die Organisation gegen Klischees und hartnäckige Vorurteile. Von Daniel Kreuz

32 »Es gibt kein Roma-Problem«

Die Diskriminierung von Sinti und Roma ist tief in der europäischen Geschichte verwurzelt und wurde nie ernsthaft bekämpft, meint der Berliner Historiker Wolfgang Wippermann.

64 Aktiv für Amnesty 65 Monika Lüke über Polizisten 66 Aktion

Fotos oben: Andreea Tanase | Nicolas Duc | David Høgsholt | Pierre-Yves Ginet / Rapho / laif

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36

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berichte

kultur

36 Flucht aus Nordkorea

50 Das Fegefeuer der Überlebenden

Jedes Jahr fliehen Tausende, die unter Hunger und Unterdrückung leiden, aus Nordkorea nach China. Die meisten sind Frauen. Sie werden Opfer von Gewalt, andere reisen auf gefährlichen Wegen in Richtung Südkorea. Von Thomas Aue Sobol

42 Kurz vor dem Kollaps

Amputationen ohne Betäubung, Operationen bei Kerzenlicht, Krankenhäuser ohne Heizung – das Gesundheitssystem in Nordkorea ist in einem katastrophalen Zustand. Dies belegt eine aktuelle Studie von Amnesty International. Von Daniel Kreuz

44 Freilassen und einschüchtern

Die kubanische Regierung will 52 Dissidenten freilassen. Eine grundlegende Entscheidung hin zu mehr Meinungsfreiheit bedeutet dies aber nicht. Von Maja Liebing

46 »Ein völlig neuer Politikstil«

Der Politikwissenschaftler Bert Hoffmann sieht in der Freilassung der Dissidenten auf Kuba einen vorsichtigen Wandel. Die Regierung von Raúl Castro steht wirtschaftlich unter enormem Druck und sucht eine Annäherung an die EU.

Viele argentinische Schriftsteller beschäftigen sich mit den Folgen der Militärdiktatur. Neuerscheinungen, gelesen von Wera Reusch.

54 Die Kinder der Diktatur

Rund 500 Kinder wurden während der argentinischen Militärdiktatur ihren Eltern weggenommen und fremden Familien gegeben. Von Jessica Zeller

55 Späte Strafverfolgung

Vor fast dreißig Jahren endete die Militärdiktatur in Argentinien. Der Anwalt Wolfgang Kaleck schildert den mühsamen Kampf gegen die Straflosigkeit. Von Ferdinand Muggenthaler

56 Klassiker der Reportage

Rodolfo Walsh zählt zu den prominentesten Opfern der Militärdiktatur. Er begründete den investigativen Journalismus in Argentinien und schrieb Krimis. Von Gert Eisenbürger

57 Lied ohne Entkommen

Der neue Krimi des Schriftstellers und ehemaligen politischen Gefangenen Raúl Argemí spielt im argentinischen Mafiamilieu. Von Klaus Jetz

58 Ambivalente Gesellschaft

K. Sello Duikers Roman »Die stille Gewalt der Träume« handelt von Drogen, Sex und Toleranz in Zeiten der Postapartheid. Von Ines Kappert

61 Innere Grenzziehung

Warum in einer Nachkriegsgesellschaft der Kampf nicht unbedingt vorbei ist, davon erzählt Jasmila Žbanićs Film »Zwischen uns das Paradies«. Von Jürgen Kiontke

inhalt

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REAKTIONEN

mexiko

belarus

japan

Mehr als zwei Jahre saß der Menschenrechtsaktivist Raúl Hernández im Gefängnis für einen Mord, den er nicht begangen hat. Nachdem der Fall neu aufgerollt worden war, sprach ihn ein Richter am 27. August frei und entließ ihn umgehend aus der Haft. Hernández ist Mitglied der IndigenenOrganisation OPIM. Nach Einschätzung von Amnesty International war seine Verurteilung politisch motiviert. Die Organisation betrachtete ihn daher als gewaltlosen politischen Gefangenen. »Ich bedanke mich bei Amnesty und all den Menschen aus vielen verschiedenen Ländern, die sich für meine Freiheit eingesetzt haben«, so Hernández. Amnesty fordert die Behörden auf, die Hintergründe der Verurteilung zu untersuchen und Hernández für die Haftzeit zu entschädigen.

Yevgeny Yakovenko ist wieder ein freier Mann. Das Mitglied der oppositionellen Christdemokraten hatte sich aus pazifistischen Gründen geweigert, den Militärdienst abzuleisten. Er war deshalb am 4. Juni zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Amnesty International forderte in einem Brief an den Generalstaatsanwalt seine Freilassung. Am 23. Juli wurde Yakovenko begnadigt. »Dies ist ein positiver Schritt, allerdings gibt es in Belarus nach wie vor keinen alternativen Zivildienst«, kommentierte ein Amnesty-Experte. Yakovenko könnte daher eventuell erneut angeklagt werden.

Zwei zum Tode verurteilte Männer wurden am 28. Juli in einer Strafvollzugsanstalt in Tokio hingerichtet. Es waren die ersten Hinrichtungen seit exakt einem Jahr und die ersten seit der Regierungsübernahme der Demokratischen Partei. Japan gehört zu den wenigen Industrieländern, die die Todesstrafe noch nicht abgeschafft haben. Derzeit sitzen 107 Verurteilte in japanischen Todeszellen. Sie werden erst am selben Morgen über die unmittelbar bevorstehende Hinrichtung in Kenntnis gesetzt. Amnesty International kritisiert seit Jahren Japans Umgang mit der Todesstrafe sowie die schlechten Haftbedingungen in den Todestrakten.

Ausgewählte Ereignisse vom 15. Juli bis 1. September 2010

indonesien mosambik arGentinien Mehr Rechte für Schwule und Lesben: Als erstes lateinamerikanisches Land hat Argentinien die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert. Der Senat stimmte Mitte Juli einem entsprechenden Gesetz zu, das im Mai bereits von der Abgeordnetenkammer gebilligt worden war. Amnesty International bezeichnete die Entscheidung als einen »Meilenstein« auf dem Weg zu mehr Gleichberechtigung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender (LGBT). Die LGBT-Bewegung in Argentinien hatte sich seit Jahren energisch für die Gesetzesänderung eingesetzt.

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Mindestens sechs Menschen, darunter zwei Kinder, wurden am 1. September in der Hauptstadt Maputo von Polizisten erschossen. Tausende Menschen hatten tagelang gegen steigende Lebenshaltungskosten demonstriert. Dabei kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei und Plünderungen. Amnesty International ermahnte die Polizei, nur dann scharfe Munition zu verwenden, wenn Lebensgefahr droht und es keine Alternative zum Schusswaffeneinsatz gibt. Laut einem kürzlich veröffentlichten Amnesty-Bericht wurden in Mosambik zwischen Januar 2006 und Ende 2009 mindestens 46 Menschen von der Polizei unrechtmäßig getötet.

Der in der Provinz Papua inhaftierte gewaltlose politische Gefangene Filep Karma ist endlich medizinisch versorgt worden. Die Behörden hatten dem 50-Jährigen die dringend benötigte Behandlung ein Jahr lang verweigert. Amnesty International übte mit Protesten und Unterschriftenaktionen Druck auf die Behörden aus. Mitte Juli wurde Karma schließlich in der Hauptstadt Jakarta operiert, am 31. Juli musste er ins Gefängnis zurückkehren. Er verbüßt seit Mai 2005 eine 15-jährige Haftstrafe, weil er an einer friedlichen Zeremonie für die Unabhängigkeit Papuas teilgenommen hatte. Amnesty wird sich weiter für seine Freilassung einsetzen. Karma bedankte sich bei allen, die sich für ihn engagierten und die durch ihr Engagement die Operation möglich gemacht haben.

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ERFOLGE

wasser ist ein menschenrecht Die UNO-Vollversammlung der hat das Recht auf sauberes Wasser und Zugang zur Sanitärversorgung als Menschenrecht anerkannt. Die Resolution wurde Ende Juli ohne Gegenstimmen angenommen. Allerdings enthielten sich viele Staaten, darunter auch die USA. Die UNO äußerte in der Resolution ihre Sorge darüber, dass etwa 884 Millionen Menschen auf der Erde keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben und mehr als 2,6 Milliarden Menschen keinen Zugang zur Sanitärversorgung. Amnesty International begrüßte die Entscheidung, forderte aber zugleich alle Staaten dazu auf die Gelegenheit zu ergreifen, um das Leben und die Gesundheit von Millionen zu schützen und vorbehaltlos das Recht auf Wasser und sanitäre Einrichtungen zu unterstützen. Die Erklärung ist völkerrechtlich nicht bindend, sie besitzt jedoch einen hohen symbolischen Wert und kann die Politik von Staaten beeinflussen. Denn: Das Recht auf Wasser ist schon heute völkerrechtlich anerkannt, nicht aber das Recht auf Sanitärversorgung. Das Thema Wasser beschäftigt die UNO schon seit längerer Zeit: Bereits im Jahr 2000 hatten sich die UNO in den so genannten Millenniumsentwicklungszielen das Ziel gesetzt, bis 2015 die Zahl derjenigen zu halbieren, die keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben.

kinder sind keine terroristen

türkei Amnesty International begrüßt den Beschluss des türkischen Parlaments, demonstrierende Kinder nicht mehr unter der Anti-Terror-Gesetzgebung zu verfolgen. In der Vergangenheit wurden Tausende von Kindern – darunter Zwölfjährige – im Rahmen der Anti-Terror-Gesetze verhaftet. Ihnen wurde vorgeworfen, an (zumeist pro-kurdischen) Demonstrationen teilgenommen zu haben, welche die Regierung als »Unterstützung des Terrorismus« betrachtete. Amnesty hat sich stark gegen diese Praxis eingesetzt und erst kürzlich einen Bericht dazu publiziert. Die vom Parlament verabschiedeten Gesetzesänderungen bedeuten, dass die unter dem Anti-Terror-Gesetz gefällten Urteile gegen Kinder aufgehoben werden. Das neue Gesetz verbietet es auch, Kinder ab 15 Jahren vor spezielle Gerichte für schwere Verbrechen des Erwachsenenstrafrechts (die für Fälle des orga-

reaktionen

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erFolGe

Foto: Pascal Broze / Reporters / laif

uno

Blaues Gold. 884 Millionen Menschen leben ohne sauberes Trinkwasser.

nisierten Verbrechens, Terrorismus und Staatssicherheit zuständig sind) zu stellen. Amnesty erinnert die türkischen Behörden in diesem Zusammenhang an ihre Verpflichtung, das Recht auf friedlichen Protest zu achten und zu schützen. Die Regierung solle nun öffentlich klarstellen, dass die Misshandlung von Demonstrierenden nicht toleriert werden kann. Zudem müssen die zahlreichen Berichte über Misshandlungen bei Polizeiaktionen und in Haftanstalten gründlich untersucht werden. Amnesty wird die Umsetzung der Gesetzesänderungen für Kinder genau beobachten. Die beschlossenen Änderungen sind erst dann ein durchschlagender Erfolg für die Menschenrechte, wenn kein Kind mehr unrechtmäßig inhaftiert und misshandelt wird.

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Foto: Suryashankar Dash

»Meilenstein für die Menschenrechte indigener Gemeinschaften.« Lado Sikaka, Sprecher der Dongria Kondh.

Weltweit beteiligen sich viele tausend Menschen mit Appellschreiben an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz drohende Menschenrechtsverletzungen verhindert und Menschen in Not hilft, zeigen diese Beispiele.

heiliGer berG

In einer außergewöhnlichen Entscheidung hat der indische Umweltminister Jairam Ramesh die kontroversen Pläne des britischen Bergbauunternehmens Vedanta Resources gestoppt, am heiligen Berg der indigenen Gemeinschaft der Dongria Kondh Aluminiumerz abzubauen. Vedanta hat eine »schockierende« und »eklatante Verachtung für die Rechte indigener Gruppen« gezeigt, sagte Minister Ramesh. Er zog auch die Rechtmäßigkeit der Raffinerie in Frage, die Vedanta bereits am Fuße des Berges errichtet hat. Die indigene Gemeinschaft führt seit acht Jahren mit dem Unternehmen einen Kampf um den heiligen Niyamgiri-Berg im indischen Bundesstaat Orissa. Der Tagebau würde zudem den Waldbestand

indien

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beschädigen, der für den Lebenserhalt der Dongria Kondh unerlässlich ist. Amnesty International hat die Entscheidung als »Meilenstein für die Menschenrechte indigener Gemeinschaften« begrüßt. Amnesty hat sich mehrfach für die Rechte der Indigenen eingesetzt. Zuletzt wurde Anfang August eine Eilaktion für die beiden indigenen Aktivisten Lado und Sana Sikaka gestartet. Sie waren auf dem Weg in die indische Hauptstadt Delhi, um gegen den Bau der Bauxitmine zu protestieren, als sie von Zivilpolizisten verschleppt wurden. Lado Sikaka wurde in einem Bezirksbüro des Geheimdienstes misshandelt. Zwei Tage später wurden die Aktivisten wieder freigelassen.

nach 14 jahren Frei

Nach 14 Jahren ist der politische Aktivist U Win Htein freigelassen worden. Weil er ausländische Journalisten, die über die Haftbedingungen politischer Gefangener berichteten, unterstützt hatte, wurde er zu einer langen Haftstrafe verurteilt. U Win Htein ist ein langjähriges Mitglied der Oppositionspartei »National League of Democracy« (NLD), die sich für einen demokratischen Wandel in

myanmar

Foto: Amnesty

einsatZ mit erFolG

U Win Htein

Myanmar einsetzt. Zudem war er der Privatsekretär von Aung San Suu Kyi. Die bekannte Oppositionspolitikerin und Friedennobelpreisträgerin befindet sich seit Jahren unter Hausarrest.

GeFährliche diamanten

Der Menschenrechtsverteidiger Farai Maguwu wurde Mitte Juli nach einem Monat in Haft gegen Kaution freigelassen. Er wird sich jedoch wegen »Veröffentlichung und Weitergabe von falschen, staatsgefährdenden Informationen« noch vor Gericht verantworten müssen. Maguwu ist Direktor der unabhängigen Organisimbabwe

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äGypten Er hatte sich für die Beduinen der Sinai-Halbinsel eingesetzt und dagegen protestiert, dass Tausende ihrer Häuser zerstört wurden. Deshalb wurde der ägyptische Schriftsteller, Blogger und Menschenrechtsaktivist Mussad Abu Fagr im Dezember 2007 festgenommen und angeklagt. Nun ist er endlich entlassen worden. Amnesty International hatte sich für den Blogger insbesondere im Rahmen des Briefmarathons 2009 eingesetzt. »Die Unterstützung von Amnesty International war ein Grund, weshalb ich wieder frei bin«, sagte er nach seiner Freilassung. »Die vielen Briefe haben mir ein Gefühl großer Solidarität vermittelt.«

todesstraFe umGewandelt

usa Der Gouverneur von Tennessee hat das gegen Gaile Owens verhängte Todesurteil in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt. Owens sollte am 28. September hingerichtet werden. Sie war schuldig befunden worden, die Ermordung ihres Ehemannes in Auftrag gegeben zu haben. In einer Erklärung teilte der Gouverneur Mitte Juli mit, dass der Fall neu eingestuft werden müsse. Unter anderem müssten bislang ungeklärte Vorwürfe über familiäre Gewalt aufgeklärt werden. Nach dem Gerichtsverfahren waren Beweise aufgetaucht, die nahelegen, dass Gaile Owens von ihrem Ehemann misshandelt wurde und auch ihre Kindheit von Missbrauch geprägt war.

Filmemacher aus der haFt entlassen

Der Regisseur Mohammad Ali Shirzadi wurde am 19. Juli gegen Kaution aus dem Evin-Gefängnis in Teheran entlassen. Er steht jedoch nach wie vor unter Anklage, weil er ein Interview mit dem regie-

iran

erFolGe

Mohammad Ali Shirzadi

rungskritischen Großayatollah Montazeri filmte. Das Interview wurde kurz nach dem Tod Montazeris im Dezember 2009 im persischen Programm der BBC ausgestrahlt. Der Menschenrechtler Emadeddin Baghi, der das Gespräch führte, wurde ebenfalls festgenommen und im Juni auf Kaution freigelassen. Anlass des Gesprächs mit Montazeri waren die Proteste gegen die umstrittenen Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen im Sommer vergangenen Jahres. Shirzadi ist Mitglied der Vereinigung zur Verteidigung der Rechte von Gefangenen, das von Baghi gegründet wurde. Das Büro der Organisation war im September 2009 von den Behörden geschlossen worden.

acht jahre Zu unrecht in haFt

usa Seit über acht Jahren befindet sich der Jemenite Adnan Farhan Abul Latif ohne Anklage oder Gerichtsverfahren in Guantánamo in Haft. Amnesty International startete im Mai 2009 eine Eilaktion für ihn, nachdem er bei einem Treffen mit einem Anwalt versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. Im Mai diesen Jahres teilte er seinem Anwalt mit, dass man ihn immer noch misshandle und er nach wie vor Selbstmordgedanken hege. Ende Juli urteilte ein US-Bundesrichter, Latif sei zu Unrecht in Haft und wies die US-Regierung an, »alle notwendigen und angemessenen diplomatischen Schritte zu unternehmen, um Latifs umgehende Freilassung zu bewirken«. Dennoch könnte es noch lange dauern, bis Latif in den Jemen zurückkehren kann. Seit Dezember 2009 haben die USA alle Überstellungen in das arabische Land eingestellt.

verbotene verbindunG

iran Narges Mohammadi, stellvertreten-

de Leiterin des iranischen Menschenrechtszentrums CHRD, wurde am 1. Juli freigelassen und kurz darauf in ein Kran-

kenhaus eingewiesen, weil sich ihr Gesundheitszustand rapide verschlechtert hatte. Mohammadi war drei Wochen zuvor verhaftet worden. Die Behörden hatten das Büro des Menschenrechtszentrums zwar im Dezember 2008 geschlossen, die Mitglieder blieben jedoch weiterhin aktiv. Nach den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr wurden viele von ihnen inhaftiert. Die Gründerin des CHRD, die Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi, lebt im Exil, da sie im Iran um ihre Sicherheit fürchtet. Sie hat bereits mehrere Morddrohungen erhalten. Narges Mohammadi wurde wiederholt zu Verhören vor Gericht vorgeladen. Dabei legte man ihr nahe, ihre Arbeit im CHRD einzustellen und den Kontakt zu Ebadi abzubrechen.

khaled jaradat ist wieder Frei

israel Am 17. Juli 2010 wurde der palästinensische Englischlehrer Khaled Jaradat aus dem Ketziot-Gefängnis in Israel entlassen. Er verbrachte über zwei Jahre ohne faires Gerichtsverfahren in Administrativhaft. Amnesty International hatte sich intensiv für seine Freilassung eingesetzt. Khaled Jaradat wurde Anfang März 2008 in der Nähe der Stadt Jenin unter dem Vorwurf verhaftet, er würde dem Islamischen Jihad angehören. Die Sicherheitsorgane legten keine Anhaltspunkte für diese Anschuldigungen vor, sodass sich Khaled Jaradat nicht verteidigen konnte. In Verletzung der Genfer KonventioKhaled Jaradat nen über die Verpflichtungen der Besatzungsmacht wurde Khaled Jaradat in ein Gefängnis innerhalb Israels verlegt. Seine Frau und seine Kinder konnten ihn nur ein einziges Mal im Gefängnis besuchen. Die Administrativhaft kann unbegrenzt verlängert werden – ohne Anklage und Prozess vor unabhängigen Gerichten. Sie wird von den israelischen Behörden gegen Personen verhängt, die als »Sicherheitsrisiko« bezeichnet werden, ohne dass die Beweislage für ein Gerichtsverfahren ausreichen würde. Die Praxis der Administrativhaft widerspricht internationalen Rechtsgrundsätzen. Amnesty fordert seit Jahren ihre Abschaffung.

Foto: privat

musaad abu FaGr kann wieder bloGGen

Foto: privat

sation »Center for Research and Development« und hatte Menschenrechtsverletzungen in den Marange-Diamentenfeldern aufgedeckt. Im Mai hatte er sich mit Beobachtern des Kimberley-Prozesses getroffen, die sicherstellen sollen, dass Diamanten nicht geschmuggelt werden, um kriegerische Konflikte zu finanzieren. Einen Tag nach dem Gespräch durchsuchten Sicherheitskräfte das Büro und die Privatwohnung von Maguwu, der sich wenig später der Polizei stellte.

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PANORAMA

Foto: Sven Torfinn / laif

aFGhanistan: taliban steiniGen liebespaar , Sie liebten einander, waren aber nicht verheiratet – deshalb mussten sie sterben. Die Taliban haben am 15. August in einem Dorf in der Provinz Kundus im Norden Afghanistans ein Liebespaar wegen »Ehebruchs« gesteinigt. Nach Angaben der Islamisten waren der 28-jährige Mann geschieden und die 20-jährige Frau mit einem anderen Mann verlobt. »Die Steinigung dieses Paares ist ein abscheuliches Verbrechen. Die Taliban und andere aufständische Gruppen verüben zunehmend grausame Menschenrechtsverstöße gegen Zivilisten«, sagte Amnesty-Experte Sam Zarifi. Erst wenige Tage zuvor hatten Taliban im Westen des Landes eine schwangere Witwe öffentlich ausgepeitscht und dann erschossen. Laut einem im August veröffentlichten UNO-Bericht sind am Hindukusch in der ersten Jahreshälfte insgesamt 1.271 Zivilisten durch Aufständische oder ausländische und einheimische Sicherheitskräfte getötet und 1.997 verletzt worden. Für 72 Prozent der Toten seien die Taliban und andere Aufständische verantwortlich. Das Foto zeigt ein Frauenzentrum in der Nähe von Kabul. Weitere Informationen auf www.amnesty.de

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% somalia: journalisten im FadenkreuZ Das Land am Horn von Afrika ist für Journalisten eines der gefährlichsten Länder der Welt, wie ein Kurzbericht von Amnesty International dokumentiert. Seit Februar 2007 wurden dort mindestens 20, fast ausschließlich einheimische Journalisten ermordet, allein neun im vergangenen Jahr. Sie starben bei Sprengstoffanschlägen, gerieten bei Kämpfen ins Kreuzfeuer oder wurden gezielt getötet. Die meisten Morde gehen auf das Konto aufständischer Gruppierungen, den islamistischen Milizen al-Shabab und Hizbul Islam, die jede unabhängige Berichterstattung verhindern. Doch auch die international anerkannte Übergangsregierung, die nur noch wenige Teile der Hauptstadt Mogadischu (Foto) kontrolliert, schikaniert Journalisten. Ende August kam es nach einer Offensive der islamistischen Milizen zu heftigen Kämpfen mit mindestens 115 Toten. Allein bei einem Angriff auf ein Hotel in Mogadischu töteten al-Shabab-Milizionäre 31 Menschen. Amnesty verurteilt gezielte Angriffe auf Zivilisten als Kriegsverbrechen. Zudem ruft die Organisation alle Konfliktparteien dazu auf, das Recht auf freie Meinungsäußerung zu respektieren und Journalisten nicht mehr länger gezielt zu attackieren und einzuschüchtern. Mehr Informationen auf www.amnesty.org

Foto: Adam Ferguson / The New York Times / Redux / laif

panorama

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Foto: Arno Burgi / dpa

NACHRICHTEN

»Wir sind begeistert über die Resonanz.« Polizist am Rande eines Fußballspiels in Leipzig, März 2008.

erFolGreiche amnesty-kampaGne Polizisten, die rechtswidrig Gewalt ausüben und im Dienst misshandeln, gehen zu oft straffrei aus. Mit dem aktuellen Bericht »Täter unbekannt« hat Amnesty International für Aufsehen gesorgt. Der Amnesty-Kampagne für mehr Transparenz und Verantwortung bei der Polizei in Deutschland haben sich binnen weniger Wochen Tausende angeschlossen. Bei Facebook und Twitter, in Blogs und Foren debattieren Interessierte über die Amnesty-Forderungen, mobilisieren

deutschland

Unterstützer und überzeugen andere, sich zu engagieren. »Wir sind begeistert über die Resonanz, die wir erfahren haben«, erklärt die Kampagnenkoordinatorin Barbara Hohl. Weit über 5.000 Menschen beteiligen sich an der Online-Demo und unterstützen somit die Amnesty-Forderungen nach einer individuellen Kennzeichnungspflicht für Polizisten, unabhängigen Untersuchungen, Videoaufzeichnungen im Polizeigewahrsam sowie nach mehr Menschenrechtsbildung bei

amnesty-aktivisten vor u2-konZert FestGenommen

russland/deutschland Sie wollten nur Unterschriften gegen Menschenrechtsverletzungen sammeln. Stattdessen landeten sie auf einer Polizeiwache: Am Rande des Moskau-Konzerts der irischen Rockband U2 hat die russische Polizei am 25. August fünf Aktivisten von Amnesty International vorläufig festgenommen. Ein Polizeisprecher erklärte, sie seien »vorsorglich auf die Wache geführt worden, um ihnen zu erklären, dass Konzert und politische Aktionen zwei verschiedene Dinge sind«. Der Leiter des Amnesty-

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Büros in Moskau, Sergej Nikitin, kritisierte die Festnahmen: »Es ist traurig, dass in Russland, das als ein zivilisiertes Land gilt, das Sammeln von Unterschriften die Behörden so beunruhigt.« Wenige Tage später, am 31. August, nahm die russische Polizei bei einer Kundgebung für Versammlungsfreiheit in Moskau über 130 Personen fest und ging mit Schlagstöcken gegen einige Teilnehmer vor. Bei den U2-Konzerten in Frankfurt, Hannover und München im August und September verlief hingegen alles reibungslos.

der Polizei. Über 3.000 Petitionen und E-Mail-Appelle für die Einführung einer Kennzeichnungspflicht wurden bisher an Bundesinnenminister Thomas de Maizière und den Berliner Innensenator Ehrhart Körting gesendet. Auch andere Organisationen unterstützen das Amnesty-Anliegen. So sprechen sich die Juristenverbände DAV und RAV für die Kennzeichnungspflicht aus. Demonstrieren Sie online und beteiligen Sie sich am E-Mail-Appell: www.amnesty.de/polizei

Vor Konzertbeginn warben die AmnestyAktivisten für die Kampagne »Wohnen. In Würde«. Später trugen sie Lampen mit dem Amnesty-Logo auf die von allen Seiten sichtbare Bühne. Wie schon 2009 setzen sich Amnesty und U2 auch dieses Jahr auf der 360°-Tournee mit der Gruppe One gemeinsam für die Friedensnobelpreisträgerin und gewaltlose politische Gefangene Aung San Suu Kyi aus Myanmar ein. Unter dem Jubel der Besucher bedankte sich Bono bei den Aktivisten: »Amnesty, keep up the campaign.«

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»Man kommt nicht als Peiniger zur Welt.« Françoise Sironi (geb. 1958) ist Universitätsdozentin für Psychologie in Paris und Gründerin eines Zentrums für Folteropfer.

interview

Françoise sironi

Während der Gewaltherrschaft der Roten Khmer in Kambodscha führte Kaing Guek Eav alias Duch das Gefangenenlager S 21, in dem 15.000 Menschen ermordet wurden. Die Psychologin Françoise Sironi erstellte für das Kambodscha-Tribunal das Profil des Verbrechers gegen die Menschlichkeit. Was dachten Sie, als Sie Duch zum ersten Mal gegenübersaßen? Mir war bewusst, dass dieses Gutachten den Opfern dient. Ich wollte dazu beitragen, dass es Gerechtigkeit gibt für jene zwei Millionen Menschen, die von den Roten Khmer getötet worden waren. Das Gutachten war nicht dafür da, seine Taten zu rechtfertigen, sondern den Opfern einen Einblick in den Werdegang dieses Mannes zu geben. Wie ist es zu erklären, dass ein einfacher Familienvater solche Bluttaten beging? Wie bei den anderen Verbrechern gegen die Menschlichkeit müssen wir über die normale, individuelle Psychologie hinausgehen, um zu verstehen, welche Ereignisse diese Leute geprägt haben. Bei Duch waren mehrere solche Ereignisse ausschlaggebend. Er hat eine ganze Reihe von Akkulturationsphasen durchlaufen, die oft mit erniedrigenden Erfahrungen verbunden waren. In seiner Jugend fühlte er sich wegen seiner chinesischen Herkunft abgewertet. Danach prägte ihn die Konfrontation mit der französischen Kultur und schließlich der Kommunismus. Als Zweites berücksichtigten wir seine Laufbahn im politischen Apparat der Khmer. Denn man kommt nicht als Peiniger zur Welt, man wird zu einem solchen gemacht. Duch war zuvor Mathematiklehrer. Seine Nomination als Chef von S 21 durch den Diktator Pol Pot und vor allem durch den Geheimdienstchef Son Sen, seinen Lehrer, nahm er mit Stolz an. Die Vorherrschaft der Kommunisten hat er nie in Frage gestellt. Er war überzeugt, dass die Roten Khmer einen positiven neuen Plan für die Gesellschaft vorlegen. Als Drittes folgte die

nachrichten

|

interview

Foto: Amnesty

im kopF eines massenmörders Analyse der Absichtlichkeit. Die Frage, ob ihm bewusst war, was er tat. Welchen Grad der Absichtlichkeit haben Sie festgestellt? Ihm war bewusst, was er tat, weil er seinen Leuten die Verhörmethoden beibrachte. Er war sehr stolz darauf, Instrukteur zu sein. Er war vom Sieg der Roten Khmer überzeugt und sah die im Gefangenenlager S 21 getöteten Menschen als quasi rituelle Opfer an, die nötig waren, um dem Kommunismus zum Durchbruch zu verhelfen. Er sagte während des Prozesses, dass die Folter nicht dazu da war, die Wahrheit aus den Leuten herauszupressen, sondern Methoden des Terrors waren. Nur wenige Menschen kamen lebend aus S 21 heraus. Zweifel kamen ihm erst später, als die Spitze des Regimes Duchs eigene Anführer hinrichtete. Der Prozess hatte also positive Auswirkungen auf ihn? Wir haben ihn an sechzehn Sitzungen getroffen und im Lauf der Zeit tatsächlich Veränderungen festgestellt. Er hat versucht, seine Handlungen zu rechtfertigen, und stritt nicht mehr kategorisch alles ab. Duch hat 90 Prozent der Anklagepunkte anerkannt, das ist bei diesem Typ von Kriminellem relativ selten. Er hat um Vergebung gebeten, aber er hat die Erwartungen der Opfer und der Öffentlichkeit nicht erfüllt. Die Menschen hätten es gern gesehen, wenn Duch Schuldbewusstsein und Reue gezeigt hätte. Doch das ist bei diesem Schlag von Verbrecher selten. Duch wusste aber um die Wichtigkeit des historischen Aspekts in diesem Prozess. Es war ihm bewusst, dass die Urteilsfindung es erlauben würde, ein Stück der dunklen Geschichte Kambodschas zu beleuchten, die bis dahin verschlossen war. Interview: Fabrice Praz Siehe auch die Meldung auf Seite 14.

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Foto: Cate Gillon / Getty Images

Unter Hausarrest. Aktivisten tragen Masken von Suu Kyi bei einer Protestveranstaltung in London.

ZweiFelhaFte wahl

Das Militärregime von Myanmar, dem ehemaligen Burma, hat für den 7. November die ersten Parlamentswahlen seit zwei Jahrzehnten angekündigt. Ob sie tatsächlich eine demokratische Wende in dem südostasiatischen Land

myanmar

einläuten können, ist jedoch mehr als zweifelhaft. So darf die bekannteste Politikerin des Landes, Oppositionsführerin und Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi (65), gar nicht antreten. Sie wird unter Hausarrest festgehalten und kommt

frühestens nach den Wahlen frei. Die Junta hat außerdem vor einigen Monaten mehrere Wahlgesetze erlassen, die jegliche Äußerungen verbietet, die nach ihrer Auffassung das Ansehen des Landes beschädigen könnten. Sie schließen große Bevölkerungsgruppen effektiv von der Wahl aus, indem sie all jenen das Wahlrecht entziehen, die nach Definition der Militärregierung z.B. »ungesund«, insolvent oder religiös sind (also auch die ca. 400.000 buddhistischen Mönche). Für die ethnischen Gruppen, die bis zu 40 Prozent der Bevölkerung ausmachen, bedeuten die neuen Gesetze ebenfalls starke Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Die Oppositionspartei NLD von Aung San Suu Kyi wurde im Frühjahr zwangsaufgelöst, weil sie sich weigerte, die Auflagen zur Wahlregistrierung zu erfüllen. Eine der Auflagen war, Suu Kyi aus der Partei auszuschließen. Im Vorfeld der Wahlen ist verstärkt mit Festnahmen zu rechnen. Nach dem Willen der Militärregierung wird nach den Wahlen eine Verfassung in Kraft treten, die Straflosigkeit für vergangene Menschenrechtsverletzungen festschreibt und den Präsidenten über das Gesetz stellt.

kambodscha Mit einem Schuldspruch wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist vor dem Sondertribunal für Kambodscha der erste Prozess gegen ein führendes Mitglied der Roten Khmer zu Ende gegangen. Das Gericht verurteilte Ende Juli den Folterchef des kommunistischen Regimes, Kaing Guek Eav alias Duch, zu 30 Jahren Haft. Unter der Herrschaft der Roten Khmer waren in den siebziger Jahren zwei Millionen Menschen ums Leben gekommen. Tatsächlich absitzen muss Duch aber wohl nur 19 Jahre. Das Tribunal verurteilte Duch zunächst zu 35 Jahren Haft, stufte die Strafe allerdings später herab, da er bereits vor der Einrichtung des Sondergerichts illegal in Haft gehalten worden war. Duch war während der Herrschaft der Roten Khmer zwischen 1975 und 1979 Leiter des berüchtigten Foltergefängnisses Tuol Sleng in der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh. Dort wurden mehr als 15.000 Menschen gefoltert und auf nahegelegenen »Killing Fields« hingerichtet. Das Sondertribunal sprach den Gefängnisaufseher der Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie der Kriegsverbrechen während des Pol-Pot-Regimes in dem südostasiatischen Land für schuldig. Für einen Schuldspruch wegen von Duch ausgeführter Folter sahen die Richter nicht genügend Beweise. Amnesty International begrüßte das Urteil, nannte den Prozess jedoch »nur den ersten Schritt in Richtung Gerechtigkeit« in Kambodscha. Duch ist einer der wenigen Führer der Roten Khmer, die noch am Leben sind. Der Prozess gegen vier weitere Führungsmitglieder soll im nächsten Jahr beginnen.

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Foto: Nic Dunlop / Panos Pictures

schuldspruch GeGen FoltercheF

Verurteilt wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Kaing Guek Eav alias Genosse Duch.

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Zeichnung: Oliver Grajewski

kolumne birGit svensson

irak: vertauschte rollen

Eigentlich sollten alle 1.500 noch verbliebenen Gefangenen des Camp Cropper am 15. Juli an die Iraker übergeben werden. Doch daraus wurde nichts. Der hintere Teil des Gefängnisses in der Nähe des Flughafens von Bagdad bleibt weiter unter amerikanischer Kontrolle. Der vordere ist den irakischen Behörden unterstellt. Eine Regelung, die die Schwierigkeiten des Rückzugs der US-Truppen aus dem Irak deutlich werden lässt. Camp Cropper befand sich noch in US-Hand, während alle anderen Haftanstalten schon übergeben worden waren. Der Rückzug der US-Truppen aus den irakischen Städten im vergangenen Sommer hatte auch die Übergabe zahlreicher Einrichtungen eingeläutet. Das schwer bewachte Regierungsviertel, die sogenannte Grüne Zone, wird inzwischen ebenso von irakischen Sicherheitskräften gesichert, wie die vordem von GIs bewachten Gouverneurspaläste in den Provinzen. Auch die Akte Camp Cropper sollte ursprünglich bis Ende August geschlossen sein, als die Operation »Iraqi Freedom« mit dem Abzug der US-Kampftruppen offiziell beendet wurde. Doch das Camp birgt eine politische Brisanz, der sich das US-Militär nicht so schnell entziehen kann. Hochrangige Baath-Parteimitglieder und Saddam-Loyalisten sitzen dort neben gefährlichen al-Qaida-Terroristen. Auch Saddam Hussein war nach seiner Verhaftung im Dezember 2003 bis zu seiner Hinrichtung drei Jahre später in dem Gefängnis untergebracht. »Wir wollen nicht, dass die Gefangenen der irakischen Regierung unterstellt werden«, sagt Amal Abdel-Qader, »wir wollen, dass sie in US-Haft bleiben.« Die Irakerin ist eine nahe Verwandte der Halbbrüder Saddam Husseins, Sabawi und Watban Ibrahim al-Hassan, die zum Tode verurteilt sind und in Camp Cropper einsitzen. Auch Saddams früherer Verteidigungsminister Sultan Hashim Hassan wurde vom Sondertribunal zur Hinrichtung durch den Strang verurteilt und protestiert ebenfalls gegen die Überstellung an die irakischen Behörden. Sie alle befürchten, dass die schiitisch dominierte Regierung sofort Rache üben werde und eine grausame Hinrichtung zelebriere, so wie dies mit Saddam Hussein geschehen sei. Ein Anwalt der Verurteilten pocht deshalb auf das Recht seiner Mandanten, unter US-Aufsicht zu bleiben. Die Amerikaner hätten das Sondertribunal eingerichtet, müssten also auch die Verantwortung für das Resultat übernehmen, so die Argumentation. Etwa 200 Gefangene im Camp Cropper bleiben also vorerst den Amerikanern unterstellt. Diese Haltung verblüfft auf den ersten Blick. Zwar waren die Amerikaner im Irak angetreten, um Demokratie und Menschenrechte zu bringen. Doch die Ereignisse im Gefängnis Abu Ghraib, die Fotos von Misshandlungen und Demütigungen der Gefangenen dort durch US-Sicherheitskräfte, ließen die hehren Absichten der Besatzer bald im Zwielicht erscheinen. Umfragen zeigten damals, dass die Mehrheit der Iraker ihren schnellen Abzug wollte. Dies änderte sich, je mehr Verantwortung der irakischen Regierung übertragen wurde und je mehr die Schwächen des politischen Prozesses zutage traten. Von einer unabhängigen Justiz ist der Irak heute so weit entfernt wie von der Fähigkeit demokratischer Meinungsbildung. Berichte über systematische Folter in Polizeigewahrsam mehren sich. Willkürliche Verhaftungen sind alltäglich. Monatelange Gefangennahme ohne richterliche oder anwaltliche Betreuung ebenfalls, staatliche Morde nehmen dramatisch zu. Traurige Bilanz: Der Irak lag im letzten Jahr nach China und Iran an dritter Stelle bei der Zahl der Hinrichtungen weltweit. Die Autorin ist freie Journalistin und lebt in Bagdad.

nachrichten

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kolumne

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Titel: Roma

Sie sind arm, sie sind anders und sie können nicht in Frieden leben. Nicht nur in Osteuropa werden Roma diskriminiert und verfolgt. Auch in Frankreich, Italien oder Deutschland sind Vorurteile weit verbreitet. Vor allem in Zeiten wirtschaftlicher und politischer Krisen dient die Minderheit als Sündenbock.

»Was zählt ist, dass wir Ruhe haben.« Roma-Familie in Sânmartin, Rumänien. Foto: Andreea Tanase

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»Haut ab!« Graffito am Zaun eines Roma-Hauses in Sânmartin, Rumänien.

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Foto: Andreea Tanase

Kollektiv bestraft…

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…werden gerade wieder einmal Roma und Fahrende, nachdem einige wenige Jugendliche im französischen Saint-Aignan durch gewalttätige Proteste auffällig wurden. Statt gezielt diesem Vorfall nachzugehen, will Präsident Sarkozy die angeblichen »Probleme mit dem Verhalten der Roma und Fahrenden« lösen, indem er 300 ihrer illegalen Siedlungen schließen und 700 rumänische Roma in ihr Herkunftsland abschieben lässt. Der Historiker und Antiziganismus-Forscher Wolfgang Wippermann verweist im Interview mit dem Amnesty Journal darauf, dass es kein »RomaProblem« gibt. Vielmehr wurden Vorurteile gegenüber dieser großen Minderheit nie ernsthaft bekämpft. Die Vorstellung, Roma würden »böse Dinge tun«, ist überall in Europa verbreitet. Ob in Rumänien, Serbien, Italien, Frankreich oder Deutschland – Roma, Sinti und Fahrende sind nicht erwünscht. Roma leben in ganz Europa am untersten Rand der Gesellschaft. Viele sind schlecht ausgebildet, weil sie auf Sonderschulen geschickt und nicht ausreichend gefördert werden. Auf dem Arbeitsmarkt können sie deshalb nur schwer bestehen. Roma leben häufig in abbruchreifen Häusern oder in zu kleinen, notdürftig zusammengezimmerten Hütten, in denen es keinen Strom, kein Wasser und keine Abwasserentsorgung gibt. Selbst aus diesen Unterkünften werden Roma immer wieder rechtswidrig vertrieben. Keno Verseck beschreibt in seiner Reportage aus Rumänien das Leben von Roma in einem Dorf in Siebenbürgen, in dem sie nicht einmal mehr vor gewaltsamen Übergriffen sicher sein können. Es ist verstörend zu lesen, wozu es führen kann, wenn man Angehörige einer Minderheit zu Sündenböcken macht. Seit Jahrzehnten bemühen sich zahlreiche Projekte um eine Beendigung der Diskriminierung und Stigmatisierung von Roma. In dieser Ausgabe können Sie erfahren, wie wenig das bis heute gelungen ist. Anstatt sie einfach ins nächste Land abzuschieben, müssen die Regierungen Europas endlich mit einer gemeinsamen Strategie dafür sorgen, dass Roma, Sinti und Fahrende als gleichberechtigte Mitbürger ihre Menschenrechte wahrnehmen können. Amnesty International bemüht sich darum – helfen Sie uns dabei: www.amnesty.de/wohnen Imke Dierßen ist Europa-Expertin der deutschen Amnesty-Sektion.

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»Der Friede wird nicht von Dauer sein.« Roma-Familie in Sâncraieni.

»Sie haben das im Blut« Besonders in Zeiten von Wirtschaftskrisen nimmt der Hass gegen Roma zu. So wie in einigen Dörfern in Rumänien. Dort wollen viele Bewohner die unliebsame Minderheit lieber heute als morgen verjagen. Eine Spurensuche in Siebenbürgen. Von Keno Verseck (Text) und Andreea Tanase (Fotos)

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er Bürgermeister faltet die Hände, holt Luft und atmet entnervt aus. Er versteht nicht, warum man noch wegen der Zigeuner kommt und nachfragt, es ist doch schon ein Jahr vergangen und seither wieder alles friedlich. »Die meisten Zigeuner haben sich angepasst«, sagt Ernö Székely, »von Diebstählen habe ich nichts mehr gehört, es gab also einen Fortschritt. Aber in bestimmter Hinsicht können sie sich nicht ändern, sie sind und bleiben eben Zigeuner.« Worin äußert sich das? »Sie benutzen keine Toiletten«, sagt Ernö Székely. »Und wirklich ernsthafte Arbeit kann man ihnen nicht geben, sie sind unfähig, sie zu erledigen, sie können höchstens die Straße fegen.« In der Dorfbar, dort, wo vor einem Jahr alles begann, sitzt der Tierarzt Ferenc Bors vor seinem Bier und blickt in den Raum. »Der Friede wird nicht von Dauer sein«, sagt er. »Wir haben hier ein Sprichwort. ›Der Zigeuner kann morgens und mittags keiner sein, abends ist und bleibt er doch ein Zigeuner.‹ Sie haben das im Blut, es ist einfach ein genetisches Problem.«

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Gegenüber der Bar befindet sich die »Zigeunerzeile«, wie sie im Dorf heißt, ein Gelände, etwa dreißig mal fünfzig Meter, auf dem in winzigen, halbverfallenen Holzhütten zwanzig RomaFamilien leben, zusammen mit Pferden, Ziegen und Hunden. Niemand hat eine feste Arbeit, fast alle sind Analphabeten. Die Kinder spielen im Dreck, es gibt ein, zwei Fernseher mit Satellitenantenne, einen einzigen Wasserhahn, keine Kanalisation. Zwischen den Hütten, umringt von Männern, steht der Bulibascha János Gráncsa, 54, der Führer der Roma im Dorf. Er wohnt weiter oben am Dorfrand mit seiner Familie in einem richtigen Haus. Gráncsa streicht sich bedächtig über seinen langen, grauen Schnauzbart. »Der Zigeuner kann jetzt wieder friedlich neben dem Ungar auf der Straße gehen, Gott sei´s gedankt«, sagt er. Die Männer aus den Hütten, die um ihn herumstehen, nicken schweigend. Gráncsa will nichts mehr aufwühlen. Nicht mehr jede hässliche Bemerkung, die irgendwo im Dorf über seine Leute und ihn fällt, so ganz genau hören. Kann man die Ausschreitungen gegen die Roma im Dorf, die nur knapp verhinderte Lynchjustiz vergessen? Gráncsa lächelt. »Was zählt, ist, dass wir Ruhe haben, Gott sei’s gedankt«, sagt er. Er versucht, gelassen zu klingen, doch man hört die Zweifel in seiner rauen Stimme, man hört die Angst. Spurensuche in Sâncraieni, ein Jahr danach: In dem 2.400Einwohner-Dorf im Szeklerland in Ostsiebenbürgen, eine Gegend überwiegend bewohnt von der ungarischen Minderheit Rumäniens, war es am 9. Juli 2009 zu schweren Ausschreitungen gegen die rund 200 Roma im Dorf gekommen. Auslöser: Ein Streit zwischen einem Ungar und einem Rom in der Dorfbar am Tag zuvor. Ersterer hatte, so die Version der Polizei, mit einem Hocker nach dem Rom geworfen, der dann auf den Ungarn mit einem Messer einstach und ihn schwer verletzte. Die Polizei leitete ein Ermittlungsverfahren gegen den Rom ein, ließ ihn jedoch unter der Auflage täglicher Meldepflicht wieder frei. Daraufhin versuchten die Ungarn im Dorf, das Gesetz selbst in die Hand zu nehmen. Am Tag nach dem Streit versammelten sich rund 400 Personen vor der »Zigeunerzeile« und verlangten die Auslieferung des Messerstechers. Die Roma flohen, die wütende Menge verwüstete ihre Häuser, jemand zündete einen Heuhaufen in einer Scheune an, ein Pferd, das darin angebunden war, verbrannte lebendig. Bevor die Menge Menschen lynchen konnte, traf aus der nahegelegenen Kreisstadt Miercurea Ciuc eine Hundertschaft Polizei ein und zerstreute den Mob. Die Polizei blieb noch tagelang. Langsam kehrten die Roma ins Dorf zurück. Der Messerstecher kam in Untersuchungshaft. Die Polizei konnte keinen der Randalierer dingfest machen. Vier Tage nach den Ausschreitungen legten der Bürgermeister und neun Mitglieder des Gemeinderates dem Bulibascha János Gráncsa einen schriftlichen »Pakt für ein friedliches Zusammenleben« vor. Er umfasste elf Punkte. Unter anderem: das Verbot, Hunde zu halten, wenn diese nicht angeleint sind; das Verbot für Roma, Weide- und Ackerland zu betreten; das Verbot der Pferdehaltung für Roma, die nicht mindestens selbst einen halben Hektar eigenes oder Pachtland besitzen; die Verpflichtung zu »zivilisiertem Verhalten« sowie die Verpflichtung, »Diebstähle einzustellen«. Es war in der postkommunistischen Geschichte Rumäniens ein einzigartiger Vertrag. János Gráncsa und weitere zwölf Vertreter der Roma von Sâncraieni unterschrieben. Sie dachten nicht über Kollektivstrafen nach und nicht darüber, ob der Pakt

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Niemand hier hat einen Schulabschluss, niemand eine feste Arbeit. Die Dorfbar, in der alles begann (links oben). Straßenszene in Sâncraieni (links unten). Mária Gráncsa, Mutter von drei Kindern, hat ihr ganzes Leben in dem Ort verbracht (rechts).

Grund- und Bürgerrechte außer Kraft setzte. Sie wollten im Dorf bleiben. Sie hatten Angst, sie würden vertrieben werden, wenn sie nicht unterschrieben. »Ich habe dem Volk damals versprochen, dass wir Zigeuner uns anständig verhalten werden«, sagt János Gráncsa heute, »und daraufhin hat sich das Volk dann beruhigt«. Frage an den Bürgermeister: Hat die Staatsanwaltschaft wegen des »Paktes« ermittelt? Ernö Székely versteht die Frage nicht. »Niemand hat ermittelt! Warum auch?«, sagt er aufbrausend. »Ich kann doch private Verträge abschließen, mit wem ich will!« Die Ausschreitungen in Sâncraieni waren der schwerste Fall kollektiver Gewalt gegen Roma in Rumänien seit mehr als einem Jahrzehnt. Bis Mitte der neunziger Jahre hatte es im Land Dutzende pogromartiger Angriffe auf Roma gegeben, in einem besonders schweren Fall waren 1993 in dem siebenbürgischen Dorf Hădăreni drei Roma unter den Augen örtlicher Polizisten gelyncht worden. In den folgenden Jahren hatten rumänische Behörden jedoch – vor allem auf Druck von Bürgerrechtsorganisationen und der EU – konsequenter gegen antiziganistische Gewalttäter durchgegriffen und die Ausschreitungen damit eingedämmt. Und nun wieder. Ein Einzelfall, ein unglücklicher Zufall? Wohl nicht. Es gärt zwischen Roma einerseits und der Mehrheit andererseits. Wie überall in Osteuropa so auch in Rumänien. Die Roma verlieren den sozialökonomischen Anschluss, sie sind die Hauptverlierer des Übergangs zur Marktwirtschaft, von Globalisierung und Weltwirtschaftskrise, und sie sind seit einigen Jahren auch Opfer eines rassistischen Diskurses, der in Osteuropa stark zunimmt. Innerhalb Rumäniens gärt es besonders im Szeklerland. Die Region ist gegenüber dem Rest des Landes weit zurückgeblieben. Schon der Diktator Ceausescu und sein Apparat waren an der sozialen, ökonomischen und infrastrukturellen Entwicklung der Minderheitenregion nicht interessiert, und an dieser Politik hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten wenig geändert. Bereits vor 1989 setzte ein Exodus nach Ungarn ein, inzwischen ist die Elite der ungarischen Minderheit größtenteils ausgewandert. Die ungarisierten Roma der Gegend leben bis auf wenige Ausnahmen unter besonders elenden Bedingungen, die sozialen und kulturellen Bindungen zu anderen Roma im Land sind abgeschnitten.

Spurensuche, ein Jahr danach Sâncraieni ist eines der wenigen besser situierten Dörfer im Szeklerland. Im Unterschied zu den meisten anderen Orten gibt es hier einen großen Betrieb: die Mineralwasserfabrik »Perla Harghitei«, in der rund 350 Leute arbeiten. Ansonsten sieht es aus wie in den meisten Dörfern in der Region: Bescheidene alte Bauernhäuser mit großen Gärten, Kühe, Schweine, Ziegen, Hühner und Gänse in den Höfen, auf der Dorfstraße gibt es viel Pferdewagenverkehr. Die meisten Leute leben von einer museumsreifen Subsistenzwirtschaft.

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Mitten im Dorf, an der Hauptstraße das kleine Roma-Ghetto mit seinen winzigen, elenden Hütten aus Holz, Lehm und Wellasbest. Hier, am Schauplatz der Ausschreitungen von vor einem Jahr, wohnt die eine Hälfte der 200 Roma im Ort. Fast alle heißen Gráncsa oder Restás, doch die meisten sind nur entfernt miteinander verwandt. Niemand hier hat einen Schulabschluss, niemand eine feste Arbeit. Im Hof spielen Kinder, Frauen in bunten Röcken waschen in Emailleschüsseln Wäsche, eine Romni schrubbt die Dielen ihrer Hütte, Männer mit schwarzen Hüten palavern. Niemand möchte daran erinnert werden, was damals geschah. Ja, es habe einige Heudiebstähle gegeben, und der Messerstecher sei ein Radaubruder gewesen, sagen die Männer und Frauen widerwillig, aber jetzt herrsche Friede. Die Roma leben hier seit Generationen. Sie nennen die Ungarn im Dorf wahlweise »das Volk« oder »die Einwohnerschaft«. »Jetzt haben wir ein gutes Verhältnis zur Einwohnerschaft«, sagt Zoltán Gráncsa, 26, einer der Männer. Was halten sie von dem »Pakt für ein friedliches Zusammenleben«? Die Männer zucken die Schultern, sie können nicht lesen, der Bulibascha János Gráncsa hat ihnen nur gesagt, was drin steht. »Es gibt keine Probleme mehr«, wiederholen einige der Männer. »Nur Arbeit, von der wir unsere Familien ernähren können, haben wir nicht.« In einer der Hütten wohnt Mária Gráncsa, die Frau des Messerstechers. Sie ist klein, zierlich, 28 Jahre alt. Ihre Gesichtszüge

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haben etwas Jugendliches und zugleich etwas sehr Herbes. Bevor sie den Besucher einlässt, rückt sie ihr Kopftuch zurecht, bittet eine Nachbarin zu sich und zieht ihre besten Kleider an, einen geflickten rötlichen Taftrock und eine dunkle Bluse mit gelben Blümchen. Mária Gráncsa lebt mit ihren drei Kindern, sechs, acht und zehn Jahre alt, auf drei mal vier Quadratmetern. In der Holzhütte stehen ein Bett, zwei Tische, zwei Stühle, ein Schrank, ein eiserner Ofen und ein Sack Kartoffeln. Über dem Bett hängt ein Bild der Heiligen Jungfrau mit dem Jesuskind. Auch Mária Gráncsa will sich nicht gern erinnern. Sie weiß noch, dass ihr Mann Gábor am Nachmittag des 8. Juli 2009 mit Platzwunden am Kopf und blutüberströmt nach Hause kam, kurz darauf brachte ihn ein Rettungswagen ins Krankenhaus, ebenso wie den Ungarn, auf den er eingestochen hatte. Am nächsten Tag floh Mária Gráncsa vor dem wütenden Mob mit ihren drei Kindern in den Wald und kam dann nach einer Nacht unter Polizeischutz wieder. Da saß ihr Mann schon in Untersuchungshaft. Einige Wochen später wurde er zu neun Jahren Gefängnis verurteilt, die Höchststrafe für versuchten Mord. Seitdem muss Mária Gráncsa allein klarkommen. Sie lebt wie alle anderen hier von Sozialhilfe, umgerechnet 30 Euro im Monat. Dafür muss sie an zwei Tagen pro Woche im Dorf gemeinnützige Arbeit leisten, auf den Dorfstraßen kehren oder Müll einsammeln. Wenn es bei Bauern Arbeit auf den Feldern gibt, verdingt sie sich als Tagelöhnerin, von sieben Uhr früh bis

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sZeklerland

Szeklerland Mircurea Ciuc Sâncraieni

Sânmartin

Rumänien

Als Szeklerland wird das Gebiet im östlichen Teil von Siebenbürgen in Rumänien bezeichnet. In dem Gebiet wohnen vor allem Angehörige der ungarischen Minderheit. Insgesamt leben rund 1,5 Millionen Menschen ungarischer Abstammung in Rumänien. Sie sind damit nach den Roma die zweitgrößte Minderheit in dem Land.

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sieben Uhr abends, für sieben Euro und drei Mahlzeiten. Außerdem bekommt sie noch zehn Euro Kindergeld monatlich pro Kind. Sie hat ihr ganzes Leben lang hier im Dorf gelebt, mit siebzehn ihren Mann Gábor geheiratet, seitdem wohnt sie in dieser Hütte. Sie kann sich nur schlecht ausdrücken, sie ist nie zur Schule gegangen. Sie könnte ihren Mann jede Woche im Gefängnis in der Kreisstadt Miercurea Ciuc besuchen, es sind sieben Kilometer mit dem Maxi-Taxi oder dem Zug, aber sie hat das Geld dafür nicht, deshalb besucht sie ihn höchstens alle zwei Monate. »Jetzt gibt es keine Probleme mehr mit der Einwohnerschaft, Gott sei Dank«, sagt sie, »aber ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Mein Mann hat so viele Jahre bekommen, wovon soll ich meine Kinder ernähren und Brennholz für den Winter kaufen?« Wie es weitergehen soll, darüber sinniert auch der Bulibascha János Gráncsa, der Führer der Roma im Dorf. Er hat warme, gütige, ein wenig furchtsam blickende und zugleich sehr lebenserfahrene Augen. János Gráncsa ist einer der wenigen Roma im Dorf, die fließend lesen und schreiben können, er hat vor 1989 in der landwirtschaftlichen Genossenschaft, dann in der Mineralwasserabfüllung gearbeitet, er war sogar Parteimitglied, jetzt betreibt er ein wenig Landwirtschaft. Seit Generationen lebt seine Familie hier im Dorf, seit Generationen hat sie das Amt des Bulibaschas inne, Gráncsa selbst hat es 1984 von seinem Vater übernommen, da war er gerade 28 Jahre alt. Es ist ein Ehrenamt, er muss schlichten, wenn es Streit

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gibt, er organisiert Hilfe, wenn jemand stirbt oder in großer Not ist, und wenn die Dorfpolizei etwas von einem Rom will, dann ruft sie meistens erst einmal ihn an. Der Bürgermeister nennt ihn mit ironischer Herablassung »Häuptling« und duzt ihn natürlich. Gut möglich, dass er ihm manchmal etwas Geld zusteckt. Das Bulibascha-System ist eine archaische und ziemlich undurchsichtige Sache für ein EU-Land. Aber es passt gut in die byzantinische Vetternwirtschaft, die in Rumänien herrscht. Natürlich kann man mit János Gráncsa über solche prämodernen Strukturen nicht diskutieren, ebenso wenig wie über Kollektivstrafen und über Grund- und Bürgerrechte. Er will Ruhe, er will Arbeit für seine Roma, er will, dass sie ein wenig Anschluss finden. Wie könnte das gelingen? János Gráncsa sitzt in der guten Stube seines Hauses, sie ist über und über bemalt mit bunten Blumenmustern, viele Teppiche liegen aus, und auf dem Bett türmen sich Kissen mit feinen Bezügen. Am Tisch sitzt neben dem Bulibascha sein Enkel, auch er heißt János. Er ist ein schmaler Junge mit feinen, leicht melancholischen Gesichtszügen, 15 Jahre alt, der ganze Stolz der Familie. Denn er hat es als erster und einziger Rom im Dorf seit Menschengedenken aufs Gymnasium in die Kreisstadt geschafft. Voller Zärtlichkeit blickt der alte Gráncsa seinen Enkel an, und dann antwortet er auf die Frage.

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Vielleicht wird der Hass niemals aufhören. Der Bulibascha und sein Enkel (links). János bringt seinem Vater das Schreiben bei (rechts). Grundschule in Sânmartin (links unten).

»Lernen, lernen, lernen.« Der alte Gráncsa hat sechs Kinder, vier Söhne und zwei Töchter, niemand von ihnen kann richtig lesen und schreiben. János der Enkel aber hat offenbar Talent. Das Glück des kleinen Jungen in der Grundschule war eine Lehrerin, die nichts gegen Zigeuner hatte, die ihn beiseite nahm und ihm beim Lernen half, und später war sein Glück der Schuldirektor, der die Gráncsas ermutigte, den Jungen aufs Gymnasium zu schicken. Jetzt ist es soweit gekommen, dass János seinem Vater und seinen Onkeln dabei hilft, Lesen und Schreiben zu lernen, denn auch sie wollen das jetzt können. János träumt davon, Architekt zu werden, er würde gerne studieren. »Aber ob das klappt…«, fragt er zweifelnd. »Das Geld dafür haben meine Eltern jedenfalls nicht.« Der Vater von Emese Jóni hatte Geld. Er legte Wert auf die Bildung seiner Tochter, nicht darauf, dass sie möglichst schnell

heiratet. Sie durfte studieren, sie wurde Soziologin. Jetzt will sie etwas von dem, was sie erhalten hat, zurückgeben. Seit den Ausschreitungen kommt sie jeden Tag für drei, vier Stunden zu den Roma ins Dorf und hört sich ihre Sorgen an. Es ist keine dankbare und keine gut bezahlte Arbeit, aber sie will verhindern, dass es noch einmal soweit kommt wie letztes Jahr. Die 37-Jährige stammt aus einer bekannten siebenbürgischen Dynastie von Roma-Musikern, sie wuchs in Miercurea Ciuc auf, ihr Vater ist ein Violinvirtuose. Ihre langen schwarzen Haare mit den blonden Strähnchen hat Emese Jóni fesch hochgesteckt, sie trägt ausgewaschene Jeans, dazu ein weißes Top mit aufgedruckten Blümchen. Und doch wirkt sie nicht flippig, sondern ernst und bodenständig. Sie arbeitet seit acht Jahren als so genannte Mediatorin: Sie geht in Roma-Gemeinden, berät vor allem Frauen in Gesundheitsfragen und Familienplanung, ermutigt Eltern, ihre Kinder in die Schule zu schicken, organisiert Arztbesuche und Impfungen, hilft bei Behördengängen und bei der Arbeitssuche – kurz, sie leistet umfassende Sozial- und Betreuungsarbeit. Nach den Ausschreitungen im vergangenen Jahr stellte der Bürgermeister Emese Jóni an. Sie soll kontrollieren, ob die Roma den »Pakt für ein friedliches Zusammenleben« auch einhalten. Emese Jóni könnte sich empören über dieses Papier und über den Bürgermeister, aber sie sieht die Sache pragmatisch. »Irgend jemand muss sich doch darum kümmern, dass die Roma Anschluss finden«, sagt sie. Haben sie den inzwischen gefunden? »Es herrscht mehr Sauberkeit und Hygiene«, sagt sie, »die Leute versuchen, Essenzeiten für ihre Kinder einzuhalten, sie schicken sie in den Kindergarten und regelmäßiger zur Schule, wir haben sie impfen lassen. Das ist ein großer Fortschritt. Doch es bedarf noch vieler Jahre Arbeit. Vor allem aber brauchen die Leute selbst eine Perspektive. Im Sommer kommen sie mit Tagelöhnerarbeit gerade so über die Runden. Aber im Winter nur von Sozialhilfe zu leben, das ist wirklich eine Kunst.« Müsste man nicht eigentlich auch bei den Ungarn im Dorf Sozialarbeit machen? Um Vorurteile abzubauen? Emese Jóni lacht. Sie überlegt eine Weile, dabei wird ihre Miene immer ernster. »Es wird noch lange dauern, bis die Roma einigermaßen akzeptiert sind. Vielleicht wird der Hass auch niemals aufhören.« Kinga Tompos und Andrea Kis haben die Roma nicht gehasst, sie hatten niemals schlechte Erfahrungen mit ihnen gemacht. Aber sie fanden, dass es Menschen gibt und Zigeuner.

Der alte Gráncsa hat sechs Kinder, vier Söhne und zwei Töchter, niemand von ihnen kann richtig lesen und schreiben. titel

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Keine schlechte Erfahrung. Mediatorin Emese Jóni (Mitte) mit den Lehrerinnen Kinga Tompos und Andrea Kis.

»Sie sind einfach Menschen, genauso wie wir.« Emese Jóni bei der Arbeit.

So hatten es ihnen ihre Eltern beigebracht. Heute schämen sie sich dafür. Die beiden Frauen, 34 und 29, sind Lehrerinnen an der Grundschule in Sâncraieni. Vergangenen Herbst fragten Emese Jóni und der Schuldirektor, ob sie einen Alphabetisierungskurs für erwachsene Roma machen würden. Sie lehnten entrüstet ab, sie hatten Angst vor den Männern mit den schwarzen Hüten. Emese Jóni redete auf die beiden Frauen ein, versprach, dass sie in den ersten Unterrichtsstunden dabei sein würde. Der obligatorische Alphabetisierungskurs für Erwachsene war ein Punkt aus dem »Pakt für ein friedliches Zusammenleben«. Emese Jóni hatte den Punkt ernst genommen. Auf ihr Betreiben hin bezahlte das Bürgermeisteramt die beiden Lehrerinnen. Im November vergangenen Jahres begann der Kurs, zwei Mal pro Woche eine Doppelstunde Lesen und Schreiben. Von anfangs siebzehn Männern blieben zwölf. »Mein Bild über sie hat sich schnell völlig geändert«, sagt Kinga Tompos, »sie waren pünktlich, sauber angezogen, haben fleißig gelernt und uns respektvoll behandelt. Sie sind einfach Menschen, genau wie wir.« Im Januar strich der Bürgermeister das Geld für den Kurs. Die beiden Lehrerinnen machten erst einmal weiter. Im April baten sie freundlich um ihren Arbeitslohn. Der Bürgermeister schimpfte, er sagte, die Zigeuner würden ohnehin nicht lernen, das sei doch klar, deshalb habe so ein Kurs auch gar keinen Sinn. Er duzte die Lehrerinnen und sagte ihnen, sie würden Geld für den Monat Mai bekommen und dann sei Schluss. Die beiden Frauen sind noch heute enttäuscht über die herablassende Behandlung. Niemand aus dem Bürgermeisteramt hat ihre Arbeit und die Lernergebnisse der Roma gewürdigt oder wenigstens nur einmal hospitiert. Dafür hat Emese Jóni von einer privaten Stiftung eine Finanzierung für einen Folgekurs bekommen. »Ab Herbst geht es weiter«, sagt Kinga Tompos

begeistert, »wir haben wegen des vorzeitigen Kursendes ja nicht alle Buchstaben geschafft.« Wie viele Ungarn im Dorf waren bereit, ihr Bild von den Roma zu hinterfragen? Nicht viele, sagt Emese Jóni lapidar. Sind die Lehrerinnen eher eine Ausnahme? Ja, sagt Emese Jóni. Ist das wenig nach einem Jahr Arbeit? Viel? Emese Joni weiß nicht, was sie sagen soll. Vielleicht muss man woandershin blicken, um zu ermessen, was sie erreicht hat, in den Nachbarort, wo niemand wie sie arbeitet.

Spurensuche fünf Kilometer weiter, in Sânmartin Es ist ein ähnliches Dorf, die Roma leben unter ähnlichen Bedingungen, nur ein großer Betrieb mit vielen Arbeitsplätzen fehlt. Auch dort kam es im vergangenen Jahr zu Ausschreitungen. Anlass waren die Pferde einer Roma-Familie, die auf einer privaten Wiese geweidet hatten. Als sie der Aufforderung nicht nachkamen, sie zu entfernen, hatten sich Dutzende Dorfbewohner zusammengetan und sämtliche Roma aus dem Dorf vertrieben und deren Häuser demoliert. Auch hier verhinderte nur ein tagelanger Polizeieinsatz Schlimmeres. Einige Roma-Familien verbargen sich wochenlang in umliegenden Wäldern oder bei Verwandten in anderen Dörfern. Noch immer sind Schmierereien mit Hetzparolen auf den Holzzäunen um einige Grundstücke der Roma zu sehen, noch immer erzählen einige Roma mit Schrecken davon, wie sie im vergangenen Jahr tagelang in den Wäldern umherirrten, wie sie von Männern auf Quad-Motorrädern gejagt wurden. Es gibt kleine Lebensmittelgeschäfte im Dorf, in denen Roma nicht bedient werden. Schikanen, wohl mit dem Ziel, die Roma aus dem Dorf zu vertreiben. Die Ruhe im Ort ist zum Zerreißen angespannt.

Einige Roma erzählen mit Schrecken davon, wie sie tagelang in den Wäldern umherirrten, wie sie von Männern auf Quad-Motorrädern gejagt wurden. 26

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rumänien: leben in der GiFtZone

Die Ruhe ist zum Zerreißen angespannt. Roma-Kinder in Sânmartin.

Vielleicht merkt man das nirgendwo deutlicher als im Haus von Levente Birtalan. Der 30-Jährige ist ein smarter, gutaussehender Kleinunternehmer mit einer schwarzen Kurzhaarfrisur. Er handelt mit Papierwaren und Büroausstattungen, er ist Vater zweier kleiner Kinder. Im Wohnzimmer der Birtalans hängt ein Bogen an der Wand. Levente Birtalan nimmt ihn, legt einen Pfeil ein und spannt die Sehne. »Die Pfeile habe ich selbst gefertigt«, sagt er, »sie können Leben auslöschen.« Er schaut den Besucher prüfend an. »Kommen Sie mal!« Draußen im Garten spielen die Kinder Mátyás und Orsólya, fünf und drei Jahre alt. Am hinteren Hofende steht eine Scheune. »Es war in einer Nacht, im Januar 2009«, erzählt Levente Birtalan, »da hörte ich in der Scheune Geräusche. Ein Zigeuner war eingebrochen. Ich nahm meinen Bogen und stellte ihn. Ich drückte ihm eine Schaufel in die Hand und befahl ihm, sein eigenes Grab zu graben. Als er fertig war, nahm ich eine Flasche Schnaps, wir tranken beide ein Glas, dann sagte ich, er solle zu seinen Zigeunern gehen und ihnen sagen, das nächstes Mal jemand tot in dem Grab liegen werde. Seitdem hat sich nie wieder einer blicken lassen.« Birtalans Kinder spielen im Sand und hören die Geschichte halb mit an. Als eines hinfällt und weint, springt sein Vater schnell herbei und tröstet es. Birtalan ist ein liebevoller Vater. Wie würde er die Probleme der Roma lösen? Er grinst. »Was bedeutet das: Einen Zigeuner in Schwefelsäure zu werfen?« Er wartet einen Augenblick. Dann sagt er: »Das Problem zu lösen.« Er lacht. In seinen Augen lodert Hass. Und noch viel mehr als das. Etwas Krankhaftes. Man möchte es nicht weiter ergründen, man möchte gehen. »Mal im Ernst«, fährt er fort, »ich würde sie zur Zwangsarbeit in Bergwerke schicken, da passieren ja ab und zu auch Unfälle, und dann gehen wenigstens ein paar von ihnen drauf. Oder man gibt ihnen ein Reservat, schließt sie dort eine Zeit lang ein und schaut, was passiert.« Zum Abschied erteilt Levente Birtalan dem Besucher noch einen Rat. »Reden Sie nicht zuviel mit den alteingesessenen Bauern im Dorf. Die haben wirklich drastische Ideen zur Lösung des Zigeunerproblems.« Der Autor arbeitet als freier Journalist zu südosteuropäischen Ländern.

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Drei Viertel der 2,2 Millionen Roma in Rumänen leben in Armut, und immer wieder sind Behörden direkt für ihre prekäre Situation verantwortlich. So auch in der zentralrumänischen Stadt Miercurea Ciuc. Dort vertrieben die Behörden 2004 mehr als hundert Roma aus einem Gebäude in der Stadtmitte und siedelten sie außerhalb der Stadt wieder an – in Metallcontainern und in unmittelbarer Nähe einer Kläranlage. Seit nunmehr sechs Jahren leben etwa 75 Roma – darunter Familien mit kleinen Kindern – in Metallcontainern und Behelfshütten unter katastrophalen Bedingungen, die in keiner Weise den Grundvoraussetzungen für angemessenes Wohnen entsprechen. Der Boden ist verseucht, die Container und Hütten bieten keinen Schutz vor Kälte und starkem Regen, und der Gestank der Kläranlage ist unerträglich, vor allem in den Sommermonaten. Etwa 25 Roma zogen es in ihrer Not vor, sich wenige Kilometer entfernt in Notunterkünften am Rande einer Müllhalde niederzulassen. Ursprünglich hatten die Behören den Roma erklärt, die Container seien nur eine vorübergehende Lösung. Doch geschehen ist in all den Jahren nichts. Die Zwangsräumung war nach internationalen Menschenrechtsstandards eindeutig illegal, da die Roma nicht rechtzeitig gewarnt worden waren und keinen adäquaten Ersatz erhielten. Der Fall steht beispielhaft für die andauernde Diskriminierung und Ausgrenzung der Roma in Rumänien. Amnesty International fordert die Behörden auf, den Betroffenen in Mierurea Ciuc endlich eine sichere und hygienisch angemessene Unterkunft zur Verfügung zu stellen. Damit sich die Befürchtung nicht bewahrheitet, die eine Romni im Gespräch mit Amnesty äußerte: »Sie werden uns erst von hier wegbringen, wenn wir tot sind.«

italien: Geächtet und verdränGt Seit Juni 2009 sind mehr als 7.200 Sinti und Roma in Rom und Umgebung von illegalen Zwangsräumungen bedroht. Die Behörden wollen sie unter dem Vorwand der Kriminalitätsbekämpfung auf der Grundlage eines sogenannten »Nomaden-Notstandsplan« aus der italienischen Hauptstadt verdrängen. 6.000 Menschen sollen gegen ihren Willen in 13 isolierte Großlager umgesiedelt werden, für mehr als tausend Betroffene ist keine Alternative vorgesehen. Doch entgegen den Behauptungen der Behörden sind die meisten der in Rom lebenden Roma und Sinti gar keine »Nomaden«. »Die große Mehrheit von ihnen möchte in Häusern wohnen, wie jeder andere Italiener auch«, so Amnesty-Expertin Gisela Langhoff. »Auch die meisten Roma, die aus Rumänien oder Ex-Jugoslawien stammen, haben niemals als ›Nomaden‹ gelebt, bevor sie nach Italien kamen.« Amnesty setzt sich intensiv gegen die Zwangsräumungen und für ein Ende der Stigmatisierung ein. Aufgrund des internationalen Drucks konnten schon einige Zwangsräumungen verhindert werden. Zudem erhielten mehrere hundert Familien Angebote für Ersatzunterkünfte. Weitere Informationen zur Lage der Roma in Rumänien und Italien und Aktionsvorschläge finden Sie auf www.amnesty.de/wohnen

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verFolGte minderheit Frankreich. Die Roma durften noch einige Habseligkeiten zusammenpacken, dann walzte ein Bulldozer ihre Unterkünfte nieder. Rund 20 Roma wurden Ende August in Lille festgenommen, die Hälfte davon Kinder. Ihnen wird illegales Kampieren auf städtischem Gelände vorgeworfen. Kurz zuvor vertrieb die Polizei in Marseille 40 Roma aus einer ehemaligen Lagerhalle und riss das Gebäude ab. In vielen französischen Städten spielen sich derzeit ähnliche Szenen ab. Im Juli hatte der französische Präsident Nicolas Sarkozy nach Ausschreitungen gegen die Polizei erklärt, das Verhalten »verschiedener fahrender Leute und Roma« stelle ein Problem dar. Die Regierung will deshalb die Hälfte der landesweit etwa 300 illegalen Lager auflösen und Roma im Fall von Straftaten »nahezu umgehend« abschieben. Bereits in den ersten beiden Wochen nach dieser Ankündigung wurden 40 Lager geräumt und rund 700 Roma nach Bulgarien und Rumänien abgeschoben.

Roma in Europa Geschätzte Einwohnerzahl je Land und Bevölkerungsanteil Norwegen 2.000 – 5.000

Dänemark 1.500 – 2.000 Großbritannien 90.000 – 120.000

Ungarn. In Ungarn steht derzeit eine Gruppe von Rechtsextremisten vor Gericht, die im vergangenen Jahr an verschiedenen Orten sieben Häuser in Brand steckten und dabei zahlreiche Schüsse abfeuerten. Ein fünfjähriges Kind und fünf Erwachsene wurden dabei getötet, fünf weitere Personen schwer verletzt – allesamt Angehörige der Roma. Die Ermittler halten es für ausreichend erwiesen, dass die Morde systematisch geplant waren.

Niederlande 10.000 – 30.000 Belgien 10.000 – 15.000

Dänemark. Wegen »Bedrohung der öffentlichen Ordnung« hat Dänemark im Juli 23 rumänische Roma ausgewiesen und mit mehrjährigem Einreiseverbot belegt. Ihr Verbrechen: Sie hatten teils in einer nicht verschlossenen Fabrik übernachtet, teils illegal dort kampiert. Diese Vergehen stünden in keinem Verhältnis zur Strafe, kritisieren Rechtsexperten. Nun wollen die Ausgewiesenen den dänischen Staat wegen Verletzung ihrer Rechte als EUBürger verklagen.

Schweiz 50.000 – 60.000 Frankreich 100.000 – 500.000

Glossar Die Roma hatten nie einen eigenen Staat. Das Zusammengehörigkeitsgefühl basiert deshalb nicht auf ihrer geografischen Herkunft, sondern auf gemeinsamer Tradition, der Sprache und der Kultur. Romanes heißt die Sprache der Roma. Sie wird heute von rund zwei Drittel aller Roma als erste Muttersprache gesprochen. Die meisten Roma sind zweisprachig. Roma oder Rroma: Beide Schreibweisen sind korrekt. Die Schreibweise mit dem Doppel-R ist ursprünglich dem Sanskrit entlehnt. Roma werden häufig auch als »Zigeuner« bezeichnet. Der Begriff ist aber zumeist abwertend gemeint und wird von den Roma abgelehnt. Die Sinti sind eine Gruppe der Roma, die ebenfalls indische Wurzeln haben und vor allem in West- und Mitteleuropa leben. Dem nationalsozialistischen Völkermord an den Sinti und Roma fielen in ganz Europa rund eine halbe Million Menschen zum Opfer.

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Deutschland 120.000 – 250.000

Portugal 40.000 – 50.000

Italien 90.000 – 110.000

Spanien 600.000 – 1.000.000

bevölkerunGsanteil in proZent unter 1%

1 bis 5%

5 bis 10%

mehr als 10%

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Finnland 7.000 – 15.000

was macht amnesty?

Schweden 15.000 – 20.000

Estland 2.000 – 4.000

Amnesty International wendet sich in mehrfacher Hinsicht gegen die Diskriminierung von Roma. So kritisierte Amnesty die Segregation im slowakischen Bildungssystem, die zu einer unverhältnismäßig hohen Zahl von Roma-Kindern auf Sonderschulen für geistig Behinderte führt. Die slowakische Regierung hat mittlerweile Maßnahmen angekündigt, um die Benachteiligung von Minderheiten im Bildungssystem zu bekämpfen. »Es ist das erste Mal, dass eine slowakische Regierung politischen Willen zeigt, gegen die ethnische Diskriminierung im Bildungswesen anzugehen, und diesen Zustand als Missstand im System ansieht«, sagte dazu Barbora Cernusakova, Slowakei-Expertin bei Amnesty International. Auch die tschechischen Behörden haben auf einen Amnesty-Bericht über die Diskriminierung von Roma-Kindern im Schulsystem reagiert und wollen nun Reformen in Angriff nehmen. Amnesty kritisierte in dem Bericht, dass Roma-Kinder in vielen Orten Tschechiens in Sonderschulen eingeschult werden. Das tschechische Bildungsministerium lobte den Bericht und verpflichtete sich dazu, die sogenannten »Praxisgrundschulen« anzuweisen, nur noch Kinder mit »leichter geistiger Behinderung« aufzunehmen. »Alle anderen Kinder gehören in gewöhnliche Grundschulen«, sagte die Ministerin Miroslava Kopicova in einer offiziellen Stellungnahme. Amnesty kritisiert zudem die oft menschenunwürdigen Wohnverhältnisse von Roma, wie beispielsweise in der zentralrumänischen Stadt Miercurea Ciuc (siehe S. 27). Auch in der serbischen Hauptstadt Belgrad bereiten die Behörden nach einer Serie rechtswidriger Zwangsräumungen gegenwärtig die Vertreibung einer weiteren informellen Roma-Siedlung vor. Mindestens 70 Häuser sollen abgerissen werden. Den dort ansässigen Familien droht deswegen die Obdachlosigkeit. Die Stadtverwaltung plant, alle informellen Roma-Siedlungen abzureißen, hat aber kein Konzept zum Schutz der Menschenrechte der Bewohner vorgestellt. Amnesty hat dagegen kürzlich eine Eilaktion gestartet. Ein weiteres wichtiges Thema ist die drohende Abschiebung von in Deutschland lebenden Roma in den Kosovo. Angehörige der Minderheit werden dort bis heute schwer diskriminiert. Sie haben große Schwierigkeiten, Zugang zu medizinischer und sozialer Versorgung zu erhalten. Sie besitzen in vielen Fällen keine Ausweispapiere, was zusätzlich zu ihrem Ausschluss aus der Gesellschaft beiträgt. Es existieren keine Anzeichen dafür, dass sich die Lage der Roma in naher Zukunft verbessern wird. Amnesty hat daher die Innenminister der Bundesländer aufgefordert, von einer zwangsweisen Rückführung der Roma in den Kosovo abzusehen und ihnen weiterhin in Deutschland Schutz zu gewähren.

Russland 100.000 – 200.000

Lettland ca. 15.000 Litauen ca. 15.000

Weißrussland 10.000 – 30.000 Polen 100.000 – 200.000

Ukraine 50.000 – 200.000

Tschechische Republik 300.000 – 600.000 Slowakei 500.000 – 900.000

Österreich 35.000 – 50.000

Republik Moldau 20.000 – 25.000

Ungarn 800.000 – 1.000.000

Rumänien 2.000.000 – 3.000.000

Slowenien 10.000 – Kroatien 20.000 300.000 – 600.000 BosnienHerzegowina ca. 150.000

Serbien 400.000 – 600.000

Albanien 90.000 – 100.000

Bulgarien 800.000 – 1.000.000

Mazedonien 150.000 – 250.000

Griechenland 160.000 – 200.000

Türkei 300.000 – 500.000

Weitere Informationen auf www.amnesty.de/wohnen Quelle: rroma.org

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»Hetzende Politiker sollten einfach öfters mal ihr Gehirn einschalten.« Stéphane Laederich, Leiter der »Rroma Foundation«.

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»Können Sie tanzen?« Stéphane Laederich aus Zürich ist Mathematikprofessor, Banker und Direktor der »Rroma Foundation«. Seit fast zwanzig Jahren kämpft die Organisation gegen Klischees und hartnäckige Vorurteile. Von Daniel Kreuz

Foto: Nicolas Duc

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einen ausgeprägten Sinn für Humor hat sich Stéphane Laederich in all den Jahren nicht nehmen lassen, trotz der traurigen Schicksale und bedrückenden Ereignisse, mit denen er als Direktor der »Rroma Foundation« oft konfrontiert ist. Als der französische Präsident Nicolas Sarkozy im August dieses Jahres ankündigte, alle Roma auszuweisen, wollte ihm Laederich am liebsten direkt einen Brief schreiben: »Ich wollte ihm anbieten, ihm eine Kiste Champagner zu schicken, wenn er in Ungarn jemanden findet, der Sarkozy heißt und kein Rom ist«, sagt der 49-Jährige mit einem lauten Lachen. Sarkozys Vater stammt aus Ungarn, wo der Name unter Roma weit verbreitet ist. Wenige Wochen zuvor war Laederich selbst in Ungarn gewesen, um sich über die Situation der Minderheit nach dem Wahlerfolg der rechtsextremen und romafeindlichen Jobbik-Partei zu informieren. Regelmäßig unternimmt er solche Reisen, um für Berichte der Stiftung zu recherchieren. Besonders schlimm war es 2006 im Kosovo: »Der Hass hat mich schockiert. Dort werden Roma verprügelt, ihre Häuser zerstört oder beschlagnahmt, Frauen vergewaltigt. Die Angst war spürbar. In jedem Haus, in jeder Familie. Es wird kein Romanes mehr auf der Straße gesprochen, oft auch nicht zu Hause.« Mittlerweile brächten Eltern ihren Kindern gar kein Romanes mehr bei, damit sie weniger Probleme haben. Laederich wurde 1961 als Sohn eines Franzosen aus dem Elsass und einer Romni aus dem Baltikum in Frankreich geboren, aufgewachsen ist er in verschiedenen Ländern, unter anderem in der Schweiz. Hier gründete seine Mutter 1992 die »Rroma Foundation«. Das Motto hat sich seitdem nicht geändert: Roma helfen Roma. Die Stiftung hilft bei Asylanträgen, vermittelt Studienplätze oder unterstützt Projekte finanziell. So ermöglichte sie etwa durch einen Kleinkredit den Kauf einer Ziegelfabrik in Rumänien. Nun arbeiten dort 60 Roma, die ihre Familien nach Jahren der Arbeitslosigkeit endlich wieder selbstständig ernähren können. Seit ihrer Gründung engagiert sich Laederich bei der Stiftung. Zuvor hatte er sieben Jahre lang in den USA als Mathematikprofessor gearbeitet, danach in Paris. Nach seinem momentanen Beruf gefragt, muss Laederich schmunzeln: »Ich bin Banker. Da habe ich auch viel mit Vorurteilen zu kämpfen.« 2004 veröffentlichte er gemeinsam mit dem Linguisten Lev Tcherenkov ein über tausend Seiten starkes Werk über die Geschichte, Sprache und die unterschiedlichen Gruppen der Roma in Europa. Große Bedeutung hat bei der »Rroma Foundation« die Öffentlichkeitsarbeit, um die weitverbreiteten Vorurteile über Roma zu entkräften, so Laederich: »Wenn Sie in der Schweiz sagen: ›Ich bin Rom‹, ist die erste Frage, die Sie hören: ›Können Sie lesen und schreiben?‹ Oder: ›Können Sie tanzen?‹ Solche Bemerkungen habe ich selbst mehrmals gehört. Und das war nicht vor zehn Jahren. Das passiert heute noch, immer wieder.«

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Erstaunt ist er darüber nicht: »Beim Wort ›Roma‹ haben eben viele Menschen automatisch arme, kriminelle Bettler in schäbigen Unterkünften vor Augen. Dass es aber auch gut integrierte Roma gibt, das sehen sie nicht. Diejenigen, die den Aufstieg geschafft haben oder eine bessere Ausgangsposition hatten, werden nicht als Roma wahrgenommen.« Laederich nennt diese Roma daher »die Unsichtbaren«. Sie leben in fast allen Schichten, viele haben wie er einen Schweizer Pass. Einige seiner Bankerkollegen seien Roma, würden es offiziell aber nicht zugeben – aus Angst vor Diskriminierung. »Und das zu Recht. Es gab Fälle, in denen sich Leute in der Schweiz als Rom geoutet haben – und dann aus fadenscheinigen Gründen ihre Arbeit verloren haben.« Die anderen Roma hätten großes Verständnis dafür, dass die »Unsichtbaren« nicht offen über ihre Herkunft sprechen. »Die meisten würden genauso handeln. Wie alle anderen Menschen auch wollen Roma ein ganz normales Leben führen, eine Arbeit haben oder zur Schule gehen, und dass es ihren Kindern einmal besser geht als ihnen.« Doch dem stünde in vielen Ländern das Wort »Roma« im Weg. Es wüssten eben zu wenige, dass Roma in einigen Ländern schon vor Jahrhunderten zum Mittelstand gehörten. Wie das türkische Steuerregister beweist, arbeiteten sie zum Beispiel auf dem Balkan als Polizisten und Ärzte. Dass er seit fast 20 Jahren immer noch gegen dieselben Vorurteile ankämpfen muss, macht ihn wütend. Doch selbst dann ist und bleibt er Mathematiker: »Was mich besonders aufregt, sind diese sonderbaren Statistiken. In vielen Ländern gibt es keine genauen Zahlen darüber, wie viele Roma dort leben. Aber wie kann man dann sagen: ›98 Prozent aller Roma stehlen? 75 Prozent wollen nicht arbeiten?‹ Hetzende Politiker und Journalisten sollten einfach öfters mal ihr Gehirn einschalten, dann würden sie merken, dass ihre Aussagen falsch sind.« Immer wieder hört er Sätze wie: »Es gibt acht bis zehn Millionen Roma in Osteuropa, die haben einen Wohnwagen, und sobald sie in der Schweiz sind, ziehen sie los und stehlen und betteln.« Dabei seien Roma erfahrungsgemäß nicht mehr oder nicht weniger mobil als der Rest der Bevölkerung. Und natürlich gebe es leider auch kriminelle Roma, so wie es eben in jeder Gesellschaft Kriminelle gebe. Dennoch würden oft gleich alle Roma für Verbrecher gehalten. »Wenn englische Hooligans randalierend durch die Städte ziehen, kommt doch auch niemand auf die Idee zu sagen, dass alle Engländer unzivilisiert sind.« Stéphane Laederich hat schon in vielen Ländern gelebt und europaweit unterschiedliche Roma-Gruppen besucht. Er spricht akzentfrei Deutsch und fünf bis sieben weitere Sprachen, so genau weiß er es selbst nicht. Aber wo seine Heimat ist, weiß er ganz genau: »Ich bin Zürcher«, erklärt er, dieses Mal mit einem breiten Schweizer Akzent – und lacht. Der Autor ist Volontär beim Amnesty Journal.

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»Es gibt kein Roma-Problem« Die Diskriminierung von Sinti und Roma ist tief in der europäischen Geschichte verwurzelt und wurde nie ernsthaft bekämpft, meint der Berliner Historiker Wolfgang Wippermann.

Werden Roma stärker diskriminiert als andere Minderheiten? Generell ist die Lage von Minderheiten der Gradmesser für die Verwirklichung von Menschenrechten und Demokratie in einer Gesellschaft, das war immer so und ist es heute noch. Und unter diesen Minderheiten ist die jeweilige Roma-Minderheit in den einzelnen Staaten besonders schlecht gestellt. Wieso werden gerade Roma zum Feindbild stilisiert? Zunächst einmal sind die Roma dafür in keiner Weise verantwortlich. Es gibt keine Roma-Frage, kein Roma-Problem, weder in nationaler Hinsicht – sie sind loyale Staatsbürger – noch in religiöser Hinsicht – es gibt keine eigene Roma-Religion. Antiziganismus ist nicht das Problem der Roma, sondern der Mehrheitsgesellschaft. Die Erklärung, warum diese Feindschaft so

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Wie äußerte sich diese Ausgrenzung? Es gibt zunächst einen religiösen Antiziganismus. Dabei wird den Roma vorgeworfen, mit dem Teufel verbündet zu sein. Ich glaube, dass das tiefenpsychologisch und historisch eine große Rolle spielt. Beim sozialen Antiziganismus wird ihnen vorgeworfen, zu arm, zu unangepasst zu sein. Sie werden also für ihre eigene schlechte Lage, für die sie nichts können, verantwortlich gemacht. Und es gab den rassistischen Antiziganismus, der vor allen Dingen in der NS-Zeit gepflegt wurde. Man könnte noch sagen, dass es analog zum sekundären Antisemitismus einen sekundären Antiziganismus gibt, nämlich einen Antiziganismus nicht trotz des Völkermordes, der in Romanes »Porajmos«, das Verschlungene, heißt, sondern gerade wegen ihm. Roma würden den Porajmos für politische und finanzielle Zwecke ausnutzen, lautet der Vorwurf. Dabei hat kaum ein ausländischer Rom bis heute Wiedergutmachung bekommen, weder von uns, noch von den Staaten, in denen er lebt. Wieso gab es keinen Bruch mit dieser Diskriminierung? Es ist kein Schuldbewusstsein entstanden, was den Porajmos angeht, der ist ja lange Zeit überhaupt verdrängt und sogar geleugnet worden. Noch heute wird immer wieder behauptet, die Roma seien vielleicht selber daran schuld gewesen. Der Bundesgerichtshof hat in dem Skandalurteil von 1956 gesagt, dass sie nicht aus rassischen Gründen verfolgt worden seien, sondern weil sie asozial waren. In Südosteuropa kommt hinzukommt, dass hier die Kollaboration beim Porajmos noch stärker war als beim Völkermord an den Juden. Dazu hat man sich nie bekannt und diese Kollaboration ist auch nicht aufgearbeitet worden. Interview: Anton Landgraf

interview wolFGanG wippermann ist Professor für Neuere Geschichte am Friedrich-Meinecke-Institut an der Freien Universität Berlin. Er hat zahlreiche Bücher und Aufsätze zum Thema Antiziganismus publiziert.

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Foto: Andreea Tanase

Gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen Wirtschaftskrise und dem Hass auf Roma? Nein. Eine Krise verschärft die vorhandenen Vorurteile. Aber die Ursachen liegen weitaus tiefer und sie sind eben auch niemals überwunden worden. Ich würde schon fast sagen, dass der Antiziganismus, die Feindschaft gegen Roma, ein Bestandteil des europäischen Kulturkreises ist. Man ist eben Antiziganist und weiß, dass die Roma böse Dinge tun.

verbreitet ist, liegt darin, dass sie niemals bekämpft wurde. Sie wurzelt tief in der Geschichte. Mentalitäten sind Gefängnisse von langer Dauer, sagen die Historiker.

Foto: Amnesty

Warum nehmen vor allem in Osteuropa die Übergriffe gegen Sinti und Roma so stark zu? Es gibt sie leider schon seit einiger Zeit, nur wurde wenig darüber berichtet. Das interessiert uns, die übrigen Europäer, wenig. Die Roma sind das geworden, was die Juden vor dem Holocaust waren, nämlich das Hauptobjekt des Hasses. Die Roma gehören immer zu den ersten, die unter die Räder kommen. Ihre Arbeitslosenzahlen sind ja katastrophal, sie leben auf dem untersten Level, was den Zugang zu Bildungseinrichtungen und Gesundheitseinrichtungen etc. angeht. Mit der Demokratisierung in den osteuropäischen Ländern nahm auch leider der Nationalismus wieder zu. Der Nationalismus definiert sich oder die jeweilige Nation immer durch die Abgrenzung, durch die Feinde. Und das waren und sind immer noch die Juden, aber jetzt vermehrt eben die Roma. Wenn man beispielsweise sieht, was jetzt in Ungarn los ist, das ist unfassbar. Ein weiterer Punkt ist die Verantwortung insbesondere der EU. Wir haben mit Bulgarien und Rumänien zwei Staaten aufgenommen, die in keiner Weise den Kopenhagener Erklärungen und den Kopenhagener Bedingungen entsprechen, nämlich Menschenrechte und Minderheitenrechte zu wahren. Dagegen ist kein Protest erfolgt.


Die Krise versch채rft die Vorurteile. Eine Roma-Familie vor ihrem Wohnhaus in S창ncraieni.

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Berichte

36 Reportage: Flucht aus Nordkorea 42 Nordkorea: Amnesty-Bericht über das Gesundheitssystem 44 Kuba: In schlechter Verfassung 46 Interview: Bert Hoffmann über den neuen Politikstil der kubanischen Führung

»Als ich nach China kam, wurden meine Augen groß.« Straßenszene in der chinesischen Grenzmetropole Shenyang. Foto: David Høgsholt

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Flucht aus Nordkorea

Leben wie gejagte Tiere. Nordkoreanische Flüchtlinge in einem geheimen Zufluchtsort in Shenyang, im Vordergrund Mi-Young.

Jedes Jahr fliehen Tausende, die unter Hunger und Unterdrückung leiden, aus Nordkorea nach China. Die meisten sind Frauen. Sie werden Opfer von Gewalt oder zur Heirat mit Chinesen gezwungen. Andere reisen auf gefährlichen Wegen in Richtung Südkorea in ständiger Gefahr, aufgegriffen und ins Land der Albträume zurückgeschickt zu werden. Von Thomas Aue Sobol (Text) und David Høgsholt (Fotos)

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Der südkoreanische Pastor tritt aufs Gaspedal und jagt den Minibus über die holprige Piste. Neonlichter werfen Streifenmuster auf die Gesichter der zwei Mitfahrerinnen, die sich zusammen gekauert haben und wie Mädchen wirken, obwohl es sich um erwachsene Frauen handelt. Sie sind auf der Flucht aus Nordkorea, vor dem Terrorregime auf der anderen Seite des Flusses Tumen. Vom chinesischen Flussufer aus betrachtet erscheint Nordkorea nahezu friedlich. Weiße Häuserreihen, über einer Papierfabrik steigt Rauch auf, im Fluss baden zwei nackte Kinder – eines winkt uns zu. Weiter oben auf dem grünen Hügel kommen Soldaten aus einer kleinen Hütte. Hinter ihnen ziehen sich Pfa-

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Flüchtlinge sind Verräter. Hinter dem Grenzfluss Tumen liegt Nordkorea.

de aus rotem Kies wie Blutadern den Berghang hinauf. Und auch der Diktator hat sich verewigt: »Kim Jong-il – 10.000 Jahre soll er leben!« steht in weißen Lettern auf der Felswand. Im Schutz der Dunkelheit überqueren jedes Jahr Tausende Flüchtlinge das Changbai-Gebirge. Im Kriechgang versuchen sie die Grenzkontrolle zu umgehen oder bestechen diese mit ihren letzten Habseligkeiten. Auf der Suche nach einem besseren Leben – oder einfach um zu Überleben. Zwei von drei koreanischen Flüchtlingen sind Frauen. Für sie ist es einfacher wegzulaufen und Arbeit in China zu finden. Doch oft enden sie als Zwangsprostituierte oder als Sklavinnen chinesischer Männer. In China wird entgegen der UNO-Konventionen Jagd auf diese

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Frauen gemacht. Sie werden zurück nach Nordkorea geschickt, wo man sie als Verräterinnen brandmarkt, ins Gefängnis steckt, foltert und im schlimmsten Fall hinrichten lässt. Unterdessen versucht eine Allianz aus protestantischen Pfarrern und Fluchthelfern, die Frauen über verborgene Wege nach Südkorea zu bringen – in die Freiheit und auf den Weg zu Gott. Die 21-jährige Mi-Young ist dünn und blass. Sie scheint viel zu zerbrechlich für die Geschichte, die sie uns zu erzählen hat. Zusammen mit weiteren nordkoreanischen Frauen werden wir sie in den kommenden Tagen in Hotels nahe der chinesischen Metropole Shenyang treffen, die circa 200 Kilometer von der nordkoreanischen Grenze entfernt liegt. »Ich bin nervös, dass der Raum überwacht wird«, sagt MiYoung. In Nordkorea, wo jeder gegen jeden spioniert, kann es einen schnell das Leben kosten, wenn man Präsident Kim Jong-il oder den Gründervater Kim Il-sung kritisiert. »Ich kann nichts Schlechtes über sie sagen«, erklärt Mi-Young, fügt aber später hinzu: »Sie sind aber nicht diejenigen, die das Korn wachsen lassen.« Schätzungsweise zwischen 50.000 und 200.000 Nordkoreaner leben wie gejagte Tiere in China und befinden sich ständig in Gefahr, abgeschoben zu werden. Chinesen erhalten Geld, wenn sie die Frauen anzeigen. Sie zu verstecken steht unter Strafe. Lange Gardinen verhüllen die Fenster, als Mi-Young uns über ihre Kindheit während der Hungersnot in den neunziger Jahren berichtet: »Als die Maiskörner an den Kolben aufgegessen waren, aßen wir die Hülsen. Daraus haben wir Suppe oder Brei gekocht. Oder wir haben Gras und Bergpflanzen gegessen, von denen unsere Köpfe angeschwollen sind«, sagt Mi-Young und fährt fort: »Hier in China würde man das nicht mal den Schweinen zu fressen geben.« Zuerst starben die Kinder, dann die Erwachsenen. Während das Land Fisch und Obst exportierte, kommen mehr als eine Million Menschen wegen Unterernährung ums Leben. Im Dorf von Mi-Young konnten sie die Toten nicht bestatten, da es keine Bäume mehr gab, um daraus Särge herzustellen. Wer Mundraub beging, wurde per Kopfschuss hingerichtet. Mi-Young stand bei öffentlichen Hinrichtungen immer in der ersten Reihe. Die Kinder waren gezwungen, daran teilzunehmen. »Wenn ich mich schuldig mache, sterbe ich einen fürchterlichen Tod«, erinnert sie sich. Einer der Getöteten hatte einen

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»Wir folgen den Gesetzen Gottes.« Pastor Chun Ki-won in seinem Büro in Seoul (oben), Yumi zeigt ein Foto von ihrer Kindheit in Nordkorea.

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»Ich möchte wie ein normaler Mensch leben.« Ein Flüchtling versteckt sich während einer Fahrt in einem Minibus (oben). Abenddämmerung in Shenyang.

Ochsen geschlachtet, ein anderer hatte Frauen an chinesische Männer verkauft. Als ihr Vater später an einem Hirntumor erkrankte, sah Mi-Young keine andere Möglichkeit als nach China zu fliehen, wo es Gerüchten zufolge Reis in Hülle und Fülle geben sollte. Damals war Mi-Young 19 Jahre alt und wog 35 Kilo. Doch die Freundin, mit der sie zusammen geflohen war, betrog sie und verkaufte sie an einen chinesischen Mann. Sie schaffte es zwar, zu entkommen, wurde aber von der Polizei aufgegriffen und zurück über die Grenze gebracht. Später floh Mi-Young ein zweites Mal aus Nordkorea.

Hungrige Soldaten Mi-Sun, die ältere Schwester von Mi-Young, betritt das Hotelzimmer. Leise wiegt sie ihr Baby im Arm. »Als ich nach China kam, wurden meine Augen so groß«, berichtet sie und zieht sich zur Illustration mit den Fingern die Augen auf. Hier sah sie zum ersten Mal Nahrungsmittel im Überfluss, die Autos und den Wohlstand. Mi-Sun kam erst vor einem Monat aus Nordkorea und die Anstrengungen der Flucht klingen in ihrer Stimme immer noch nach. »Nachdem meine Schwester geflohen war, wurde das Leben für uns immer schwieriger. Die Polizei sagte, sie sei unsere Schwester und Tochter. Wir seien deshalb für sie verantwortlich und würden bestraft werden. Aber meine Mutter konnte die Beamten bestechen«, berichtet Mi-Sun. Die Betrügereien des Regimes bemerkte sie zum ersten Mal, als sie auf dem Markt Reissäcke sah, die den Schriftzug »Südkorea« trugen. Ohne ausländische Fernseh- oder Radiosender kannte sie nur die nordkoreanische Version der Weltgeschehnisse. »Unsere Führer haben behauptet, die Menschen in Süd-

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korea würden schrecklich unter Hunger leiden. Aber wieso können sie uns dann Reissäcke schicken?«, fragt sich Mi-Sun. Die große Hungersnot in den neunziger Jahren hat Nordkorea zwar überwunden, den Hunger selbst jedoch nicht. Einem UNO-Bericht vom Oktober 2009 zufolge benötigen neun Millionen Nordkoreaner – mehr als ein Drittel der Bevölkerung – Hilfe in Form von Lebensmitteln. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen erreicht jedoch nur zwei Millionen Menschen. Dass der Westen nur zögerlich Lebensmittel spendet, hängt unmittelbar mit den Nukleartests vom vergangenen Jahr zusammen. Südkorea unterbrach 2008 seine jährlichen Lieferungen von mehr als 500.000 Tonnen Lebensmitteln, weil nicht sichergestellt war, dass diese tatsächlich die Bedürftigen erreichen würden. Eine umfassende Unterstützung wird nur gegen Einstellung des Nuklearprogramms bewilligt. In den neunziger Jahren, nachdem das nordkoreanische Rationierungsprogramm für Lebensmittel kollabiert war, konnte das Regime nur noch seine hohen Beamten und Militärs versorgen. Der Rest der Bevölkerung musste sein Essen auf den von Korruption und Willkür beherrschten Schwarzmärkten kaufen, die nach der Hungersnot entstanden waren. Seit Jahrzehnten propagieren Gründervater Kim Il-sung und sein Sohn Kim Jong-il die nationalkommunistische Juche-Ideologie. In ihrem Mittelpunkt stehen ein starkes Militär, die Glorifizierung der nationalen Führer sowie die völlige diplomatische und ökonomische Autarkie. Für die Bevölkerung ist diese Isolation eine Katastrophe. Weil nicht genügend Energie zur Verfügung steht, muss die Landwirtschaft mit Ochsen statt mit Maschinen betrieben werden. Hinzu kommt, dass das karge Land besonders anfällig für Naturkatastrophen ist. Die Auswirkungen bekommt selbst das Militär zu spüren. So haben die Hungerjahre laut einem US-Bericht bei der Bevölkerung derart zu Verzögerungen in der mentalen Entwicklung geführt, dass einer von vier Rekruten wieder ausgemustert werden muss. Nach ihrer zweiten Flucht hielt sich Mi-Young mehrere Jahre in China auf, wo sie illegal in Gasthäusern und Restaurants arbeitete. Zeitweise lebte sie sogar auf der Straße. Sobald sie verdächtigt wurde, Nordkoreanerin zu sein, ergriff sie die Flucht und begann an einem anderen Ort wieder von vorne. Einige chinesische Arbeitgeber setzen ihre nordkoreanischen Arbeitskräfte kurz vor dem Zahltag vor die Tür. Wenn sie protestieren, droht man, sie der Polizei zu melden. »Ich bin nicht frei!«, schrieb Mi-Young vor einiger Zeit an den südkoreanischen Pastor Chun Ki-won von der DurihanaMission. »Ich möchte wie ein normaler Mensch leben.«

Die Christen ignorieren China In Seoul macht es sich Pastor Chun Ki-won an seinem Schreibtisch bequem. Heute trägt er seine Pastorenrobe und zeigt uns eine Fernsehaufzeichnung. Ein nordkoreanischer TV-Moderator starrt in die Kamera und beschimpft den Priester. Ab und zu wirft Chun Ki-won einen Blick auf den Monitor, der die Bilder der Überwachungskameras zeigt.

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»Die CIA hat mir Bodyguards angeboten, aber die waren nur zwei Tage hier. Ich hab das nicht ausgehalten«, sagt der Pastor und fährt fort: »Wenn ich sterben muss, dann lasst mich sterben.« Auf der Suche nach neuen Geschäftsmöglichkeiten reiste Chun Ki-won 1995, damals noch als Hotelbesitzer, in den Nordosten Chinas. Entrüstet kehrte er nach Hause zurück, ließ sich zum Priester weihen und gründete die Durihana-Mission. Er reiste 1999 erneut nach China, um so viele Frauen wie möglich zu retten. Und um sie auf den Weg Gottes zu führen. Nachdem er zwei Jahre später an der mongolisch-chinesischen Grenze aufgegriffen wurde, verbrachte er acht Monate in einem chinesischen Gefängnis. Die neun Nordkoreanerinnen, die er herausschmuggeln wollte, wurden deportiert. Seitdem hat Chun Ki-won insgesamt 830 Personen zur Flucht nach Südkorea verholfen. »Egal was China sagt, wir folgen den Gesetzen Gottes, und die sagen uns, dass wir den Menschen in Not helfen sollen«, betont der Pastor. Deutliche Kritik übt er auch daran, dass China die UNOFlüchtlingskonvention missachtet. Diese verbietet die Abschiebung von Flüchtlingen in ihre Heimatländer, sofern ihnen dort Folter oder Verfolgung drohen. China behauptet, es handele sich nicht um Flüchtlinge, sondern um illegale Immigranten. Besonders im Vorfeld der Olympischen Spiele 2008 in Peking stieg die Zahl der Deportationen rasant an. So wurden jede Woche zwischen 150 und 300 Nordkoreaner abgeschoben. In China werden die Flüchtlinge an versteckten Orten der Mission getauft, wo sie auch täglich mehrere Stunden die Bibel studieren. Dass der Religion ein solch hoher Stellenwert beigemessen wird, birgt aber ein hohes Risiko. Denn scheitert die Flucht, kann die »Verbindung zum Christentum« in Nordkorea zu Folter, lebenslanger Haft oder zur Todesstrafe führen. Dies berichten Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch. Die Diktatur hasst das Christentum. Schließlich darf es nur zwei Götter geben: Kim und Kim. Auch für Mi-Young und ihre Schwester könnte dies zu einem ernsthaften Problem werden.

Der letzte Stopp vor der Freiheit Bangkok, Thailand: Über 7.000 Kilometer vom Grenzfluss Tumen entfernt, in Thailands überschäumender Hauptstadt, öffnet die 25jährige Eunsuh eine rostige Tür. Dahinter ist der Ort,

»Menschenschmuggler führen die Frauen durch den Dschungel, über Berge und Flüsse, wo sie für Banden leichte Opfer sind, nach Thailand.« 40

an dem die Durihana-Mission ihre Flüchtlinge vorübergehend versteckt hält, wenn sie von China und Laos angekommen sind. Vom südostchinesischen Shenyang werden die Flüchtlinge nach Peking geführt, von dort 3.000 Kilometer weiter mit dem Zug nach Kunming, im Südwesten von China. Im goldenen Dreieck zwischen China, Laos und Myanmar führen Menschenschmuggler die Frauen weiter durch den Dschungel, über Berge und Flüsse, wo sie für Grenzpatrouillen und Banden leichte Opfer sind, nach Thailand. In Südostasien ist Thailand das sicherste Land für die Leute aus Nordkorea. Einmal in der südkoreanischen Botschaft in Bangkok angelangt, ist die Einreise nach Südkorea praktisch gesichert. Eunsuh erzählt, dass sie, genauso wie Mi-Young, nach China verkauft worden ist – von ihrer eigenen Mutter. Einige Jahre verbrachte sie mit einem gewalttätigen chinesischen Mann, bis sie einige Missionare traf, die ihr bei der Flucht in die Mongolei halfen. Doch der Fluchtversuch scheiterte und Eunsuh wurde nach Nordkorea abgeschoben. »Glaubst du an Gott?«, schrie sie der Untersuchungsbeamte im nordkoreanischen Gefängnis an. »Sag die Wahrheit oder erdulde die Konsequenzen!« Die nächsten sechs Monate verbrachte sie in einer fünf mal fünf Meter großen Zelle mit 40 bis 50 Mitgefangenen. »Mit offenen Augen betete ich zu Gott«, sagt Eunsuh heute. Zurück in China berichtet auch Mi-Young über die Brutalität, die sie in dem nordkoreanischen Gefängnis miterleben musste: »Die Wärter schrieen eine schwangere Frau an, die in China war: ›Warum hast du mit einem Chinesen geschlafen, du Verräterin?‹ Sie beschimpften sie, weil sie ihre Haare gebleicht hatte, und schlugen sie, bis sie Blut spuckte… doch die Schläge gingen weiter«, berichtet Mi-Young und senkt ihre Stimme. »Am Ende ist sie gestorben.« Nach Berichten von Menschenrechtsorganisationen befinden sich 200.000 gewaltlose politische Gefangene in nordkoreanischen Haftanstalten und Arbeitslagern, die über das Land verteilt sind. Mi-Young wurde entlassen, nachdem ihre Mutter die Wärter bestechen konnte. Drei Monate später floh sie erneut nach China, wo sie jede Arbeit annahm, um ihrer Familie Geld schicken zu können. Doch in Nordkorea stahl eine Bande alles und tötete ihre Mutter. In Bangkok hofft Eunsuh unterdessen, dass Pastor Chun Ki-won ihr helfen kann, in die USA zu gelangen. »Ich habe gehört, dass die Südkoreaner auf uns Nordkoreaner herabblicken. Darum möchte ich lieber nach Amerika«, sagt Eunsuh.

Jesus ist wichtiger als die Sicherheit Chun Ki-won sieht sich in seinem Büro um. An den Wänden hängen Auszeichnungen und gerahmte Zeitungsausschnitte über die Frauen, die er gerettet hat. Doch nicht immer mit gutem Ende. Mi-Youngs Schwester Mi-Sun und ihr Baby, mit dem sie zusammen in das Hotel in Shenyang geflohen war, wurden von der chinesischen Polizei verhaftet und zurück über den Tumen-Grenzfluss nach Nordkorea geschickt. Informanten in Nordkorea glauben, dass die Schwester in eines der Gefängnisse gebracht wurde, aus »denen man niemals zurückkehrt«. Chun Ki-won ist sich zwar bewusst, dass konvertierte Flüchtlinge in Nordkorea schwerer bestraft werden. Dennoch will er mit der Missionierung nicht warten, bis sie in Südkorea außer Gefahr sind. »Ich kann nicht sicher sein, dass die Flüchtlinge das Evangelium annehmen, wenn sie in Südkorea sind«, sagt er. Außerdem wisse man ja gar nicht, ob es alle überhaupt bis dort-

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Zuerst starben die Kinder, dann die Erwachsenen. Das Baby von Mi-Sun in einer versteckten Unterkunft in Shenyang.

hin schaffen. »Diejenigen, die wahre Christen sind, werden auch bei ihrer Abschiebung nach Nordkorea zu ihrem Glauben stehen. Die meisten werden jedoch lügen, um eine Bestrafung zu verhindern.« In Seoul, der Hauptstadt Südkoreas, serviert uns die 23-jährige Yumi Tee. An Hals und Ohren trägt sie glitzernden Schmuck. Das einzige Schmuckstück, das sie in Nordkorea tragen durfte, war eine Plakette mit dem Konterfei Kim Il-sungs, die nahe dem Herzen zu tragen war. »Er war ein schlechter Mensch«, sagt Yumi heute, da sie in Sicherheit ist und sich traut, ihren väterlichen Führer zu kritisieren. Noch vor kurzem veranstalteten Nord- und Südkorea eine medienwirksame und emotionale Wiedervereinigung von Geschwistern, Eltern und Kindern, die sich seit dem Koreakrieg 1953 nicht gesehen hatten. Bezogen auf die Flüchtlinge aus dem Norden scheint die Bruderliebe aber zusehends zu schwinden. Mitte der neunziger Jahre gehörten die meisten Überläufer noch zur Elite des Militärs oder der kommunistischen Partei. Sie konnten wichtige Informationen liefern und wurden mit offenen Armen empfangen. Heute kommen die meisten Flüchtlinge hingegen aus ländlichen Regionen und besitzen keinen »Mehrwert« für Südkorea. Zudem haben sie Schwierigkeiten, sich in eine moderne, kapitalistische Gesellschaft zu integrieren. Nach Angaben einer Hilfsorganisation in Seoul ist die Hälfte der bisher 17.000 Asyl suchenden Nordkoreaner ohne Arbeit. Zwei Drittel beklagen sich über Diskriminierung. Yumi lebt seit 18 Monaten in Seoul und arbeitet für Chun Ki-won im Büro der Durihana-Mission. Zehn Jahre lang hielt sie sich in China versteckt und ist jetzt eine erwachsene Frau. Trotzdem besitzt sie keinerlei Ausbildung und hatte noch nie einen Freund.

berichte

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nordkorea

»Viele Flüchtlinge fantasieren vom Wohlstand, aber ich habe gelernt, dass man schon um das kleinste Bisschen hart kämpfen muss. Ich mache mir keine falschen Hoffnungen«, erklärt Yumi. Für den Start in ein neues Leben erhalten die Flüchtlinge circa 20.000 Dollar von der Regierung. Die meisten schulden einen Großteil des Geldes jedoch den Fluchthelfern, die sie nach Südkorea gebracht haben. Yumi lernte drei Monate lang in der Aufnahmestelle Hanowan, wie das Leben in einer kapitalistischen Gesellschaft funktioniert, wie man zur Bank geht und Lebensmittel einkauft. Jetzt lernt sie täglich acht Stunden, um ihren High-School-Abschluss zu schaffen. In der Durihana-Mission steht Pastor Chun Ki-won auf der Kanzel und hebt die Hände schützend über seine Gemeinde. Er sagt, dass 80 Prozent der Flüchtlinge auch nach ihrer Ankunft in Südkorea zu den Gottesdiensten kämen. Momentan beten hier 15 bis 20 Personen. Yumi schließt die Augen zum Gebet. Kritiker behaupten, dass die Gottesverehrung der Flüchtlinge lediglich auf die Verherrlichung ihrer einstigen nordkoreanischen Führer zurückzuführen sei. Yumi möchte bald in die USA oder nach Japan auswandern. Nicht weil ihr das Leben in Seoul nicht gefällt, sondern weil sie die Welt kennenlernen möchte. Zum ersten Mal in ihrem Leben. Postskriptum: Mi-Young ist die Flucht über Laos und Thailand nach Südkorea geglückt. Ihre Schwester befindet sich jedoch immer noch in nordkoreanischer Gefangenschaft. Eunsuh wurde Asyl in den USA gewährt. Um die Identität der Frauen zu wahren, sind die Namen in diesem Artikel frei erfunden. Der Autor ist freier Journalist und lebt in Dänemark. Aus dem Englischen von Frank Thomas.

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Kurz vor dem Kollaps

Foto: BBC World Service

Amputationen ohne Betäubung, Operationen bei Kerzenlicht, Krankenhäuser ohne Heizung – das Gesundheitssystem in Nordkorea ist in einem katastrophalen Zustand. Dies belegt eine aktuelle Amnesty-Studie. Von Daniel Kreuz

war. Ohne Narkose amputierten die Ärzte das Bein von der Wade abwärts. »Fünf Assistenten hielten mich fest, damit ich mich nicht bewegen konnte. Ich schrie und hatte so starke Schmerzen, dass ich in Ohmnacht fiel. Erst eine Woche später bin ich in einem Krankenhausbett wieder aufgewacht.« Immer wieder brechen in Nordkorea Epidemien aus, TuberWann er das letzte Mal einen Krankenwagen in seiner Stadt gesehen hatte? Da muss Park aus dem nordkoreanischen Chongjin kulose und andere Infektionskrankheiten sind an der Tagesordnung. Die Regierung behauptet zwar, dass jeder Bürger eine erst einmal nachdenken: »Das war 1992 oder 1993. Seitdem keinen einzigen mehr. Krankenwagen kenne ich nur aus dem Fern- kostenlose Gesundheitsversorgung erhalte. Doch die Realität sieht anders aus: Mediziner bekommen oft kein Gehalt – Sprechsehen.« Ohnehin besäßen nur die sehr reichen Leute ein Telestunden bei Ärzten werden daher mit Zigaretten, Alkohol und fon, normale Menschen wie er könnten die Ambulanz erst gar Lebensmitteln bezahlt, Untersuchungen und Eingriffe mit Barnicht rufen, so der 27-Jährige, der im April 2007 ins Ausland geld. Dies schildert auch die 20-jährige Rhee, die im November floh. »Und selbst wenn man den Notruf wählte, würde eh nichts 2008 flüchtete: »In Nordkorea nimmt niemand die Mühe auf passieren. Es gibt ja gar kein Benzin für die Krankenwagen.« sich, ins Krankenhaus zu gehen, wenn er nicht genug Geld hat. Jeder weiß, dass man für die Behandlung bezahlen muss. Wenn du kein Geld hast, stirbst du.« Verschärft wird die Situation durch die mangelhafte Ernährung: Fast neun Millionen Menschen, mehr als ein Drittel der Bevölkerung, hungern. Die Währungsreform vom 30. November 2009 führte zu einer Inflation und verschärfte damit die Lebensmittelknappheit noch zusätzlich. Die Regierung verschlimmerte die Lage außerdem durch das Verbot, mit ausländischer Währung zu zahlen, durch die Schließung von Lebensmittelmärkten sowie ein Ernteverbot für Kleinbauern. Amnesty wirft der Regierung daher eine »verfehlte oder kontraproduktive« Gesundheitspolitik vor. »Nach internationalem Recht ist Nordkorea verpflichtet, das Recht der Bevölkerung auf eine Gesundheitsversorgung bestmöglich zu gewährleisten«, sagte Amnesty-Expertin Catherine Baber. Dieser Verpflichtung kom»Die Überlegenheit des sozialistischen Gesundheitssystems vorantreiben.« me der Staat jedoch nicht nach. Nordkorea Nordkoreanisches Propaganda-Plakat. brauche unbedingt weitere internationale Unterstützung, um das Gesundheitswesen Die Situation in Chongjin ist beispielhaft für das herunterge- verbessern zu können. Gleichzeitig müsse die Regierung internationale Unterstützung anfordern, falls sie die Situation nicht wirtschaftete Gesundheitssystem im Reich von Kim Jong-Il. Es selbst in den Griff bekomme. steht kurz vor dem Kollaps, wie eine aktuelle Studie von AmnesZur Zeit deutet jedoch nichts darauf hin, dass das Regime ty International belegt. Sie beruht unter anderem auf Interviews von Kim Jong-Il in Zukunft größeren Wert auf eine verbesserte mit 40 Nordkoreanern, die in den vergangenen Jahren aus dem Lebensmittel- und Gesundheitsversorgung der Bevölkerung von der Außenwelt abgeschotteten Land geflohen sind. Übereinstimmend berichten sie über katastrophale Bedingungen in den legen wird. Die Atommacht Nordkorea investiert 25 Prozent des Bruttosozialprodukts in ihre Streitkräfte, eine der größten ArKrankenhäusern: Es fehlen Heizungen und Medikamente, Nameen der Welt. Für die Gesundheit ihrer Bürger gibt sie laut der deln werden mehrmals verwendet und vor dem Gebrauch nicht Weltgesundheitsorganisation pro Person weniger als einen Doldesinfiziert, die Bettwäsche nicht regelmäßig gewechselt. Weil lar im Jahr aus. So wenig wie kein anderes Land der Welt. häufig der Strom ausfällt, operieren die Ärzte manchmal bei Kerzenlicht, aus Mangel an Narkosemitteln führen sie Amputationen auch ohne Betäubungen durch. So wie bei Hwang aus Der Autor ist Volontär beim Amnesty Journal. Hwasung. Ein fahrender Zug hatte seinen linken Knöchel zerquetscht, nachdem der 24-Jährige von einem Waggon gefallen Aktionsvorschläge auf www.amnesty-korea.de

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FREIHEIT IST DER WERT, DER BLEIBT

Foto: Kimimasa Mayama / Reuters

IHR TESTAMENT FÜR DIE MENSCHENRECHTE

GESTALTEN SIE DIE ZUKUNFT Gründe, warum Amnesty International bei Erbschaften bedacht wird, gibt es viele: Manchmal sind es die eigenen Erfahrungen, die man mit Unrechtsregimen gemacht hat. Oder es sind Beobachtungen auf Reisen, die eigene Überzeugung, etwas zurückgeben zu wollen. Wichtig ist der Wunsch, über das eigene Leben hinaus die Zukunft gestalten zu wollen. Eine Idee zu unterstützen, die einem am Herzen liegt: die Einhaltung der Menschenrechte. Seit 1961 setzt sich Amnesty International weltweit für Opfer von Menschenrechtsverletzungen ein. Und da Amnesty International aus Gründen der Unabhängigkeit jegliche staatlichen Mittel ablehnt, können besonders Erbschaften helfen, diese Arbeit auch in Zukunft sicher und langfristig planbar zu machen. Bedenken Sie Amnesty International in Ihrem Testament. Gestalten Sie eine Zukunft, in der jeder Mensch in Würde leben kann!

Bei weiteren Fragen steht Ihnen Dr. Manuela Schulz unter der Telefonnummer 030 - 42 02 48 354 gern zur Verfügung. E-Mail: Manuela.Schulz@amnesty.de 첸 Bitte schicken Sie mir die Erbschaftsbroschüre »Freiheit ist der Wert, der bleibt« kostenlos zu. 첸 Bitte schicken Sie mir weitere Informationen über die Arbeit von Amnesty International kostenlos zu. Vorname, Name

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PLZ, Ort

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Bitte senden Sie den Coupon an Amnesty International, 53108 Bonn oder faxen Sie: 0228 - 63 00 36 Weitere Informationen auf www.amnesty.de/spenden


Schikaniert und bedroht. Die Mutter von Orlando Zapata Tamayo vor einem Bild ihres Sohnes.

Freilassen und einschüchtern Die kubanische Regierung will 52 Dissidenten freilassen. Eine grundlegende Entscheidung hin zu mehr Meinungsfreiheit bedeutet dies aber nicht. Kritische Stimmen werden auch künftig kaum geduldet. Von Maja Liebing »Ich wurde nicht freigelassen, ich wurde deportiert.« Als José Luis García Paneque Anfang August in Madrid diese Worte spricht, ist es erst wenige Wochen her, dass die kubanische Regierung ihn und sechs weitere gewaltlose politische Gefangene nach Spanien hat ausfliegen lassen. Dieser Maßnahme waren Verhandlungen Kubas mit der katholischen Kirche und dem spanischen Außenminister Miguel Ángel Moratinos vorausgegangen. Auch der Tod des gewaltlosen politischen Gefangenen Orlando Zapata Tamayo im Februar

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dürfte eine Rolle gespielt haben. Kuba verkündete Anfang Juli, 52 gewaltlose politische Gefangene freilassen zu wollen – der Großteil von ihnen im fortgeschrittenen Alter, und viele von ihnen in einem bedenklichen Gesundheitszustand. Bei Redaktionsschluss waren 21 Gefangene bereits frei, die restlichen Entlassungen sollen in den nächsten Monaten erfolgen. Ein gewaltloser politischer Gefangener, der Anwalt Rolando Jiménez Posada, scheint von den Plänen ausgenommen zu sein, was Amnesty International scharf kritisiert. Zudem wurden Ende August wieder fünf Männer, die einer pro-demokratischen Organisation angehörten, wegen ihrer politischen Überzeugung inhaftiert. Die kritischen Äußerungen von García Paneque beziehen sich darauf, dass die kubanische Regierung die Entlassungen anscheinend an die Ausreise der Dissidenten aus Kuba geknüpft

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Foto: Enrique De La Osa / Reuters

Viele Gesetze sind so vage formuliert, dass fast jede abweichende Meinung als kriminelle Handlung interpretiert werden kann.

hat. Hier setzt sich ein Muster fort, das bereits seit Jahrzehnten betrieben wird: Unbequeme Oppositionelle werden ruhig gestellt, indem man sie inhaftiert oder ausweist. Kritische Stimmen im Land selbst werden nicht geduldet. So sehr sich die ehemaligen gewaltlosen politischen Gefangenen sowie Menschenrechtsaktivisten weltweit also über die Entlassungen freuen, so bleibt doch ein bitterer Nachgeschmack. Auch deshalb, weil die Repressionen in Kuba gegen politisch Andersdenkende und friedliche Aktivisten nicht nachlassen. So wird auch die Mutter des verstorbenen Zapata Tamayo, die sich regelmäßig an friedlichen Protestmärschen in Gedenken an ihren Sohn beteiligt, schikaniert und bedroht. Daher bestehen erhebliche Zweifel daran, dass die kubanische Regierung künftig die Menschenrechte ihrer Bürger respektieren wird. Ein Bericht, den Amnesty Ende Juni veröffentlicht hat, verdeutlicht, welch tiefgreifende Reformen notwendig wären, um die Rechte der Kubaner auf Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit zu garantieren. Denn in Kuba gibt es zahlreiche Gesetze und Bestimmungen, die diese Rechte einschränken. Viele Gesetze sind so vage formuliert, dass fast jede abweichende Meinung als kriminelle Handlung interpretiert werden kann. Somit gibt es in Kuba praktisch keine Möglichkeit, die Regierung öffentlich zu kritisieren. Hinzu kommt, dass die Gerichte und die Staatsanwaltschaft nicht unabhängig sind, sondern von der Regierung kontrolliert werden, was dazu führt, dass das Recht auf ein faires Verfahren stark eingeschränkt ist. Das Problem beginnt dabei bereits mit der kubanischen Verfassung, die keine offene Pluralität und Ideenvielfalt erlaubt. Artikel 62 der Verfassung besagt, dass bürgerliche und politische Freiheiten nicht ausgeübt werden können, wenn sie gegen die sozialistische Grundordnung verstoßen. Die im März 2003 inhaftierten Dissidenten wurden zumeist auf Grundlage des Artikels 91 des kubanischen Strafgesetzbuches sowie des Gesetzes 88 verurteilt. Diese Gesetze sehen langjährige Haftstrafen oder die Todesstrafe für die »Störung (…) des sozialistischen Staates« oder die Zusammenarbeit mit den USA vor. Die Personen, die auf Grundlage dieser Gesetze verurteilt wurden, hatten keine sensiblen Informationen an die USA weitergegeben, sondern lediglich kritische Zeitungsartikel verfasst, an Demonstrationen teilgenommen oder sich für die Freilassung gewaltloser politischer Gefangener eingesetzt. Regimekritiker werden außerdem häufig wegen ihrer »zu Straftaten neigenden Gefährlichkeit« nach Artikel 72 des kubanischen Strafgesetzbuches verurteilt. Dieser Artikel stellt eine völkerrechtswidrige Möglichkeit dar, Menschen noch vor Begehen einer Straftat zu verurteilen.

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KUBA

Artikel 53 der Verfassung schränkt die Pressefreiheit stark ein, denn er besagt, dass sie nicht den Zielen der sozialistischen Gesellschaft zuwiderlaufen darf. Auch verbietet die Verfassung den Privatbesitz von Massenmedien. Der Staat hält damit ein totales Monopol auf Presseagenturen aufrecht – Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen werden komplett durch die Regierung finanziert und kontrolliert. Außerdem müssen Journalisten der Kubanischen Journalistenvereinigung beitreten, um in Medien berichten zu können, die sich im staatlichen Besitz befinden. Nur Journalisten, deren Meinungen mit denen der offiziellen Regierungspolitik übereinstimmen, werden durch die Vereinigung akkreditiert. Und ohne die Akkreditierung wird ihnen der Zugang zu vielen Informationen verwehrt. Das Internet wird durch das Gesetz über die Informationssicherheit reguliert, das den Internetzugang für Privathaushalte verbietet. Es ist in Bildungseinrichtungen, an Arbeitsplätzen und öffentlichen Einrichtungen zugänglich. Auch in Hotels gibt es Internet, aber zu astronomisch hohen Preisen. Privater Internetzugang bleibt dem Großteil der kubanischen Bevölkerung verwehrt, und nur diejenigen, die von der Regierung bevorzugt werden, können Zuhause über einen Internetzugang verfügen. Trotz der Freilassungen der gewaltlosen politischen Gefangenen, die zweifellos ein großer und wichtiger Schritt hin zu einer Verbesserung der Menschenrechtslage darstellen, kann also noch nicht von einem wirklichen Wandel in der kubanischen Menschenrechtspolitik gesprochen werden. Auf der anderen Seite dürfen diese Probleme auch nicht als Legitimationsgrundlage für eine Isolierung Kubas genutzt werden, die der kubanischen Bevölkerung schadet. So muss das US-Embargo gegen Kuba, das bereits seit 1962 aufrecht erhalten wird, aufgrund der negativen Auswirkungen auf die wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte der kubanischen Bevölkerung sofort und bedingungslos aufgehoben werden. Es stellt sich die Frage, wie es nun weitergeht für die kubanische Opposition. Klar ist, dass das Land große Herausforderungen vor sich hat, wenn es die wirtschaftlichen Schwierigkeiten und die internationale Isolation überwinden will. Kritische Stimmen im Land sollten für diesen Prozess als Chance, nicht als Gefahr begriffen werden. Die Dissidenten selbst verkündeten aus ihrem Exil im Spanien, ihre Arbeit fortführen zu wollen. Auch auf Kuba gibt es nach wie vor Oppositionelle. Sie werden weiterhin viel Mut und Durchhaltevermögen brauchen – denn dass ihre Arbeit einfacher wird, dafür gibt es keine Hinweise. Die Autorin ist Kuba-Expertin der deutschen Amnesty-Sektion.

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Foto: Enrique De La Osa / Reuters

»Ein völlig neuer Politikstil«

»Die Macht liegt klar bei ihm.« Präsident Raúl Castro.

Der Politikwissenschaftler Bert Hoffmann sieht in der Freilassung der Dissidenten auf Kuba einen vorsichtigen Wandel. Die Regierung von Raúl Castro steht wirtschaftlich unter enormem Druck und sucht eine Annäherung an die EU.

Was macht diese Dissidenten so gefährlich für die Regierung? Für die Regierung ist es ein »Wehret-den-Anfängen«. Bis jetzt war der öffentliche Raum fest in der Hand der Staatsmacht. »Die Straße gehört den Revolutionären«, heißt ihr Credo. Privat kann jeder sagen, was er denkt, aber öffentliche Äußerungen werden unterbunden. Die »Damas de blanco« sind sicher keine massenwirksame politische Bewegung, sie haben aber trotzdem einen gewissen öffentlichen Raum zugestanden bekommen. Das kann Nachahmer finden, zumal es eine große Unzufriedenheit in weiten Teilen der Gesellschaft gibt. Das hat viel mit den wirtschaftlichen Zuständen, aber auch mit dem Demokratiedefizit im Land sowie der Arroganz der Macht zu tun. Insofern sind es zwar kleine Gruppen oder Einzelpersonen, aber es sind immer auch Präzedenzfälle. Die Regierung will diese öffentliche Kritik im Keim ersticken, bevor sie wächst und eventuell nicht mehr zu kontrollieren ist.

Hat Sie die Freilassung der Dissidenten überrascht? Die Freilassung der Gefangenen, wie wir sie jetzt erleben, ist der weitreichenste Schritt, den die kubanische Regierung seit vielen Jahren im Bereich der Menschenrechte gegangen ist. Auch die Form, in der sie erfolgte, markiert einen Wandel: Es handelte sich nicht um einen Gnadenerlass von oben, sondern um einen Verhandlungsprozess, der sich über Monate hinzog. Das wäre unter Fidel Castro so nicht vorstellbar gewesen. Beteiligt waren zunächst der kubanische Staat und die kubanische katholische Kirche, die in Vertretung der »Damas de blanco«, also der Familienangehörigen der verhafteten Dissidenten, verhandelte. Insofern ist damit auch eine implizite Anerkennung der Opposition verbunden gewesen. Von außerhalb kam noch die spanische Regierung als zweiter Vermittler hinzu. Diese Vier-Parteien-Verhandlung – auch wenn die Oppositionellen nur indirekt beteiligt waren – ist ein völlig neuer politischer Stil in Kuba.

Veränderungen wurden schon häufig angekündigt, geschehen ist aber nicht viel. Warum reagiert die Regierung in Havanna nun anders? Raúl Castro ist seit vier Jahren im Amt, inzwischen hat er innerhalb des Apparats seine Macht konsolidiert. Er hat im Prinzip fast alle führenden Kader ausgewechselt, die Macht liegt klar bei ihm und nicht mehr bei Fidel. Das heißt, Raúl kann jetzt auch mehr wagen. Zudem hat sich die ökonomische Situation massiv verschlechtert, die Regierung musste im vergangenen Jahr die Importe in fast allen Bereichen herunterfahren, die Versorgungsengpässe haben weiter zugenommen. Diese wirtschaftlichen Probleme brennen den meisten Kubanern vermutlich noch mehr auf den Nägeln als die Defizite bei den Bürgerrechten. Auch in diesem Bereich werden wir in den nächsten Monaten schrittweise Reformen erleben. Ein »Weiter-So« kann sich die Regierung nicht mehr leisten.

Amnesty International kritisiert, dass die Freilassungen nichts an den zugrunde liegenden Gesetzen ändern. Das ist völlig richtig. Dahinter steht natürlich die Frage: Was können Kubaner sagen oder schreiben, ohne Repressalien befürchten zu müssen? Und diesbezüglich bleibt der Staat weiterhin mit umfassenden Vollmachten ausgestattet. Die Freilassung ist eine Konzession des kubanischen Staates, die die Hardliner im Apparat sicher nicht gerne machen. Die Regierung wird nun vermutlich die Position einnehmen: Jetzt ist das Problem erledigt, deshalb gibt es auch keinen Grund mehr zu demonstrieren.

Bislang gab es im Notfall immer Hilfe von der Regierung in Venezuela. Die Wirtschaftsbeziehungen zu Venezuela sind auch weiterhin sehr wichtig für Kuba, aber ihr Umfang ist deutlich geringer geworden. Es gibt kein Kapital, um Investitionen zu tätigen. Die Regierung hat sogar Konten von westlichen Investoren auf der Insel eingefroren und das Geld benutzt, um dringende Finanzprobleme zu lösen, weil sie über keine Devisenreserven mehr verfügte. So eine Maßnahme vergrault natürlich ausländische Handelspartner. Das sind die Probleme, die Raúl Castro zu sol-

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Foto: Andrea Comas / Reuters

»Die Regierung will signalisieren, dass sie sich bewegt.« Freigelassene kubanische Dissidenten nach ihrer Ankunft in Madrid, 15. Juli 2010.

Geht es bei der Freilassung in erster Linie um eine Annäherung an die EU? Die Regierung will vor allem signalisieren, dass sie sich bewegt. Sie macht ein Zugeständnis, das Fidel Castro nie gemacht hätte. Und zwar in einer Form, die sie als verlässlicher Verhandlungspartner zeigt. Damit signalisiert sie, dass man mit ihr auch über andere Themen verhandeln kann. Die EU hat ja 1996 eine gemeinsame Position gegenüber Kuba formuliert, die von kubanischer Seite immer als Einmischung in die inneren Angelegenheiten angeprangert wurde, weil sie die Beziehung von Fortschritten in der Menschenrechtsfrage abhängig gemacht hat. Im September soll diese gemeinsame Position noch einmal überprüft werden. Die spanische Regierung setzt sich stark für eine Änderung ein, und ich denke, viel spricht dafür, dass die EU ihre inzwischen 14 Jahre alte Position durch eine flexiblere Politik ersetzt. Vor welchen Herausforderungen steht die kubanische Regierung in nächster Zukunft? Raúl Castro selbst hat gesagt, dass eine Million Arbeiter, also ungefähr ein Viertel der Beschäftigten, in der Staatswirtschaft »überflüssig« sind. Von irgendetwas müssen die Leute aber leben, und eigentlich kann dies nur über die Zulassung von kleinem Gewerbe und Privatunternehmen geschehen. In einer Situation, wo der Staat pleite ist, sind solche Marktmechanismen das Einzige, was funktioniert. Die regierungsnahen Ökonomen holen jetzt wortwörtlich Reformvorschläge aus der Schublade, die Mitte der neunziger Jahre schon diskutiert, damals aber abgewürgt worden sind. Nur sind in den vergangenen 15 Jahren

interview

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bert hoFFmann

die Rahmenbedingungen für solche Reformen in vielerlei Hinsicht schwieriger geworden. Hat sich das Verhältnis zwischen Kuba und den USA unter Präsident Obama entspannt? Sicher ist die Freilassung auch ein Signal in Richtung USA. Die Regierung Obama hat bereits eine Reihe von Veränderungen bewirkt. Unter anderem sind Rücküberweisungen von Verwandten nun einfacher, Reisen von emigrierten Kubanern auf die Insel sind erlaubt. Auch wenn das Embargo – oder wie die kubanische Regierung es nennt: die »Blockade« – fortbesteht: Kaum jemand spricht darüber, dass die USA inzwischen der zweitwichtigste Tourismuspartner und der fünftwichtigste Handelspartner Kubas sind. Obama wird einer schrittweisen Entspannungspolitik gegenüber Kuba nicht im Weg stehen, er wird Kuba aber auch nicht zu seiner außenpolitischen Priorität erklären. Die Embargo-Gesetzgebung fällt nicht in die Kompetenz des Präsidenten, sondern in die des Kongresses. Und einen Konflikt mit dem Kongress wegen Kuba wird er vermeiden. Wie jede Entspannungspolitik gilt auch für Washingtons Kuba-Politik, dass sie letztlich immer auch davon abhängig ist, dass sich auf Kuba etwas bewegt. Interview: Anton Landgraf

interview bert hoFFmann Foto: GIGA

chen Signalen wie der Freilassung der Gefangenen veranlasst. Es ist natürlich ein innenpolitisches Signal, aber eben auch eines nach außen.

Bert Hoffmann ist Politikwissenschaftler am GIGA-Institut für Lateinamerika-Studien in Hamburg.

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Kultur

50 Frankfurter Buchmesse: Argentiniens Auseinandersetzung mit der Diktatur 54 Analía Argento: Die geraubten Kinder 55 Wolfgang Kaleck: Die späte Strafverfolgung 56 Rodolfo Walsh: Begründer des investigativen Journalismus 57 Raúl Argemi: Krimi über die argentinische Mafia 58 Bücher: Von »Die Stille Gewalt der Träume« bis »Dignity« 60 Film & Musik: Von »Darfur« bis »Zebu Nation«

Erinnerungskultur. Graffito an der Avenida de Mayo, Buenos Aires. Foto: Pierre-Yves Ginet / Rapho / laif

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Spurlos. Josefa Garcia de Noia, eine der »Madres de la Plaza de Mayo«, hält das Foto ihrer Tochter, die 1976 von Militärs entführt wurde.

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Das Fegefeuer der Überlebenden Viele argentinische Schriftsteller beschäftigen sich mit den schmerzhaften Folgen der Militärdiktatur. Neuerscheinungen, gelesen von Wera Reusch.

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ls sie diesen Roman schrieb, konnte Elsa Osorio nicht ahnen, welche Wirkung er haben sollte: »Mein Name ist Luz« dürfte weltweit das mit Abstand bekannteste Buch über die Militärdiktatur sein, die von 1976 bis 1983 in Argentinien herrschte. Seit seinem ersten Erscheinen 1998 wurde Osorios Weltbestseller in 16 Sprachen übersetzt. In »Mein Name ist Luz« schildert die argentinische Schriftstellerin die Geschichte eines sogenannten geraubten Kindes. Diese wurden als Babys inhaftierten Regimegegnerinnen weggenommen und wuchsen in fremden Familien auf, ohne ihre wahre Identität zu kennen. Die »Großmütter der Plaza de Mayo« waren die ersten, die diese Verbrechen der argentinischen Militärs anprangerten und sich auf die Suche nach den vermissten Kindern machten. Elsa Osorio gelang es mit ihrem Roman, dieses Verbrechen einem breiten Publikum eindringlich vor Augen zu führen. Dafür erhielt sie 2001 von Amnesty International einen Literaturpreis, den die Organisation zu ihrem 40-jährigen Jubiläum erstmals verlieh. Die juristische Aufarbeitung der Militärdiktatur in Argentinien verlief äußerst stockend – erst 2003 hob das argentinische Parlament die Amnestie auf, die auf Druck der Militärs 1986/87 eingeführt worden war und ihnen weitgehende Straflosigkeit garantierte. Viele namhafte argentinische Schriftsteller haben sich in den vergangenen Jahren mit der Militärdiktatur auseinandergesetzt. Mit ihren Werken trugen sie mit dazu bei, dass eine gesellschaftliche Debatte und schließlich auch die Strafverfolgung in Gang kamen.

Foto: Pierre-Yves Ginet / Rapho / laif

Dialoge mit »Verschwundenen« Ende Januar starb der argentinische Schriftsteller Tomás Eloy Martínez im Alter von 75 Jahren. Er war nicht nur ein bekannter Schriftsteller, sondern auch einer der renommiertesten Journalisten Argentiniens. 1975 ging er ins Exil, nachdem er von einer ultrarechten Todesschwadron bedroht worden war. Als letztes großes Werk hinterließ Martínez den Roman »Purgatorio«. »Dreißig Jahre war Simón Cardoso schon tot, als Emilia Dupuy, seine Frau, ihm zur Lunchzeit im Speiseraum von Trudy Tuesday begegnete« – so lautet der großartige erste Satz dieses Romans, der eine ganz besondere Liebesgeschichte erzählt. Der Kartograph Simón Cardoso wird 1976 vor den Augen seiner Frau von den Militärs entführt und taucht nicht wieder auf. Sie ist je-

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arGentinien

doch fest davon überzeugt, dass er noch lebt und sucht ihn verzweifelt in verschiedenen Ländern. Als die mittlerweile 60-jährige Emilia Dupuy ihren Mann schließlich in einem Restaurant in den USA trifft, ist sie überglücklich. Verwunderlich ist nur, dass Simón aussieht wie 30 und offenbar keinen Tag gealtert ist. Er habe viel über den Schmerz derjenigen nachgedacht, die jemanden verloren hätten, sagte Tomás Eloy Martínez, als sein Roman 2008 auf Spanisch erschien. Vor allem über die Hölle und das Fegefeuer (Purgatorio), die es bedeute, nicht zu wissen, was mit der geliebten Person geschehen sei, wo sie sich befände, und ob sie noch lebe. Eine ganz ähnliche Ausgangskonstellation findet sich in dem Roman »Wir haben uns geirrt« von Martín Caparrós. Die Frau des Ich-Erzählers Carlos »verschwand« 1976, und auch ihn lässt dieser Verlust nicht zur Ruhe kommen. 30 Jahre später erhält er Hinweise auf Personen, die in dem Folterzentrum tätig waren, in das man seine Frau gebracht hatte. Zu den damaligen Tätern zählt auch ein Priester, der inzwischen völlig unbehelligt in einem Dorf lebt. Für Carlos stellt sich die Frage, ob er seine Frau rächen soll, denn »Rache ist eine extreme Form des Erinnerns, eine verzweifelte Form, eine entschwindende Spur wiederzubeleben«. Der 1957 geborene Autor zählt zu den führenden Intellektuellen Argentiniens und lebte während der Diktatur ebenfalls im Exil. Mit der Figur des Carlos schuf Caparrós einen wütenden Anti-Helden, der mit aller Welt hadert und streitet, aber auch mit eigenen Fehlern hart ins Gericht geht: Seine Generation, die der militanten Aktivisten der siebziger Jahre, sei Illusionen und Größenwahn erlegen, so die These des Ich-Erzählers: »Unsere Versuche waren so untauglich, dass die, die über uns gesiegt haben, sie benutzten, um unser Land ungerechter, schmutziger und dümmer zu machen, als es gewesen ist, bevor wir uns vor-

»Argentiniens Schriftsteller trugen mit dazu bei, dass schließlich auch die Strafverfolgung der Militärs in Gang kam.« 51


nahmen, es zu verbessern, und noch dazu haben viele von uns auf diesem Weg ihr Leben gelassen.« Von seinen ehemaligen Mitstreitern fordert Carlos eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Doch auch den offiziellen Erinnerungsdiskurs greift der Protagonist scharf an: Die derzeitige argentinische Regierung habe das Thema Aufarbeitung der Militärdiktatur gepachtet und bemäntele damit ihre unsoziale Politik, so sein Vorwurf. Der argentinische Schriftsteller stellt in »Wir haben uns geirrt« provokante Fragen und führt notwendige Debatten – kritisieren ließe sich allenfalls, dass sein Buch mehr als Streitschrift denn als Roman überzeugt.

Der Blick der nächsten Generation

Foto: Pierre-Yves Ginet / Rapho / laif

Der Schriftsteller Martín Kohan wurde 1967 geboren. Er gehört damit zu der Generation, die die Militärdiktatur als Jugendliche erlebte. In seinem klugen Roman »Zweimal Juni«, der im vergangenen Jahr auf Deutsch erschien, befasste er sich mit dem Thema Folter und der Mitwirkung von Medizinern daran. Dabei erzählt er die Geschichte aus der Perspektive eines Wehrpflichtigen, der einem Militärarzt als Chauffeur dient. Jetzt ist Martín Kohans neuer Roman »Sittenlehre« erschienen. Er spielt 1982, während des Falklandkriegs, an einem Elite-Gymnasium in Buenos Aires. Patriotismus, Disziplin und Moral werden groß geschrieben, deshalb hat jede Klasse neben den Lehrern noch eine eigene Aufsichtsperson. Eine dieser Wärterinnen steht im Mittelpunkt des Romans. Die 20-Jährige muss für Ruhe sorgen, für ordnungsgemäße Appelle und für korrekte Haarschnitte. Ihr Arbeitseifer geht so

weit, dass sie heimlich auf der Jungentoilette Wache hält, um die Schüler, die nur wenig jünger sind als sie, beim Rauchen ertappen zu können. Im Laufe des Romans gerät die für Zucht und Ordnung zuständige Aufseherin zunehmend in innere Konflikte und verliert die Kontrolle über die Situation. Zu einer kritischen Haltung ist sie jedoch nicht in der Lage, auch kann sie nicht erkennen, dass sie selbst ein Rädchen im Getriebe der allgemeinen Repression ist. Martín Kohan wählte für seine Bücher über die Militärdiktatur junge Erwachsene als Protagonisten, die sich nicht eindeutig als Opfer oder Täter klassifizieren lassen, und lotet an ihrem Beispiel die Rolle und Funktion von Untergebenen aus. »Sittenlehre« benennt klar die Verantwortung des Einzelnen innerhalb eines Systems, das auf Kontrolle und Unterordnung abzielt. Gleichzeitig hat der Autor aber durchaus auch Sinn für die absurden und tragischen Aspekte im Leben einer Mitläuferin. Verschiedene argentinische Autoren haben versucht, die Militärdiktatur aus der Sicht von Kindern zu schildern, so zum Beispiel Marcelo Figueras in seinem wunderbaren Roman »Kamtschatka«. Inzwischen gibt es aber auch literarische Werke von Autoren, die selbst als Kinder von der Militärdiktatur betroffen waren, wie Laura Alcoba oder Felix Bruzzone. Sie sind Kinder von Aktivisten und »Verschwundenen« und lassen autobiographische Erfahrungen in ihre Geschichten einfließen. »Wenn ich jetzt mein Gedächtnis anstrenge, um vom Argentinien der Montoneros zu sprechen, von der Diktatur und dem Terror, (…) dann geht es mir weniger darum, mich zu erinnern, als herauszufinden, ob ich danach anfangen kann zu verges-

Verschwunden. Aurora Zucco de Bellocchio hält das Foto ihrer Tochter Irene, die 1977 von Militärs entführt wurde.

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Im Zeichen des Kopftuchs. Demonstration der »Madres de la Plaza de Mayo«, Buenos Aires.

sen«, heißt es in Laura Alcobas Roman »Das Kaninchenhaus«. Er beschreibt das Leben einer Siebenjährigen, deren Eltern dem bewaffneten Widerstand angehören. Als ihr Vater inhaftiert wird, müssen ihre Mutter und sie untertauchen. Sie leben unter falschem Namen in einem Haus, in dem auch die Druckerei der Bewegung untergebracht ist – nach außen getarnt als Kaninchenzucht. Anhand alltäglicher Szenen wird die tiefe Verunsicherung des Mädchens deutlich, das ständig befürchten muss, etwas falsch zu machen, entdeckt oder verraten zu werden. Auch in den Erzählungen von Félix Bruzzone spiegeln sich autobiographische Erfahrungen. Der Band trägt den schlichten Titel »76« – dies ist das Jahr des Militärputschs und das Geburtsjahr Bruzzones. Sein Vater »verschwand« kurz vor seiner Geburt, seine Mutter wenige Monate danach. Wie er selbst, sind auch die

Protagonisten seiner Erzählungen ohne Eltern aufgewachsen – in vielen der Geschichten spielen Großmütter eine prominente Rolle. Einige der jungen Männer in Bruzzones Erzählungen haben Alpträume, führen ein unbehaustes Leben, andere wollen herausfinden, was damals geschah. »Vieles, was ich tue, steht – oft ohne dass ich mir dessen bewusst bin – in Zusammenhang mit meinen Nachforschungen über das Verschwinden meiner Eltern«, heißt es in einer der Erzählungen. Zu erwähnen, »dass meine Eltern während der Diktatur verschwanden, (…) ist gleichsam meine Visitenkarte«. Die Vergangenheit hat bei den heute erwachsenen Kindern der damaligen Aktivisten tiefe Spuren hinterlassen. Die Autorin ist freie Journalistin und lebt in Köln.

arGentiniens diktatur

arGentinien als Gastland der buchmesse

Im März 1976 putschte sich das argentinische Militär unter Jorge Rafael Videla an die Macht. In dem »schmutzigen Krieg«, der folgte, ließ die Militärregierung etwa 2.300 Menschen ermorden und 10.000 verhaften. Dies sind nur die nachweisbaren Fälle. Rund 30.000 Regimegegner »verschwanden« während der Diktatur bis 1983 spurlos. Die »Madres de la Plaza de Mayo« und andere Menschenrechtsgruppen, darunter auch Amnesty International, verlangen seit 1977 die Aufklärung dieser Verbrechen. Und ihr zäher Protest hat Erfolg: Gegen knapp 1.500 zivile und militärische Funktionäre wird heute ermittelt. Erst Ende April wurden der letzte Diktator des Landes, General Reynaldo Bignone, und sechs weitere hohe Militärs vom Bundesgericht zu Haftstrafen zwischen 17 und 25 Jahren verurteilt. Und die Aufklärung und Ahndung der Menschenrechtsverletzungen in Argentinien sind noch lange nicht abgeschlossen.

Argentinien ist Gastland der Frankfurter Buchmesse vom 6. bis 10. Oktober. Aus diesem Anlass erscheinen zahlreiche Romane und Erzählungen argentinischer Schriftsteller auf Deutsch. Ungefähr ein Drittel der 200 Neuerscheinungen beschäftigt sich mit der Aufarbeitung der Militärdiktatur, darunter auch die im Text genannten: Tomás Eloy Martínez: Purgatorio. Aus dem Spanischen von Peter Schwaar. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010. 320 Seiten, 19,95 Euro Martín Caparrós: Wir haben uns geirrt. Aus dem Spanischen von Sabine Giersberg. Berlin Verlag, Berlin 2010, 336 Seiten, 22 Euro Martín Kohan: Sittenlehre. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010, 247 Seiten, 19,90 Euro Laura Alcoba: Das Kaninchenhaus. Aus dem Französischen von Angelica Ammar. Insel Verlag, Berlin 2010, 118 Seiten, 14,90 Euro Félix Bruzzone: 76. Aus dem Spanischen von Markus Jakob. Berenberg Verlag, Berlin 2010, 144 Seiten, 19 Euro

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Amnesty International ist auf der Frankfurter Buchmesse in Halle 3.1 am Stand E 121 vertreten.

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Gefunden. Tatjana Sfiligoy, hier mit ihrer Tochter, war ein geraubtes Kind.

Foto: Nicolas Goldberg / Panos

und an regimetreue Familien übergeben. Besonders perfide: Frauen, die wie Carlos Mutter bei ihrer Festnahme schwanger waren, ließ man so lange am Leben, bis ihr Kind geboren wurde. Aber auch keinen Tag länger. Die argentinische Journalistin Analía Argento beschreibt in ihrem Buch »Paula, du bist Laura!« noch sieben weitere Schicksale von geraubten Kindern, die in den vergangenen zwanzig Jahren von ihrer Herkunft erfahren haben. Möglich wurde dies durch die Rückkehr Argentiniens zur Demokratie, vor allem aber durch die unermüdlichen Nachforschungen der Menschenrechtsorganisation »Großmütter der Plaza de Mayo«. Von Beginn an suchten die Mütter der Gefangenen nach ihren Enkeln, die sie – anders als ihre Kinder – noch am Leben glaubten. Durch Aussagen von Überlebenden, Prozessakten, Blutproben und Genanalysen konnten sie bis heute die Verwandtschaftsverhältnisse von etwa hundert Kindern zweifelsfrei ermitteln. Die Autorin schildert sehr einfühlsam das Gefühlschaos und die Identitätskrise der Betroffenen, nachdem sie von ihrer Herkunft erfahren haben. Ihre Reaktionen reichen dabei von Erleichterung, über anfängliche Abwehr und spätere Annäherung an die »zweite Familie« bis hin zur dauerhaften Verleugnung des Sachverhalts. Dabei verfällt die Autorin nicht in SchwarzWeiß-Malerei. Obwohl sie offensichtliche Sympathien für die Suche der Angehörigen nach ihren Enkelkindern hat, wird jede Entscheidung der Zwangsadoptierten plausibel dargestellt. Man kann beispielsweise Evelin, die weiterhin bei ihren Zieheltern lebt und sich weigert, ihre Großmutter kennenzulernen, zwar nicht verstehen, wohl aber ihr Verhalten als Folge des Verbrechens, das an ihr begangen wurde, nachvollziehen. Ähnlich verhält es sich mit den Geschwistern Marcelo, Victoria und Laura, die nach der Ermordung ihrer Eltern in verschiedene Familien kamen, ganz unterschiedliche Wege gefunden haben, mit ihrer Vergangenheit umzugehen, und heute kaum zusammenfinden. Die Autorin ergänzt die Biografien mit den notwendigen historischen Fakten, die ebenso spannend dargestellt werden wie die persönlichen Lebenswege. Insgesamt ein Buch, das Herz und Kopf des Lesers gleichermaßen anspricht und noch lange nachwirkt, nachdem man es aus der Hand gelegt hat.

Die Kinder der Diktatur Rund 500 Kinder wurden während der argentinischen Militärdiktatur ihren Eltern weggenommen und fremden Familien gegeben. Die Journalistin Analía Argento ist acht Fällen nachgegangen. Von Jessica Zeller

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ls Carlos zum zweiten Mal geboren wird, ist er schon erwachsen. Erst im Alter von achtzehn Jahren erfährt er, wer er eigentlich ist: das Kind von Yolanda Casco und Julio D’Elia, zwei uruguayischen Staatsbürgern und Gewerkschaftern, die in einem argentinischen Folterlager ermordet wurden. In der Krankenstation des Lagers »Pozo de Banfield«, in der Nähe von Buenos Aires, kommt Carlos 1977 zur Welt. Seine Mutter sieht ihn nur wenige Minuten nach der Geburt, dann wird sie betäubt und ermordet. Sein Vater ist zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Das neugeborene Baby wird in Zeitungspapier gewickelt und auf einem Parkplatz am Stadtrand mit einer gefälschten Geburtsurkunde an das kinderlose Ehepaar Leiro übergeben. Herr Leiro ist ein regimetreuer Militär. Von da an trägt das Kind den Namen Carlos. Statt bei seinen Eltern wächst der Junge bei den Sympathisanten ihrer Mörder auf. Die Geschichte von Carlos, die so schrecklich wie unglaublich ist, ist nicht einmalig. Schätzungsweise 500 Mädchen und Jungen teilen sein Schicksal: Sie wurden ihren Eltern, die als Oppositionelle gefangen gehalten und gefoltert wurden, entrissen

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Die Autorin ist freie Journalistin und berichtet regelmäßig aus Argentinien. Analía Argento: Paula, du bist Laura! Geraubte Kinder in Argentinien. Aus dem Spanischen übersetzt von Studierenden der Universität Mainz unter Leitung von Verónica Abrego und Eva Katrin Müller. Ch. Links Verlag, Berlin 2010, 248 Seiten, 19,90 Euro

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Teilerfolg vor Gericht Vor fast dreißig Jahren endete die Militärdiktatur in Argentinien. Erst jetzt verfolgen die Gerichte des Landes die staatlich organisierten Verbrechen umfassend. Der Anwalt Wolfgang Kaleck analysiert den langwierigen Kampf gegen die Straflosigkeit. Von Ferdinand Muggenthaler

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International angehört, bei ihren Anzeigen auf Fälle von deutschen Opfern der Diktatur beschränken. Trotzdem erreichte die Koalition, für die Kaleck in vielen Fällen als Rechtsanwalt tätig war, dass die Staatsanwaltschaft Nürnberg schließlich mehrere Haftbefehle gegen argentinische Militärangehörige erließ. Kaleck schildert die juristischen Verfahren, die gegen die Folterer und Mörder, die Befehlshaber und Nutznießer der argentinischen Militärdiktatur geführt wurden und werden, sehr verständlich. Sein Buch ist auch deshalb lesenswert, weil er über die juristischen Sachverhalte hinausgeht und die Strafprozesse in ihren politisch-historischen Zusammenhang einordnet. Trotz der endlich erfolgten Verurteilung hoher Militärs feiert Kaleck nicht die juristischen Siege, an denen er beteiligt war. Er fragt sich vielmehr, worin eigentlich die Erfolge bestehen, angesichts »von 30.000 Verschwundenen, deren Schicksal bis heute nicht endgültig aufgeklärt ist, angesichts der sozialen, politischen und ökonomischen Situation Argentiniens, die bis heute die Auswirkungen der Militärjunta spürbar macht?«. In Kalecks Augen sind Erfolge im Gerichtssaal immer nur Teilerfolge. Aber die Justiz ist ein wichtiges Feld, auf dem die gesellschaftliche Auseinandersetzung um die Verbrechen der Diktatur ausgetragen wird, so sein Fazit. Zwar wird in den Strafverfahren keine umfassende Aufarbeitung der Geschichte geleistet, da es immer um die Zuordnung persönlicher Schuld geht. Doch werden wichtige Beweismittel gesichert und nicht zuletzt wird durch die Prozesse das weit verbreitete Schweigen gebrochen. Eine Befreiung auch für viele Folteropfer, die 30 Jahre lang nicht einmal in der Familie über ihre Erfahrungen gesprochen haben und jetzt gegen ihre Peiniger aussagen.

Foto: Pierre-Yves Ginet / Rapho / laif

egen Hunderte Militärs wird in Argentinien inzwischen wegen Entführung, Mord, Folter und Kinderraub ermittelt. Allein 2009 wurden zwölf Hauptverhandlungen abgeschlossen und 40 Angeklagte verurteilt. Wolfgang Kaleck gibt in seinem Buch einen Überblick über die Diktaturverbrechen, beschreibt die ersten Prozesse gegen die Mitglieder der Militär-Junta nach der Rückkehr zur Demokratie 1983 und das schnelle Ende der Strafverfolgung durch die Amnestiegesetze 1986/87. Es folgte eine lange Phase der juristischen Ruhe in Argentinien. Der Kampf gegen die Straflosigkeit musste auf anderen Ebenen geführt werden. Die Angehörigen der Ermordeten und Der Autor ist Amerika-Referent der deutschen Amnesty»Verschwundenen« setzten dabei auf internationale UnterstütSektion. zung. Mit Hilfe von Menschenrechtsorganisationen und Anwälten strengten sie Verfahren im Ausland an. In Italien und FrankWolfgang Kaleck: Kampf gegen die Straflosigkeit. Argentireich wurden in Abwesenheit Prozesse gegen die Organisatoren niens Militärs vor Gericht. Wagenbach Verlag, Berlin 2010, von Folter und Mord geführt. In Spanien erließ Ermittlungsrich128 Seiten, 10,90 Euro ter Baltasar Garzón 1997 den ersten internationalen Haftbefehl gegen Junta-Chef Leopoldo Fortunato Galtieri. Die Verfahren in Europa trugen nicht nur dazu bei, die Straflosigkeit in Argentinien zu beenden. Kaleck bewertet insbesondere die spanischen Verfahren auch als Meilensteine der internationalen Rechtsentwicklung. Die Anzeige gegen die argentinischen Generäle war in Spanien die erste, die sich auf das Prinzip der »Universellen Jurisdiktion« stützte. Demnach können so schwerwiegende Verbrechen auch dann verfolgt werden, wenn eigene Staatsbürger weder betroffen noch beteiligt sind. In Deutschland gab es bis 2002 keine solche Rechtsgrundlage. Deshalb musste sich die deutsche »Koalition gegen Straflosigkeit«, ein Bündnis von Menschenrechtsorganisationen, dem auch Amnesty Verurteilung und Bestrafung. Malerei auf der Plaza de Mayo, Buenos Aires.

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Klassiker der Reportage Rodolfo Walsh zählt zu den prominentesten Opfern der Militärdiktatur. Er begründete den investigativen Journalismus in Argentinien und schrieb Krimis. Von Gert Eisenbürger

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Literatur. Walshs Tatsachenbericht bietet alles, was gute Literatur ausmacht: Er ist hervorragend geschrieben, verdichtet das Geschehene so, dass die Lektüre fesselt und setzt sich mit den Motiven der Akteure auseinander. Walsh verfasste auch fiktionale Texte. Seine unter dem Titel »Die Augen des Verräters« erschienenen Kriminalgeschichten aus den frühen fünfziger Jahren weisen ihn als großen Könner auch in diesem Genre aus. Mehr als ein Jahrzehnt vor dem Aufkommen des kritisch-illusionslosen Roman Noir präsentierte er Miniaturen, in denen schon vor dem eigentlichen Delikt die Dinge nicht stimmen und die Lösung der Fälle daher nicht zur Wiederherstellung von Recht und Ordnung führt. Über das Massaker im Juni 1956 aber wollte er keinen Roman schreiben. Er wollte Fakten vorlegen. Damit ist »Das Massaker von San Martín« ein frühes Dokument des Kampfes gegen Straflosigkeit, der bis heute die Arbeit lateinamerikanischer Menschenrechtsorganisationen bestimmt. Walsh hat diesen Kampf 1957 verloren: Obwohl er erdrückende Beweise vorlegte, wurde der verantwortliche Polizeichef der Provinz Buenos Aires, Desiderio Fernández Suárez, nie vor Gericht gestellt. Seine Recherchen und deren Ignorierung durch die Behörden radikalisierten den bis dahin politisch nur mäßig interessierten Rodolfo Walsh. Anfang der siebziger Jahre schloss er sich der linksperonistischen Guerilla »Montoneros« an. Im März 1977 erschoss ihn eines der berüchtigten Einsatzkommandos der Diktatur im Zentrum von Buenos Aires.

Foto: Marcos Brindicci / Reuters

m Juni 1956 erhoben sich in Argentinien einige Militärs gegen Präsident Aramburu, der seinerseits durch einen Staatsstreich an die Macht gekommen war. Der Putschversuch scheiterte, die meisten Beteiligten wurden erschossen. Doch nicht nur aufständische Offiziere wurden ohne Verfahren hingerichtet, sondern auch unbewaffnete Zivilisten. Deren Geschichte erzählt der argentinische Autor Rodolfo Walsh (1927–1977) in seinem 1957 erstmals veröffentlichten Buch »Operación Masacre«, das jetzt unter dem Titel »Das Massaker von San Martín« in neuer deutscher Übersetzung erschienen ist. Am Vorabend des Aufstands hatten sich rund ein Dutzend Männer in einem Vorort von Buenos Aires in einer Wohnung Der Autor ist Redakteur des Magazins »Informationsstelle Lateinamerika«. getroffen. Unter ihnen waren peronistische Gewerkschafter, die von der Militärrevolte wussten und sich für mögliche Aktionen Rodolfo Walsh: Das Massaker von San Martín. bereithielten, die meisten aber waren Arbeiter aus dem Viertel, Aus dem Spanischen von Erich Hackl, Rotpunktdie sich die Radioübertragung eines Boxkampfes anhören wollverlag, Zürich 2010, 255 Seiten, 19,50 Euro ten. Gegen 23 Uhr stürmten Polizisten die Wohnung, brachten Rodolfo Walsh: Die Augen des Verräters. Krimialle Anwesenden zur Polizeiwache und verfrachteten sie auf nalgeschichten. Aus dem Spanischen von der einen Lkw, angeblich zur Überstellung ins Gefängnis. Doch der Gruppe »Transports«, Rotpunktverlag, Zürich zuständige Polizeichef hatte ihre Erschießung angeordnet. Der 2010, 166 Seiten, 18 Euro Transporter fuhr auf ein freies Gelände nördlich der Stadt. Als sie vom Wagen steigen sollten, schwante den Gefangenen, was ihnen drohte. In dem entstehenden Chaos gelang mindestens fünf die Flucht, fünf wurden getötet. Zwei weitere wurden versehentlich für tot gehalten und liegen gelassen. Der damals 30-jährige Journalist Rodolfo Walsh hatte von der Erschießung »Aufständischer« in der Zeitung gelesen. Dann erfuhr er, dass es Überlebende gab. Er machte sie ausfindig und recherchierte mit Unterstützung seiner Kollegin Enriqueta Muñiz den genauen Tathergang. Keine große Zeitung war bereit, Walshs Reportage zu veröffentlichen. Nur ein Gewerkschaftsblatt fand den Mut dazu. Monate später erschien sie als Buch und wurde zu einem Klassiker der argentinischen Einschüsse. In der Folterstätte »Pozo de Arana« fanden sich über 10.000 Teile menschlicher Knochen.

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Und die Welt schaut zu. Argentinische Fans nach dem WM-Sieg 1978.

Foto: Jerry Cooke / Sports Illustrated / Getty Images

des treuen Staatsdieners, der seine Pflicht tut, regelmäßig foltert, fleißig Berichte schreibt, pünktlich Feierabend macht und zu Frau und Kind eilt. Jetzt erzählt Argemí aus Sicht des Kriminellen, des Handlangers und Duckmäusers, der sich seinem Boss andient, wieder auf die Beine kommen will und doch alles vermasselt. El Polaco, ein kleiner Mafioso, beauftragt den Kriminellen El Negro, einen Drogentransport über die Grenze nach Chile abzuwickeln. Was ein schnelles Geschäft ohne Komplikationen zu werden verspricht, mündet bald in eine Katastrophe: Verfolgungsjagden, Schießereien, Exekutionen, die Rache des Paten. Die ganze Palette mafiotischer Verbrechen wird vor dem geistigen Auge des Lesers abgespult. Der Roman schreit geradezu nach Verfilmung. Und er strotzt vor Fatalismus: Die Figuren, vor allem der Protagonist, sind nicht Herr über ihr Schicksal. Ihr Leben, ihre Geschäfte, ihre Dramen und ihr Tod sind durch die Geburt vorherbestimmt: »Wenn du auf die Welt kommst, greift ein Engel nach der Geige und spielt eine Melodie, nach der du dein Leben lang tanzen wirst. Immer dasselbe Lied. Bei deinen Geschäften, deinen Freunden, bei allem… Der Geige des Engels entkommt keiner.« Für El Negro hat der Engel die kriminelle Laufbahn vorgesehen. Als Kind wird er zusammen mit seinem Freund Sapo beim Fahrradklau erwischt. Er kommt in ein Jugendheim, und »in dieser Zeit lernte er, wie man Vorhängeschlösser mit einem Draht knackte, wer am meisten für gestohlene Radios und Uhren bezahlte… Es vergingen drei Monate, drei endlose Monate, in denen er vor allem lernte, dass man zu unfairen Mitteln greifen musste, wenn man überleben wollte.« Verbrechen als Bestimmung. Eine packende »novela negra« also, aber auch ein Krimi ohne Ermittler, Polizisten, Detektive. Die mag der Autor nicht. Denn wie so vielen zeitgenössischen Krimiautoren aus Lateinamerika geht es Argemí nicht um die Aufklärung eines Verbrechens, sondern ums Erzählen und Entwickeln von Charakteren. Und um die Schilderung von sozialen und politischen Zuständen, vor deren Hintergrund sich unpolitische Verbrechen, Drogenschmuggel, Mord oder Entführung abspielen. So gelingen Argemí spannende Romane, frei von platten Politbotschaften und Belehrungen.

Lied ohne Entkommen Der neue Krimi des Schriftstellers und ehemaligen politischen Gefangenen Raúl Argemí spielt im argentinischen Mafiamilieu. Von Klaus Jetz

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ie argentinische Militärdiktatur war eine der brutalsten des Subkontinents. Zehn lange Jahre verbrachte der Autor Raúl Argemí in den Kerkern der Junta, wo er immer wieder gefoltert und mit dem Tode bedroht wurde. Er hat die Hölle auf Erden gesehen. Nur selten redet er in Interviews über seine Erlebnisse. In »Chamäleon Cacho«, Argemís erstem Roman, der auf Deutsch erschien, tauchen all die Grausamkeiten der Kerkerhaft und die schmutzigen Taten der Militärs auf. Argemí verarbeitet Erlebtes: entführen, foltern und spurlos verschwinden lassen. Der Terror gegen Gewerkschafter, Guerilleros, Kommunisten, Sozialisten hatte System. Und obwohl die fußballbegeisterte Welt 1978 auf Argentinien schaute, interessierte sich kaum jemand für die Verbrechen des Regimes. Argemís neuer Roman »Und der Engel spielt dein Lied« ist in Patagonien angesiedelt, in Zeiten des Terrors und der WM. Der »schmutzige Krieg« spielt jedoch nur am Rande eine Rolle. Im Zentrum des Geschehens stehen die schmutzigen Geschäfte der Mafia, die die Militärs schützen und an denen sie mitverdienen. Doch die Guerilla »hat die Straßen unsicher gemacht« und stört die kriminellen Machenschaften. Es ist »nur eine Frage der Zeit, bis sie sie kaltgestellt haben und es wieder ruhiger auf den Straßen wird«. Argemís Helden sind Bösewichte und Taugenichtse. In »Chamäleon Cacho« überraschte die Perspektive des Folterknechts,

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Der Autor ist Geschäftsführer des Lesben- und Schwulenverbands in Deutschland und schreibt als freier Journalist regelmäßig zu Lateinamerika. Raúl Argemí: Und der Engel spielt dein Lied. Aus dem Spanischen von Susanna Mende. Unionsverlag, Zürich 2010, 192 Seiten, 16,90 Euro

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Foto: Ana Nance / Redux / laif

Pufferzone. Ein Café in der Long Street, Kapstadt.

Ambivalente Gesellschaft K. Sello Duikers Roman »Die stille Gewalt der Träume« handelt von Drogen, Sex und Toleranz in Zeiten der Postapartheid. Von Ines Kappert

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rag eine Swatch…, damit die Leute sagen, wow, bist du cool und nicht, wow, bist du schwarz oder weiß. Du solltest auf Schlagzeug stehen, den Schuldenerlass für die Dritte Welt unterstützen und dein Horoskop kennen. Du musst die Universalität von CK One anstreben … bis Musik das Einzige ist, was zählt, und Tanzen das Einzige, was dich von anderen unterscheidet. Das sind die Sachen, die die Clubkultur in Kapstadt bestimmen, nicht die Rassenpolitik.« Die Pop- und Konsumkultur als Pufferzone in der Postapartheid – davon handelt der Roman »Die stille Gewalt der Träume«, aber auch von Drogen, Sex und Freundschaft. Der jüngste Roman von K. Sello Duiker erinnert an große Popliteratur, etwa an die Werke von Rolf Dieter Brinkmann oder von Rainald Goetz. Auch Duiker gelingt eine faszinierende Nahaufnahme der jungen, urbanen Mittelschicht – mit dem Unterschied, dass seine Anti-Helden nicht in Berlin leben und leiden, sondern im heutigen Südafrika, genauer, in Kapstadt. Doch auch sie gleiten auf der Suche nach sich selbst durch das Nachtleben, lieben Musik und erproben Sex als Möglichkeit einer gewaltfreien Kommunikation. Das geht nicht immer gut. Für Tshepo, den Journalistikstudenten, geht es sogar richtig schief. Laut Attest katapultiert ihn eine »Cannabis-induzierte Psychose« in die geschlossene Psychiatrie. Gnadenlos wird er mit Medikamenten vollgestopft; er und die anderen Patienten kämpfen um einen Rest an Menschenwürde. Vergebens. Wenn der Umgang mit Abweichlern einen Lackmustest für Demokra-

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tien darstellt, dann hat Südafrika noch einen langen Weg vor sich. Gleichzeitig ähnelt das Studentenleben in Kapstadt dem westlichen. Der ewige Streit um den Abwasch bestimmt auch dort das WG-Leben, lausige Kellnerjobs nerven ebenso wie Freunde, die immer noch glauben, man wüsste nicht, dass sie schwul sind. Genau die Mischung aus Vertrautem und Fremden erlaubt dem westlichen Leser differenzierte Einblicke in die so tolerante wie gewalttätige südafrikanische Gesellschaft. Für Duiker ist Ambivalenz kein Problem. Alle seine Figuren sind vielschichtig, sie sind verantwortlich, ohnmächtig, abstoßend und liebenswert zugleich. Jeder bekommt eine Stimme, jeder das Recht auf seine Sicht der Dinge, fast alle haben Humor. Das ist Basisdemokratie vom Feinsten. Entsprechend wird der fünfhundertseitige Roman auch von keinem souveränen Erzähler zusammengehalten, niemand schwebt hier über den Dingen. Stattdessen werden viele Situationen mehrmals geschildert, denn konsequent schneidet Duiker das Erleben des einen Protagonisten gegen die Interpretation des anderen. So entsteht ein Geflecht aus Gesprächen und Perspektiven, aus inneren Monologen, Streitereien und Geständnissen, die in Betten, an Theken, Küchentischen oder vor dem Fernseher stattfinden. Es obliegt dem Leser, sie zu einem Panorama zusammenzusetzen. K. Sello Duiker erhielt 2001 für sein Debüt »Thirteen Cents« den Preis für den »Besten Erstlingsroman eines afrikanischen Schriftstellers«. »The Quiet Violence of Dreams« wurde ebenfalls begeistert aufgenommen. Die deutsche Übersetzung hat K. Sello Duiker nicht mehr erlebt. Er nahm sich im Januar 2005 das Leben. K. Sello Duiker: Die stille Gewalt der Träume. Aus dem Englischen von Judith Reker. Herausgegeben von Indra Wussow. Verlag Wunderhorn, Heidelberg 2010, 538 Seiten, 26,80 Euro

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Kraft des Pathos

Demokratiedämmerung

2007 forderte die UNO mehr Rechte für indigene Bevölkerungsgruppen. Australien war damals eines der Länder, das sich dagegen aussprach. Inzwischen hat sich das Heimatland der Aborigines dafür entschuldigt, so unbelehrbar am kolonialistischen Weltbild festgehalten zu haben. Und doch: Wer interessiert sich wirklich für Traditionen von Bevölkerungsgruppen, die, von keiner Lobby vertreten, einfach nur Raum haben wollen, um ihr traditionsgebundenes Leben gegen den Zeitgeist zu verteidigen? Die in Los Angeles ansässige und preisgekrönte Fotografin Dana Gluckstein hat im Laufe ihrer Karriere Ikonen wie Nelson Mandela, Michail Gorbatschow, Muhammad Ali und Barbra Streisand aufgenommen. Doch zur Lebensaufgabe hat sie es sich gemacht, Indigene zu fotografieren. Dafür reist sie seit über 30 Jahren durch die ganze Welt. Glucksteins Fotos sind schwarz-weiß oder eher sepiafarben, ihre HasselbladKamera stammt aus dem Jahr 1981. Ihre Filme lässt die Fotografin noch entwickeln. Auch sie hält also, wenn man so will, an überkommenen Kulturtechniken fest. Der Fotoband »Dignity«, der zum 50-jährigen Bestehen von Amnesty International erscheint, zeigt Menschen zumeist in ihrer traditionellen Kleidung. Mehrheitlich blicken diese ernst oder feierlich in die Kamera. Dieses kunstvolle Bilder-Buch schneidet Menschen aus der Zeit heraus und gibt sie behutsam dem neugierigen Blick der Fortschrittsmenschen preis. Es ist ein Buch, das auf die Kraft des Pathos und der Inszenierung setzt.

»Demokratie ist die einzige politisch verfasste Gesellschaftsform, die gelernt werden muss«, davon ist der bekannnte Soziologe Oskar Negt überzeugt. Also bedarf es der politischen Bildung und der Überprüfung, wie es um das Demokratieverständnis der Mehrheitsbevölkerung bestellt ist – auch und gerade in den entwickelten Demokratien. Die neueste Studie des emeritierten Professors für Soziologie bescheinigt der Bundesrepublik eine »Demokratiedämmerung«. »Für einen politischen Intellektuellen ist es nicht immer befriedigend, wenn er bestätigt wird«, stellte Oskar Negt mit einem gewissen Sarkasmus bei seiner Buchvorstellung fest. Und mal besorgt, mal wütend spricht Negt in seiner Schrift von einer »vernachlässigten Demokratie«. Wenn eine Gesellschaft widersprüchliche Interessen nicht mehr respektiert und nicht versucht, diese zu integrieren, entdemokratisiert sie sich, so sein Urteil. Sie schafft und legitimiert Paralleluniversen. Als Beispiel nennt er das Leben der Hartz-IV-Empfänger und das der restlichen Gesellschaft. Solche Abspaltungsprozesse markieren für Negt den Anfang vom Ende der Demokratie. Ein Indiz für die nachlassende Bereitschaft, Kompromisse auszuhandeln, um Hierarchien durchlässig zu gestalten, ist für ihn auch die allgemeine Tendenz, Utopien zu verteufeln. Der Visionär wird durch den Faktenmenschen, mithin den Lobbyisten, abgelöst. Doch – und mit diesem Appell schließt der Soziologe seine Überlegungen – »nur noch die Utopien sind realistisch«. Oskar Negt: Der politische Mensch – Demokratie als

Dana Gluckstein: Dignity – die Würde des Menschen. Mit

Lebensform. Verlag Steidl, Göttingen 2010, 585 Seiten,

einem Nachwort von Monika Lüke. Verlag Terra Magica,

29 Euro

München 2010, 144 Seiten, 34,95 Euro

Systematische Folter In seinem Buch »Menschenrechte im Schatten kolonialer Gewalt« setzt sich der Historiker Fabian Klose von der Universität München mit den massiven Menschenrechtsverletzungen während der Dekolonisierungskriege auseinander. Anhand des Mau-Mau-Kriegs in Kenia (1952 bis 1956) und des Algerienkriegs (1954 bis 1962) zeigt er, wie ähnlich die Gewaltpolitik der beiden Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich war. Im Mittelpunkt stehen Fragen der sogenannten »antisubversiven Kriegsführung« und der Notstandsmaßnahmen. So wurden umfangreiche Internierungs- und Umsiedlungslager eingerichtet, Folter wurde systematisch angewendet, und es kam zu zahlreichen schweren Kriegsverbrechen. Dank neu erschlossenem, der Öffentlichkeit bisher nicht zugänglichem, Archivmaterial aus den Beständen der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in Genf gelingt es dem Autor, diese koloniale Gewaltpolitik aufzudecken. Das gut lesbare Buch bietet nicht nur dem Fachpublikum viele neue interessante Perspektiven, sondern ist auch einer breiteren Leserschaft sehr zu empfehlen. Fabian Klose: Menschenrechte im Schatten kolonialer Ge-

Falsche Versprechen Alex will nicht im hinterwäldlerischen Ostbayern versauern. Deshalb macht sich der Reggae-Fan mit seinem Hund Riddim auf den Weg in die Hauptstadt Berlin. Seinen Eltern sagt er kein Wort davon. Als er beim Trampen kein Glück hat, klettert er heimlich auf die Ladefläche eines Lastwagens. Sein Schreck ist groß, als er merkt, dass er nicht alleine ist: Die Geschwister Alyona und Danylo aus der Ukraine haben sich ebenfalls dort versteckt. Während der Fahrt nähern sich die Jugendlichen an, umso mehr ärgert es Alex, als er in Berlin feststellt, dass sein Fotoapparat fehlt. Einige Tage später trifft er auf Danylo. Er jagt dem Jungen hinterher und stellt ihn zur Rede. Dabei erfährt er einiges über eine Schlepperbande, die an Kinderprostitution und Drogengeschäften verdient. Alex Wut verraucht und weicht der Frage, was er tun kann. Und es scheint tatsächlich eine Möglichkeit zu geben, den Geschwistern zu helfen... Das schmale Taschenbuch hat die atemberaubende Geschwindigkeit eines Thrillers und wird vom Verlag auch als solcher bezeichnet. Es gelingt den beiden Autoren, das Thema Menschenhandel glaubhaft zu vermitteln. Ein fundiertes Nachwort, das Zahlen und Fakten nennt, lässt keinen Zweifel am realen Hintergrund der Geschichte. Ein Buch, das sich selbst für lesefaule Jugendliche eignet.

walt – Die Dekolonisierungskriege in Kenia und Algerien 1945–1962. Verlag Oldenbourg, München 2009, 346 Seiten,

Beate Dölling und Didier Laget: Auf dem Dach. Sauerländer

39,80 Euro

Verlag, Mannheim 2010, 112 Seiten, 10,90 Euro. Ab 13 Jahren

Bücher: Ines Kappert, Sarah Wildeisen kutur

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Die Widerstandskämpferin

Hölle Europa

»Ich spürte den Ruck. Und der Kopf fiel ab. Vielleicht in ein Loch, wo schon viele andere Köpfe lagen.« Die 22-jährige Cato weiß, was sie erwartet. Sie hat ihre eigene Hinrichtung schon geträumt. Dagmar Brendeckes Dokumentation »Cato ist immer noch hier« ist harter Stoff. Der Film erzählt die Lebensgeschichte von Cato Bontjes van Beek – eine der vielen bisher nicht sonderlich beachteten Biografien aus dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Cato, geboren 1920 in Fischerhude bei Bremen, träumt von der Großstadt und zieht in den dreißiger Jahren nach Berlin. Als der Krieg beginnt, wird sie aktiv: Die junge, selbstbewusste Frau kommt in Kontakt mit einer von den Nationalsozialisten als »Rote Kapelle« bezeichneten Widerstandsgruppe. Zunächst versorgt sie heimlich Kriegsgefangene, später soll sie mit Freunden agitatorische Flugblätter schreiben. Doch die Gruppe wird entdeckt, Cato verhaftet und zum Tode verurteilt. In Brendeckes Film wird die junge Frau durch ihre Briefe lebendig. Auch kommen ihre Geschwister und Freunde zu Wort. Sie erzählen, dass es bis 1998 gedauert hat, das Unrechtsurteil zu revidieren – bis dahin galt Widerstand gegen den Nationalsozialismus als Verrat. »Ich will nur eines sein, ein Mensch«, heißt es in einem von Catos Briefen. Und kurz vor der Hinrichtung: »Es gibt keinen Tod.« Ein beeindruckendes Filmdokument, das die lange zurückliegenden Ereignisse ganz nah heranrückt.

Tausende junge Afrikaner verlassen jedes Jahr ihre Heimat, um anderswo ihr Glück zu suchen. »Barka mba Mbarzak« – sinngemäß: »Nach Barcelona gehen oder ein Leben in der Hölle führen« – ist in den Straßen von Dakar längst ein geflügeltes Wort. Doch obwohl das schöne Leben in Europa in Filmen, Fernsehen und Internet nur einen Knopfdruck entfernt zu sein scheint, ist es für die meisten Afrikaner fast unmöglich, ein Visum zu bekommen. Selbst wenn sie es irgendwie schaffen, ans Ziel ihrer Träume zu gelangen, erwartet sie dort alles andere als das Paradies. Davon handeln die 15 Songs auf dem großartigen Sampler »Yes We Can«. Sie schildern das schwere Los auf der Straße, die alltäglichen Schwierigkeiten und das Abdriften in die Kleinkriminalität (»Lidl« von Grime-MC Afrika Boy aus London). Die Songs handeln aber auch von Ausgrenzung und Diskriminierung (»Green Passport« vom nigerianischen Rapper Modenine), vom Heiratstourismus (»Green Card« von Wanlov the Kubolor aus Ghana) oder von Materialismus und moralischer Orientierungslosigkeit (»Money Talk« vom nigerianischen Rapper Rapturous). Musikalisch streift »Yes We Can« alle Spielarten des HipHop, von brummenden Elektro-Tunes und dublastigen Reggae-Beats bis zu klassischem Rap mit Conscious-Lyrics, dazwischen gibt es Ausflüge in den aktuellen Londoner Club-Underground sowie zu den hüpfenden Party-Beats westafrikanischer Modetänze. Ein reich bebildertes Booklet vermittelt zudem einen besseren Blick in diese Problematik, als es viele Statistiken, Konferenzen oder Zeitungsartikel vermögen.

»Cato ist immer noch hier«. D 2009. Regie: Dagmar Brendecke. Start: 23. September 2010

Yes We Can: Songs about leaving africa (outhere)

Der vergessene Konflikt

Bedrohtes Madagaskar

Ein durch und durch ungewöhnlicher Menschenrechtsfilm ist Uwe Bolls »Darfur«. Boll, der durch Horrorfilme bekannt wurde, die bei den Kritikern eher durchfielen, lässt eine Gruppe US-Journalisten im Sudan landen. Sie besuchen für ihre Reportage ein Dorf in Darfur – jener Region, in der seit 2003 ein blutiger Bürgerkrieg tobt, der bis heute etwa einer halben Million Menschen das Leben kostete und 2,5 Millionen Menschen zu Flüchtlingen machte. Der Film führt mit Dialogen in das ausgesprochen komplexe Thema ein. Doch schon bald tauchen Soldaten auf, die auf Plünderungen aus sind. Unversehens landen die Medienleute im Krieg. Und das bedeutet: Grausame Morde, Rekrutierung von Kindersoldaten und Vergewaltigung als Kriegswaffe. Der Regisseur möchte diesen ungelösten und ungemein brutalen Konflikt unverblümt ins Bewusstsein bringen – und versetzt den Zuschauer per wackeliger Handkamera mitten ins Geschehen. Auch wenn Boll die Filmmusik entgleitet und der Einsatz des Streichorchesters zuweilen etwas intensiv ist: »Darfur« ist ein durchaus ernstzunehmender Film, der versucht, öffentliches Bewusstsein für die Tragödie im Sudan herzustellen.

Die Insel Madagaskar ist als Heimat feiner Gewürze, wie der Bourbon-Vanille, und für ihre einzigartige Flora und Fauna berühmt. Die von dort stammende und in New York lebende Sängerin Razia macht mit ihrem Album »Zebu Nation« nun darauf aufmerksam, wie gefährdet dieser biologische Reichtum ist. Ihre ersten Schritte im Musikgeschäft machte Razia einst mit französischen Chansons und coolem Soulpop im Stil der britischen Sängerin Sade. Aus ihrer Begegnung mit der madagassischen Band Njava entsprang die Idee zu ihrem neuen Album, das eine Art Heimkehr zu den Rhythmen, Melodien und Instrumenten ihrer Kindheit markiert. Für dieses Projekt scharte sie namhafte Studiomusiker um sich, der madagassische Gitarrist Dozzy Njava führte die Regie. Als Hochglanzproduktion hebt sich »Zebu Nation« von den raueren Tönen madagassischer Ethno-Bands ab. Ihre Botschaften hat Razia vielmehr in einlullenden Wohlklang verpackt: Anschmiegsame Melodien umschmeicheln ihren melancholischen Abgesang auf die Tier- und Pflanzenwelt ihrer Heimat. Brandrodungen haben von den einst üppigen Wäldern auf Madagaskar nur noch ein Zehntel übrig gelassen, davon handelt etwa der Song »Slash and Burn«. Nach dem Zebu-Rind hat Razia ihre Stiftung »Zebu Nation« benannt, mit der sie auf der Insel 10.000 neue Bäume pflanzen will.

»Darfur«. USA 2009. Regie: Uwe Boll, Darsteller: Edward Furlong, Kristanna Loken, Billy Zane. DVD-Start: 29. Oktober 2010

Razia: Zebu Nation (Cumbancha Explorer/Exil)

Film: Jürgen Kiontke | Musik: Daniel Bax 60

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Foto: Neue Visionen

Einsam zu zweit. Szene aus »Zwischen uns das Paradies«.

Innere Grenzziehung Warum in einer Nachkriegsgesellschaft der Kampf nicht unbedingt vorbei ist, davon erzählt Jasmila Žbanics ´ Film »Zwischen uns das Paradies«. Von Jürgen Kiontke

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igentlich haben sie es ganz schön: Sie fliegt, und er passt auf, dass sie gut ankommt – Luna (Zrinka Cvitešić) ist Stewardess, Amar (Leon Lučev) Fluglotse. Die beiden verliebten jungen Leute wohnen in Sarajevo, und ihre Jobs scheinen zu beweisen, dass ihnen alle Wege offen stehen. Die Europäische Union liegt um die Ecke, die Nachkriegsgeneration schaut zuversichtlich in die Zukunft und bemüht sich um Nachwuchs. Abends wird gefeiert, was das Zeug hält. Doch dann verliert Amar seine Arbeit, weil er Alkoholprobleme hat. Er versucht die Leere, die der Krieg hinterlassen hat, mit Drogen zu füllen. Und auch Luna trinkt gern. Die Fassade bekommt nun einen Riss nach dem anderen. Ja, es stimmt, die Zukunft dominiert das Leben. Die Vergangenheit des Krieges ist aber nicht zu leugnen. Sei es, dass Lunas Großmutter von Albträumen erzählt. Oder Amar den getöteten Bruder auf dem Friedhof betrauert. »Zwischen uns das Paradies« – dieser Titel beschreibt sehr genau die Konstellationen in diesem Film von Jasmila Žbanić. Denn in den Menschen ist kein Frieden, sie sind orientierungs-

kultur

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Film & musik

los und haben wenig Erfahrungen machen können, die ihnen in der Gegenwart helfen könnten. Und so sucht Amar seine alten Kumpane aus der Kriegsgarde auf, stellt fest, dass sie sich religiös-fundamentalistisch radikalisiert haben und findet Geschmack am rigiden Leben. Er nimmt allzu gern die rasch versprochene Hilfe seines alten Mitkämpfers Bahrija (Ermin Bravo) an, der sich einer streng religiösen Wahabiten-Gemeinde angeschlossen hat: Der Islam verspricht in der allgemeinen Unübersichtlichkeit Orientierung. Auch Amar ist dafür empfänglich. Die religiöse Wende hat zunächst durchaus positive Züge, denn nun ist Schluss mit dem Alkohol. Bald stellt sich allerdings ein neues Problem, denn Amar will ganz Sarajevo das Trinken verbieten. Mit ähnlichem Furor wendet er sich seiner Beziehung zu – dass Luna immer noch nicht schwanger ist, schreibt er nicht seiner Alkoholverseuchung, sondern ihrer Gottesferne zu. Seine Ansichten werden zunehmend radikaler: Nur die Lockerung religiöser Traditionen und die mangelnde Konsequenz bei ihrer Ausübung habe die muslimische Bevölkerung zum Opfer eines Völkermordes machen können. Luna, die Familien und Freunde reagieren schockiert auf seine Theorien und das Ausmaß seiner Veränderung. Regisseurin Žbanić ist es in ihrem Film gelungen, verwirrende Nachkriegszustände gekonnt ins Bild zu setzen. »Zwischen uns das Paradies«. D, BSN, AUS, KR 2010. Regie: Jasmila Žbanić, Darsteller: Ermin Bravo, Zrinka Cvitešic, Leon Lučev. Derzeit in den Kinos.

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Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt oder man lässt sie »verschwinden«. amnesty international veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie bitte eine Kopie an amnesty international.

Foto: Kontras

brieFe GeGen das verGessen

indonesien munir said thalib Der Menschenrechtsaktivist Munir Said Thalib starb am 7. September 2004 auf einem Flug von Jakarta in die Niederlande. Eine von den niederländischen Behörden in Auftrag gegebene Autopsie ergab, dass er mit Arsen vergiftet worden war. Munir Said Thalib war einer der bekanntesten Menschenrechtsverteidiger Indonesiens. Er setzte sich für die Aufklärung des Schicksals zahlreicher Aktivisten ein, die dem »Verschwindenlassen« zum Opfer gefallen waren. Zudem spielte er eine entscheidende Rolle bei der Aufdeckung von Beweisen, die die Verantwortung der Militärs für Menschenrechtsverletzungen in Aceh und Osttimor belegten. Im September 1999 berief ihn die staatliche Menschenrechtskommission in die Untersuchungskommission zur Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen in Osttimor. Aufgrund seines Engagements für die Menschenrechte war Munir Said Thalib in ständiger Gefahr. Im August 2003 detonierte vor seinem Haus in Jakarta eine Bombe. In den Jahren 2002 und 2003 wurde das Büro der Organisation Kontras, bei der er arbeitete, mehrmals von einer aufgebrachten Menschenmenge angegriffen. Zwar sind inzwischen zwei Personen der Beteiligung an der Ermordung von Munir Said Thalib für schuldig befunden worden, es liegen jedoch glaubwürdige Informationen vor, dass die auf höherer Ebene für seinen Mord Verantwortlichen bislang nicht zur Rechenschaft gezogen worden sind. Menschenrechtler in Indonesien werden nach wie vor bedroht, eingeschüchtert und angegriffen. Sie vertreten die Auffassung, dass sie besser geschützt wären, wenn der Mord an Munir Said Thalib aufgeklärt wäre. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den indonesischen Staatspräsidenten und fordern Sie ihn auf, eine neue unabhängige Untersuchung des Mordes an Munir Said Thalib einzuleiten. Ziel dieser Ermittlungen soll sein, die auf allen Ebenen Verantwortlichen entsprechend internationaler Standards für faire Prozesse vor Gericht zu stellen. Fordern Sie den Präsidenten außerdem auf, die legitime Arbeit von Menschenrechtsverteidigern anzuerkennen und öffentlich zu unterstützen. Außerdem sollte er jede Form der Drangsalierung sowie Angriffe gegen Menschenrechtsaktivisten verurteilen.

amnesty international Postfach, 53108 Bonn Tel.: 0228 - 98 37 30, Fax: 0228 - 63 00 36 E-Mail: info@amnesty.de, www.amnesty.de

Schreiben Sie auf Indonesisch, Französisch, Englisch oder auf Deutsch an: President Susilo Bambang Yudhoyono Istana Merdeka Jakarta 10110 INDONESIEN Fax: 00 62 - 21 - 345 26 85 oder 21 - 344 27 59 oder 21 - 384 57 74 (Standardbrief Luftpost bis 20 g: € 1,70)

Spendenkonto Bank für Sozialwirtschaft (BfS), Köln Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00 oder Postbank Köln Konto: 22 40 46 - 502, BLZ: 370 100 50

Bitte senden Sie eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Indonesien S.E. Herrn Eddy Pratomo Lehrter Straße 16–17, 10557 Berlin Fax: 030 - 44 73 71 42

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Der indigenen Gemeinschaft der Lubicon Cree gehören etwa 500 Menschen an, die in der westkanadischen Provinz Alberta leben. Im Gegensatz zu den anderen indigenen Gemeinschaft in der Provinz haben die Lubicon niemals eine rechtliche Vereinbarung mit der kanadischen Regierung abgeschlossen, um die Grenzen ihres Landes festzulegen. Das Versprechen der Regierung, ein Lubicon-Reservat einzurichten bzw. ihre Landansprüche anzuerkennen, ist nie eingelöst worden. In den siebziger Jahren unterstützten die Behörden von Alberta die Öl- und Gasförderung auf dem Land der Lubicon – ohne jegliche Konsultation mit den Betroffenen. Sie erklärten die Lubicon zu »Besetzern« ihres eigenen Landes. Die Öl- und Gasförderung führte zu einem Zusammenbruch der traditionellen Wirtschaft, die auf Jagen und Fallenstellen basierte, sodass die ehemaligen Selbstversorgergemeinschaften in bittere Armut stürzten. Davon haben sich die Lubicon bis heute nicht erholt. Bis zum heutigen Tag sind Vorkommen im Wert von etwa 14 Milliarden kanadischen Dollar im Lubicon-Gebiet gefördert worden. Die Lubicon selbst profitieren von diesem Reichtum aber nicht. Sie haben bislang keine Entschädigung erhalten. Nahezu 90 Prozent der Gemeinschaft ist auf finanzielle Unterstützung der Regierung angewiesen, die jedoch nicht ausreicht, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Gemeinschaft hat keinen Zugang zu sanitären Einrichtungen und sauberem Trinkwasser. Die Unterkünfte sind überbelegt und Krankheiten wie Tuberkulose sind bei den Lubicon weitaus häufiger als bei der übrigen Bevölkerung. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Ministerpräsidenten der Provinz Alberta, in denen Sie darauf hinweisen, dass die Anerkennung der Landrechte der Lubicon von großer Bedeutung ist. Die Lubicon brauchen eine gerechte Lösung der Landrechtsfrage, damit sie ihre Wirtschaft wieder aufbauen und ihre eigene Lebensweise wieder pflegen können. Bis die Landrechtskonflikte umfassend gelöst sind, sollte die Regierung von Alberta ohne die Zustimmung der Lubicon keine neuen Förderlizenzen für Öl und Gas vergeben. Schreiben Sie in gutem Englisch oder auf Deutsch an: The Honourable Ed Stelmach Premier of Alberta 307 Legislature Bldg 10800 – 97 Avenue Edmonton, AB T5K 2B6 KANADA Fax: 001 780 427 1349 E-Mail: premier@gov.ab.ca (Standardbrief Luftpost bis 20 g: € 1,70) Bitte senden Sie eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft von Kanada S.E. Herrn Peter Michael Boehm Leipziger Platz 17, 10117 Berlin Fax: 030 - 20 31 25 90 E-Mail: berlin@international.gc.ca

brieFe GeGen das verGessen

Foto: privat

Foto: Amnesty

kanada indiGene GemeinschaFt der lubicon cree

iran henGameh shahidi Die Journalistin Hengameh Shahidi verbüßt derzeit eine sechsjährige Haftstrafe im Teheraner Evin-Gefängnis. Angeklagt hatte man sie wegen »Teilnahme an Versammlungen und Konspiration mit dem Ziel, die nationale Sicherheit zu gefährden«, »Propaganda gegen den Staat« und »Beleidigung des Präsidenten«. Hengameh Shahidi wurde im Juni 2009 kurz nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen festgenommen und 50 Tage lang in einer winzigen Zelle in Einzelhaft gehalten. Gegen Kaution kam die Journalistin vorübergehend frei, wurde dann aber wieder in Haft genommen, um die Gefängnisstrafe zu verbüßen. Amnesty International betrachtet Hengameh Shahidi als gewaltlose politische Gefangene. Hengameh Shahidi schrieb für die Zeitung »Nowrooz«, bis diese 2002 geschlossen wurde. Danach arbeitete sie als freie Journalistin und schrieb über Themen des Weltgeschehens. Sie beriet den ehemaligen Präsidenten Khatami in Jugendfragen und war Stadträtin in Teheran. Zum Zeitpunkt ihrer Festnahme promovierte sie in Großbritannien, war jedoch wegen der Wahlen in den Iran zurückgekehrt. Dort beriet sie den Präsidentschaftskandidaten Mehdi Karroubi in Frauenrechtsfragen. Sie war Mitglied der von ihm gegründeten und inzwischen verbotenen Partei Etemad-e Melli (Nationales Vertrauen). In den ersten 50 Tagen ihrer Haft wurde Hengameh Shahidi in einer ein mal zwei Meter großen Zelle festgehalten. Nach eigenen Angaben wurde sie geschlagen und mit der Hinrichtung bedroht. Die Journalistin hat ein Herzleiden, das in der Haft möglicherweise nicht angemessen medizinisch behandelt wird. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an die Oberste Justizautorität und fordern Sie ihn auf, Hengameh Shahidi sofort und bedingungslos freizulassen. Solange sie sich noch in Haft befindet, muss die Journalistin angemessen medizinisch versorgt werden. Fordern Sie außerdem, dass eine unabhängige Untersuchung der Berichte eingeleitet wird, denen zufolge Hengameh Shahidi in der Haft gefoltert wurde. Schreiben Sie in gutem Persisch, Englisch oder auf Deutsch an: Ayatollah Sadegh Larijani Howzeh Riyasat-e Qoveh Qazaiyeh Pasteur St., Vali Asr Ave. south of Serah-e Jomhouri Tehran 1316814737 IRAN E-Mail: info@dadiran.ir (Betreff: FAO Ayatollah Larijani) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: € 1,70) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Islamischen Republik Iran S.E. Herrn Alireza Sheikh Attar Podbielskiallee 65–67 14195 Berlin Fax: 030 - 84 35 35 35 E-Mail: iran.botschaft@t-online.de

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Foto: Amnesty

AKTIV FÜR AMNESTY

Versprechen halten. Amnesty-Generalsekretärin Monika Lüke (Mitte) bei der Übergabe der Petitionlisten in Berlin.

14.000 unterschriFten GeGen müttersterblichkeit in burkina Faso berlin Burkina Faso hat eine der höchsten Müttersterblichkeitsraten der Welt. In den vergangenen zehn Jahren haben die Behörden mit Unterstützung internationaler Geldgeber zwar finanzielle Mittel bereitgestellt, um die Sterblichkeitsrate bei Schwangeren und Müttern zu senken. Doch noch immer sterben viele Frauen, weil sie in Notfällen die medizinische Behandlung nicht bezahlen können, obwohl die Regierung die Kosten bereits zu 80 Prozent übernimmt. Präsident Blaise Compaoré sagte im Februar 2010 zu, dass die Gesundheitsversorgung für Schwangere zukünftig kostenlos sei. Amnesty International sammelte bundesweit bei Aktionen zum Internationalen Frauen-

tag am 8. März sowie auf der Website www.amnesty.de 14.000 Unterschriften, um von Compaoré die Einhaltung seiner Zusage zu fordern. Am 29. Juli 2010 übergab Amnesty-Generalsekretärin Monika Lüke in Berlin die Petitionslisten an Xavier Niodogo, den Botschafter von Burkina Faso. Er erhielt außerdem eine bunte Patchwork-Stoffdecke: Amnesty-Hochschulgruppen hatten die Stoffteile bei Aktionen gesammelt und zusammengenäht – in Anlehnung an die Tradition in Burkina Faso, nach der ein neugeborenes Kind in einen »Pagne«-Stoff eingewickelt und ein Stoffteil auf das Bett der Mutter gelegt wird.

bessere bildunG Für roma-kinder

Tausende Roma-Kinder sind in der Slowakei in Sonderschulen und -klassen für Menschen mit »leichter geistiger Behinderung« oder in ethnisch geteilten Regelschulen untergebracht. Das bedeutet für sie: keine Chance auf höhere Bildung, Arbeit, Integration und eine bessere Zukunft. Im Rahmen eines internationalen Aktionstages versammelten sich daher am 2. September Aktivisten von Amnesty International vor der slowakischen Botschaft in Berlin. Die Teilnehmer forderten die konsequente Umsetzung des im August von der slowakischen Nationalversammlung angenommenen Regierungsprogramms. Es soll unter anderem die Segregation und Diskriminierung von Roma-Kindern im Bildungsbereich beenden.

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Foto: Tilman Engel / Amnesty

slowakei/deutschland

Hausaufgaben für die slowakische Regierung. Amnesty-Aktion in Berlin.

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ein auGen-blick Für die menschenrechte

MONIKA LÜKE ÜBER

Fotos: Amnesty

18. Juli für sechs Stunden still. Statt Autos bevölkerten an diesem Tag drei Millionen Fußgänger und Fahrradfahrer die Autobahn. Im Rahmen des Kulturhauptstadtprojekts »Still-Leben« waren auf 60 Kilometern Länge Tische und Bänke aufgestellt. Amnesty-Gruppen aus Dortmund, Bochum, Recklinghausen, Essen und Duisburg waren mit fünf Tischen vertreten, an denen sie Unterschriften sammelten und auf Menschenrechtsverletzungen in den Staaten Peru, Iran, Sudan, Tschad sowie in Slums verschiedener Länder aufmerksam machten. Unter dem Motto »Ein Augen-Blick für Menschenrechte« wurden Spaziergänger und Radfahrer aufgefordert, sich kurz Zeit für die Menschenrechte zu nehmen. Jeder dieser »Augen-Blicke« wurde mit einem Foto festgehalten. Die Teilnehmer am »StillLeben« reagierten sehr aufgeschlossen auf die Aktion; besonders beliebt waren die Gruppenfotos. So entstanden viele hundert Bilder für die Menschenrechte.

Bitte lächeln. Amnesty-Aktion auf der Autobahn A40 am 18. Juli.

AKTIV FÜR AMNESTY Amnesty-Mitglieder geben den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme und tragen somit einen unentbehrlichen Teil zur Arbeit von Amnesty International bei. Mehr über Aktionen, Veranstaltungen und Seminare auf www.amnesty.de/aktiv-vor-ort und www.amnesty.de/kalender

POLIZISTEN

Zeichnung: Oliver Grajewski

ruhrGebiet Die vielbefahrene Autobahn A40 stand am

Ich habe viel mit der Polizei zu tun, denn ich bin leidenschaftliche Radfahrerin. Bei fast jedem Wetter fahre ich mit meinem schnellen silbernen Stadtrad in die deutsche Amnesty-Zentrale in der Nähe vom Alexanderplatz. An Ampeln und Absperrungen komme ich oft mit Polizisten ins Gespräch, zum Beispiel an der britischen Botschaft. Amnesty International in Deutschland hat im Juli eine Kampagne gegen Polizeigewalt gestartet, und neben der intensiven Beschäftigung mit den Opfern hatte ich natürlich viel mit Polizisten zu tun. Es war für mich aber eine neue Erfahrung, mich mit Funktionsträgern auseinanderzusetzen, und ich hatte erwartet, dass wir viel mehr Gegenwind bekommen würden. Bei der Begegnung mit dem Vorsitzenden der Gewerkschaft der Polizei, Konrad Freiberg, war ich jedoch angenehm überrascht. Amnesty setzt sich für eine Kennzeichnungspflicht für Polizisten ein, weil sonst viele Ermittlungen im Sande verlaufen, wenn die Täter nicht identifiziert werden können. Die Polizeigewerkschaft ist vehement dagegen, sie fürchtet, dass die Beamten dann im Privatbereich Bedrohungen ausgesetzt sind. Herr Freiberg und ich haben uns darüber gestritten, aber sein »Nein« hat er sehr konstruktiv erläutert, das finde ich gut. Amnesty möchte neben der engen Zusammenarbeit mit den Opfern von Polizeigewalt auch künftig mit der Polizei in Kontakt bleiben. Ich hoffe deshalb, dass ich den Nachfolger von Konrad Freiberg, der im November nicht mehr antritt, bald kennenlerne. Vielleicht können wir dann noch mal ein Streitgespräch führen, zum Beispiel darüber, wie eine moderne Polizei aussehen muss. Monika Lüke ist Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion.

impressum Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., 53108 Bonn, Tel.: 0228 - 98 37 30, E-Mail: Info@amnesty.de, Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal, Postfach 58 01 61, 10411 Berlin, E-Mail: journal@amnesty.de (für Nachrichten an die Redaktion)

Druck: Johler Druck GmbH, Gadelander Str. 77, 24539 Neumünster Bankverbindung: Amnesty International, Kontonr. 80 90 100, Bank für Sozialwirtschaft (BfS), Köln, BLZ 370 205 00

Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit Albrecht, Daniel Bax, Imke Dierßen, Gert Eisenbürger, Klaus Jetz, Ines Kappert, Jürgen Kiontke, Maja Liebing, Monika Lüke, Ferdinand Muggenthaler, Fabrice Praz, Wera Reusch, Uta von Schrenk, Thomas Aue Sobol, Birgit Svensson, Frank Thomas, Keno Verseck, Sarah Wildeisen, Jessica Zeller

Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr. Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Nichtmitglieder können das Amnesty Journal für 30 Euro pro Jahr abonnieren. Für unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die Urheberrechte für Artikel und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.

Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de

ISSN: 1433-4356 | Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Recyclingpapier.

Redaktion: Bernd Ackehurst, Markus N. Beeko, Daniel Kreuz, Anton Landgraf (V.i.S.d.P.), Ferdinand Muggenthaler, Larissa Probst

aktiv Für amnesty

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TROY DAVIS SOLL LEBEN

Dreimal sollte Troy Anthony Davis schon sterben. Jedes Mal wurde seine Hinrichtung im letzten Moment aufgeschoben. Seit 19 Jahren sitzt der US-Amerikaner in einer Todeszelle im Bundesstaat Georgia und wartet auf die Vollstreckung seines Todesurteils für einen Mord, den er bis heute bestreitet. Trotz fehlender Beweise war Davis im August 1991 schuldig gesprochen worden, den Polizisten Mark Allen McPhail ermordet zu haben. Augenzeugen wollten beobachtet haben, dass Davis den Polizisten tötete. Im Prozess belasteten diese Aussagen den damals 22-Jährigen so schwer, dass er zum Tode verurteilt wurde. Mittlerweile haben sieben der neun ursprünglichen Zeugen ihre Aussagen widerrufen. Eine Tatwaffe oder DNA-Spuren, die auf ihn als Täter hingedeutet hätten, wurden nie gefunden. Die Staatsanwaltschaft machte im Juni 2010 deutlich, dass sie ihn weiterhin für schuldig hält. Amnesty International hat erhebliche Zweifel an seiner Schuld. Kommt es nicht zu einer Wiederaufnahme des Verfahrens, droht ihm jederzeit die Hinrichtung. Kein Justizwesen der Welt ist frei von menschlichen Fehlern und Vorurteilen. Seit der Wiedereinführung der Todesstrafe 1976 wurden in den USA über 138 Menschen freigesprochen WPF aus der Todeszelle entlassen.

WERDEN SIE AKTIV UND FORDERN SIE

Troy Davis nicht hinzurichten, sein Todesurteil in eine Haftstrafe umzuwandeln oder ihn unverzüglich freizulassen, falls seine Unschuld bewiesen wird.

Zur Online-Petition:

WWW.AMNESTY.DE/TODESSTRAFE


verjaGt und entrechtet rechtswidriGe ZwanGsräumunGen – alltaG Für roma in europa. ihr einsatZ Zählt: www.amnesty.de/wohnen

wohnen. in würde.

Abs.: Amnesty International, Postfach, 53108 Bonn Postvertriebsstück · 1201 · Entgelt bezahlt


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